ArchivDeutsches Ärzteblatt12/2010Von Schräg unten: Kalzit

SCHLUSSPUNKT

Von Schräg unten: Kalzit

Böhmeke, Thomas

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Die Schulmedizin unterwirft sich den hohen Ansprüchen der Wissenschaft, nachprüfbar muss alles sein, kalkulierbar und prognostizierbar. Damit wir dem gerecht werden, quälen wir uns mit doppelblinden Studien, p-Werten und relativen Risikoreduktionen. All dies verschlingt Unsummen in unserem maroden Gesundheitssystems, zum Wohl und zur Zufriedenheit unserer Patienten. Aber sind sie wirklich zufrieden?

Ein Patient sitzt vor mir, zurückgekehrt von einem Abenteuerurlaub auf den Philippinen, und weiß Erstaunliches zu berichten. „Ich habe das anfangs auch nicht für voll genommen, aber mich dann doch auf den Tisch gelegt, und der Wunderheiler hat mir den Bauch ausgeräumt! Ohne ein Wort zu sagen! Das Blut lief mir an den Seiten runter, aber man sieht keine Narbe! Jetzt fühle ich mich vollkommen erleichtert.“ Um was denn, bitteschön? „Na ja, um 100 Dollar, aber das war es wert! Er hat über ein Kilo Kalzit herausgeholt! Da staunen Sie, nicht wahr?“ Ich meine schmallippig, dass Kalzit ein Gestein bildendes Mineral ist, das in der Erdkruste und im Meer sehr häufig zu finden ist, im Menschen aber höchstens als Kruste auf den Zähnen vorkommt. „Ach, ihr arroganten Schulmediziner! Ihr könnt ja nicht mal über euren wissenschaftlichen Tellerrand gucken!“ Zudem ist die Durchführung eines elektiven operativen Eingriffs ohne vorherige Aufklärung rechtlich höchst bedenklich. „Das ist ja das Tolle! Komplikationen wie bei euch gibt es bei denen nicht! Hier, zum Beweis, die Fotos, wie er mit blanken Händen im Bauch wühlt!“ Die mutwillige Missachtung von Maßnahmen zur Verhinderung einer Infektion würde einem operativ tätigen Kollegen in Deutschland die Approbation kosten. „Das war mir klar, dass Sie nur herumnörgeln! Ihr Schulmediziner seid einfach nur borniert, dabei könntet ihr so viel von den Heilern lernen“, zürnt der Patient und verlässt den Raum.

Ich bleibe ziemlich beeindruckt zurück und versuche, über den Tellerrand zu schauen. Warum ist er mit dem Wunderheiler so zufrieden und nicht mit der Schulmedizin? Liegt es am Kalzit? Das wäre der erste Fall einer abdominalen Tropfsteinhöhle. An der Wortlosigkeit des Heilers? Undenkbar. An der septischen Vorgehensweise? Hierzulande eine Schlagzeile in der „Tagesschau“ wert. An den 100 Dollar? Bestimmt. Je mehr man für etwas bezahlt, desto überzeugter ist man, dass es etwas taugt. Daher: mehr Unsummen für unser Gesundheitssystem!

Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.

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