SUPPLEMENT: Reisemagazin
Kalabrien: Heimat der Süßholzraspler
Dtsch Arztebl 2010; 107(13): [12]


Foto: Eberhard Hahne
Welch herbe Enttäuschung! Da führt die Fahrt auf dem Feldweg entlang farbenfroher Zitronen-, Orangen- und Clementinenhaine, und als Vincenzo Romano dann anhält und nach links zeigt, wächst da nichts als ein unscheinbares Kraut. Scheinbar ein Unkraut. Kleinblättriges grünes Gestrüpp, auf weitem Feld, zitternd im warmen Ostwind, der vom Golf von Tarento herüberweht. „Das ist sie“, sagt Vincenzo, „und wenn du sie einmal gesehen hast, siehst du sie hier überall. Das da vorn am Wegesrand und da hinten am Zaun – alles Lakritze!“ Das soll es sein? Kalabriens schwarzes Gold? Aber Vincenzo muss es wissen. Schließlich handelt die Familie Romano seit mehr als 60 Jahren mit „Glycyrrhiza glabra“, zu deutsch „Lakritze“ oder „Süßholz“. Genauer gesagt handeln die Romanos mit der Wurzel der Pflanze. Sie enthält den süßen Saft, auf den es Vincenzos Kunden – Pharmaunternehmen und Süßwarenhersteller aus aller Welt – abgesehen haben.
Unauffällig wie die Lakritze ist auch der Landstrich, in dem sie wächst. Eingekeilt von zwei Gebirgszügen liegt die Ebene von Sibari abgeschieden im Nordosten Kalabriens. An ihrem Sandstrand sonnen sich im Sommer italienische Urlauber; ausländische Touristen verschlägt es selten hierher. Auch die hiesigen Städte, wie Rossano oder Corigliano, verbergen sich. Trutzig hocken sie hinter bröckelnden Mauern auf hohen Hügeln. In Serpentinen – quasi lakritzschneckenartig – winden sich die Straßen hier die Hänge empor, hinein in labyrinthische Altstädte mit byzantinischen Kirchen und mittelalterlichen Palazzi.
Erwiesenermaßen wirkt reine Lakritze entzündungshemmend, antibakteriell, krampf- und schleimlösend. Foto: Fotolia
Um die Wirkung der Lakritze ranken sich die tollsten Geschichten, und in Kalabrien bekommt man sie alle zu hören. Über Casanova, der damit seinen Atem erfrischte. Über Napoleon, der sie gegen sein Magenleiden nahm. Über Nomadenvölker, die ihren Durst tagelang nur mit Süßholzwurzeln stillten. Auf alle Fälle galt Lakritze nachweislich schon in der Antike – bei Griechen, Ägyptern und Chinesen – als wertvolle Arznei. Lange bevor sie im 18. Jahrhundert durch Zugabe von Zucker in Europa zur Süßigkeit wurde. Erwiesenermaßen wirkt reine Lakritze entzündungshemmend, antibakteriell, krampf- und schleimlösend. Sie hilft gegen Husten und Bronchitis, gegen Sodbrennen und Magengeschwüre und beugt Karies vor.
Mühselige Handarbeit: Die Ernte der Süßholzwurzeln ist kein Zuckerschlecken. Foto: Dominik Fehrmann
Schon über dem Parkplatz hängt zwischen knorrigen Olivenbäumen ein süßlich-herber Geruch, der nur entfernt an den Geschmack handelsüblicher Lakritzsüßwaren erinnert. Wer dem Geruch folgt, gelangt auf den Werkshof, wo Haufen von Wurzelbündeln ihrer Verarbeitung harren. In einem Unterstand sitzen zwei Frauen und schneiden mit einer Gartenschere ausgewählte Exemplare in handlange Stücke. Früher kauten in Kalabrien Jung und Alt stundenlang auf diesen Wurzelstücken herum. Sie waren die Süßigkeit der kleinen Leute. Seit Lakritze auch in Pastillenform erschwinglich ist, sieht man hier nur noch vereinzelt ältere Männer, denen eine solche Wurzel lässig im Mundwinkel hängt. So wandern die meisten Wurzeln hinüber in die Werkshalle, hinein in den Schredder. Einige Meter weiter wird aus den Raspeln in einem Stahlbehälter mittels Wasserdampf der Wurzelsaft extrahiert. Dieser Extrakt fließt in offene Kessel, in denen er rund zwölf Stunden lang unter ständigem Rühren kocht und eindickt. Erst jetzt – durch die Verbindung mit Luft – färbt sich der Saft dunkel. Als zähe Masse kommt die Lakritze dann in Holzwannen, wo sie zu duftenden Laiben erstarrt und schließlich ausgewalzt, schmal gezogen und in noch handwarme Stücke geschnitten wird. Fertig sind Amarellis Klassiker: reine Lakritzpastillen, ohne jegliche Zusatzstoffe, verpackt in nostalgisch bedruckten Metalldosen. Doch mit dem Lakritzextrakt wissen sie bei Amarelli noch weit mehr anzufangen. Drüben im Stammsitz bietet das Unternehmen in einem kleinen Laden seine gesamte Produktpalette feil: gestapelte Dosen voller Lakritzpastillen mit Minz- oder Anisaroma, weich oder hart, mit oder ohne Zuckerschicht. Dazu Lakritz-Schokolade, Lakritz-Nudeln und Lakritz-Grappa. Sogar Lakritz-Shampoo und Lakritz-Zahnpasta gibt es hier zu kaufen. So scheint es am Ende, als fördere Lakritze – neben allem andern – auch noch Fantasie und Geschäftssinn.
Dominik Fehrmann
Informationen
Unterkunft: Mitten in der Altstadt von Corigliano befindet sich in einem renovierten Renaissancegebäude die ebenso günstige wie charmante Pension „Porta Librandi“ (Doppelzimmer mit Frühstück ab 40 Euro); Via Porta Librandi 11, 87064 Corigliano Calabro; Telefon: 0039 3409647545; www.portalibrandi.com.
Besichtigungen: Museo della Liquiriza „Giorgio Amarelli“, S.S. 106, Contrada Amarelli, 87068 Rossano; Telefon: 0039 983511219; E-Mail: info@museodellaliquirizia.it; www.amarelli.it.
Auskünfte: Italienisches Fremdenverkehrsamt, www.enit-italia.de.