SUPPLEMENT: Reisemagazin
In den Wäldern der Appalachen: Jeder Blick ist wie großes Kino
Dtsch Arztebl 2010; 107(13): [25]


Foto: Mauritius Images
Zwischen den Unterschenkeln des Oberindianers spielen an diesem Vormittag Kinder, und irgendein Papa fotografiert seine Kleinen für das Familienalbum. Die beiden Jungs tragen selbst Federschmuck und schauen respektvoll zu dem knapp fünf Meter großen Pappmaché-Mörtel-und-Lack-Riesen am Straßenrand auf: erster Boxenstopp im Indianerland des US-Ostküstenstaates Massachusetts.
Vom Western bis zum Road Movie: Auf dem Mowhawk Trail läuft für jeden ein persönlicher Film.
Jeder Blick durch die Windschutzscheibe auf die Landschaft ist wie großes Kino – als ob draußen ein Film nach dem anderen abgespielt wird, vom Road Movie bis zum Western, vom Sielmann-Tierfilm bis zum Abenteuerthriller, von „Nell“ bis „Der letzte Mohikaner“. Als ob der Wagen durch ein einziges riesiges Autokino tourt und dabei von einer 360-Grad-Leinwand umgeben ist, die sich mitbewegt: mit Geruch, mit Aussteigen und Anfassen. Und mit viel Glück sogar mit leibhaftigem Schwarzbär, der am Deerfield River mit der Pranke nach Forellen hangelt und sich eilig Richtung Dickicht trollt, sobald er sich zu sehr beobachtet fühlt.
Zurück geht der Trail auf einen Jahrhunderte alten Pfad der Mohawk-Indianer, über den auch die ersten, vor allem englischstämmigen Siedler in der Region weiter nach Westen vordrangen. So touristisch die Strecke als Naherholungsziel der Bosto-nians und New Yorker inzwischen ist, so sehr ist sie noch immer ein Handelsweg zu den Kleinstädten entlang des Weges und damit auch Truckroute. Trotzdem konnten Anwohner jeden Ausbau der Piste verhindern und den Charme der Strecke wahren. In schmalen Schlangenlinien windet sich der Weg deshalb bis heute wie einst durch die sattgrünen Berge, vorbei an kleinen Wasserfällen, an reißenden Flüssen mit Kanuverleih-Stationen, entlang stiller Ströme und durch typisch amerikanische Kleinstädte, die ihre besten Zeiten mindestens ein halbes, manche ein dreiviertel Jahrhundert hinter sich gelassen haben und wirken, als hätte jemand die Uhr kurz nach Erfindung des Farbfilms angehalten.
Fotos: Helge Sobik
Friedlich ist es im Indianerland von einst, wo sich vor Jahrhunderten Untergruppen der Mohawk und der Pocumtuck gegenseitig die Jagdgründe streitig machten, ehe sie das Kriegsbeil untereinander begraben mussten, um wenigstens gemeinsam halbwegs gegen die neuen Siedler aus Übersee bestehen zu können. Ihre Häuptlinge ahnten nicht, dass sie eines Tages in Bronze gegossen als Denkmal an ihr Volk erinnern sollten oder als überdimensionierte Pappmaché-Kameraden einen Fotopunkt für die Ausflügler abgeben würden. Bunte Riesenindianer am Straßenrand jedenfalls sind beste Werbung für Souvenirshops und Restaurants entlang der Piste. Denn jede Geschäftsidee, die irgendwie mit Indianern zu tun hat, funktioniert gut in dieser Gegend: Kein Wunder zum Beispiel, dass gerade vom großen ausgesägten Bretter-Indianerkopf des „Chief Motels“ („Häuptling Motel“) während der Saison von Mai bis weit in den Oktober hinein meistens der „No-Vacancy“-Hinweis in Neonbuchstaben leuchtet: kein Zimmer verfügbar.
Am Rand der Straße gleich gegenüber kauern an diesem Morgen zwei Streifenhörnchen und spielen Verstecken wie kleine Kinder, indem sie wie versteinert auf der Stelle hocken bleiben und sich die Pfoten vor das Gesicht schlagen – frei nach dem Motto „Ich seh’ dich nicht, dann siehst du mich auch nicht . . .“ Es ist, als ob der Blick die Szenerie eines Disney-Zeichentrickfilms abtastet: eine friedliche Freizeitwelt mit Tieren, die menschliche Züge tragen.
Auf FM 102,5 schmettert derweil jemand Songs aus dem Autoradio, dessen Stimme wie eine Mischung aus Bruce Springsteen und Bryan Adams klingt. Er singt irgendetwas von Blaubeerpfannkuchen und Ahornsirup, von Planwagen, Siedlern und Indianern. „West on the trail through the mountains, west of the ocean to wonderland“ („westlich auf dem Pfad durch die Berge, westlich des Ozeans Richtung Wunderland“). Das klingt hübsch. Er greift dabei kräftig in die Saiten seiner Gitarre – und aus dem Hintergrund grummeln Trommeln, als ob Mohawk-Häuptling Chingachgook aus den Wäldern antwortet. Helge Sobik
Informationen
Unterkunft: Mehrere Veranstalter haben Hotels oder Appartements in den Appalachen von Massachusetts im Programm: zum Beispiel eine Woche im Hotel „The Orchards“ in Williamstown ab 620 Euro, im „Red Lion Inn“ in Stockbridge ab 380 Euro – jeweils pro Person im Doppelzimmer bei DER-Tour (www.dertour.de).
Auskünfte: Massachusetts Office of Travel & Tourism c/o Buss Consulting, Postfach 12 13, 82302 Starnberg, Telefon: 08151 739787, Internet: www.massvacation.com.
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