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LNSLNS "sent before my time into this breathing world"
Shakespeare, Richard III I/1 Z 21/22
Die Frühgeburt ist nach wie vor das zentrale Thema, die eigentliche Herausforderung für die moderne Geburtshilfe und Perinatologie. Sowohl die perinatale Mortalität als auch die einschlägige Morbidität sind vorrangig durch die Frühgeburtlichkeit belastet. Am Problem Frühgeburt zeigen sich auch die Grenzen unseres ärztlichen Handelns besonders deutlich. Das betrifft sowohl die vorgegebenen biologischen Schranken der generellen Überlebensfähigkeit Frühgeborener als auch die medizinisch-technischen Möglichkeiten und die ethischen Normen unseres ärztlichen Handelns. Hinzu kommen die juristischen Probleme der Behandlungspflicht oder des Behandlungsverweigerungsrechtes mit ihren forensischen Konsequenzen. Insgesamt stellt das Frühgeborenenproblem auch eine erhebliche volkswirtschaftliche Belastung dar. Erhöhte Anstrengungen im Bereich der Grundlagenforschung sowie umfangreiche Präventionsprogramme sind daher unbedingt erforderlich (1, 7, 11, 13).
Was haben wir bisher erreicht? Betrachtet man die Entwicklung in den letzten 20 Jahren, so gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht zuerst, sie lautet: Die Überlebenschancen Frühgeborener konnten deutlich verbessert werden, die perinatale Mortalität hat ständig abgenommen. Die schlechte Nachricht dagegen sagt: Die Frühgeborenenfrequenz selbst blieb trotz aller Vorsorgemaßnahmen und Präventivprogramme praktisch unverändert.
Frühgeborenenfrequenz
Zu diesem Thema einige Zahlen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag die Rate Lebendgeborener mit einem Geburtsgewicht unter 2 500 Gramm (low birthweight) in den Jahren 1983 bis 1993 konstant zwischen 5,6 und 5,9 Prozent. Weitgehend gleich geblieben ist auch die Verteilung in den einzelnen Gewichtsgruppen. Die Frequenz der besonders gefährdeten Frühgeborenen unter 1 500 Gramm (very low birthweight) liegt unverändert um ein Prozent (2, 7, 9, 13).
Die inzwischen bundesweit etablierten Perinatalerhebungen lieferten ab Mitte der 80er Jahre auch repräsentive Zahlen in Abhängigkeit vom Gestationsalter. Im Vergleich der Jahre 1987 und 1992 zeigt sich nach den Zahlen der Bayerischen Perinatalerhebung sogar ein leichter Anstieg der Frühgeborenenrate, weniger als 37 Wochen von 5,8 Prozent auf sieben Prozent und weniger als 32 Wochen von 0,9 auf 1,0 Prozent. Auch eine Verlagerung zugunsten der höheren Tragzeitklassen ist nicht zu erkennen.
Die gleichbleibend hohe Rate an Frühgeborenen trotz aller Präventionsmaßnahmen (Mutterschutzgesetz, Mutterschaftsrichtlinien, Infektionsprophylaxe, Tokolyse, Cerclage und anderes) ist überraschend und enttäuschend zugleich. Dabei muß offenbleiben, ob die Frequenz ohne die bestehenden Präventivprogramme noch höher gewesen wäre; in jedem Fall fehlt es an einem wirksamen Gesamtkonzept für die Frühgeborenenprophylaxe (1, 6).
Prognose
Erfreulicher ist die Entwicklung der Prognose Frühgeborener. Von 1983 bis 1992 hat die perinatale Mortalität aller Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 2 500 Gramm bundesweit um fast die Hälfte abgenommen, und zwar von 9,9 Prozent auf 5,8 Prozent. Dabei ist die Neugeborenensterblichkeit stärker gesunken als die Totgeburtenrate. Trotzdem liegt die Frühgeborenenmortalität immer noch um den Faktor zehn höher als die gesamte perinatale Mortalität (1983: 0,93 Prozent; 1992: 0,58 Prozent). Die Abnahme der perinatalen Mortalität Frühgeborener gilt auch für die einzelnen Gewichtsklassen mit Ausnahme der Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 500 Gramm.
Mortalität
Diese auf Bundesebene gesicherte Verbesserung der Überlebenschancen Frühgeborener wird durch die regionalen Perinatalerhebungen bestätigt. Sie gelten nicht nur für die Gewichtsgruppen, sondern auch für die Tragzeitklassen. Aus den Daten der Bayerischen Perinatalerhebung läßt sich im Vergleich der Jahre 1987 und 1992 eine Abnahme der perinatalen Mortalität aller Frühgeborenen (weniger als 37 Wochen) von 65,1 Promille auf 44,2 Promille nachweisen.
Die Verbesserung der Prognose Frühgeborener ist sowohl auf medizinische als auch auf organisatorische Gründe zurückzuführen, sie betreffen die Geburtshilfe und die Neonatologie. Die Frühgeborenen werden heute dem Pädiater von den Geburtshelfern in besserem Zustand übergeben (better babies), gleichzeitig hat die Neugeborenenintensivpflege entscheidende Fortschritte zu verzeichnen (better care).
Der Anteil der Frühgeborenenmortalität an der gesamten perinatalen Mortalität ist allerdings in den letzten zehn bis 15 Jahren mit 65 bis 70 Prozent praktisch unverändert geblieben, mit eher ansteigender Tendenz. Das heißt, wir waren bei der Betreuung der normalgewichtigen, termingeborenen Kinder erfolgreicher als bei den Frühgeborenen.
Morbidität
Für die Morbidität Frühgeborener liegen verständlicherweise nicht so verläßliche Daten vor. Das liegt vor allem daran, daß die Spätentwicklung eines Frühgeborenen in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt nur schwer abschätzbar ist. Hier fehlen Langzeitstudien.
Betrachtet man nur die Frühmorbidität, so zeigt sich in den letzten Jahren ein wesentlicher Fortschritt. Da die Spätmorbidität entscheidend abhängig ist von den Komplikationen in der Perinatalzeit, darf man für die Zukunft auch eine wesentlich verbesserte Langzeitprognose erwarten. Bis dahin wird die Perinatologie mit der Hypothek leben müssen, daß zumindest vorübergehend auch eine Zunahme der Morbidität auftreten kann. Das zeigen Ergebnisse vergleichender Studien in den Vereinigten Staaten von 1960 bis 1985 vor allem bei sehr kleinen Frühgeborenen (3). Es ist nicht zu erwarten, daß in jedem Fall der große Sprung gelingt: Von gestern noch perinatal Verstorbenen zu heute lebend Geborenen in voller Gesundheit. Der Teilerfolg von heute ist häufig der erste Schritt zum vollen Erfolg von morgen (5).
Ausblick - Prävention
Die Aufgaben für die Zukunft im Symptomkomplex Frühgeburt liegen in der weiteren Regionalisierung, das heißt Konzentration der Risikogeburten in den Perinatalzentren mit ihren besseren Behandlungsmöglichkeiten und außerdem in der Prävention. Entscheidende Fortschritte sind erst dann zu erwarten, wenn es gelingt, die Frühgeborenenrate deutlich zu senken oder zumindest den Geburtstermin in die höheren Gewichts- beziehungsweise Tragzeitklassen zu verlagern. Erste Ansatzpunkte zeichnen sich ab, sowohl bei der primären als auch bei der sekundären Prävention, das heißt der Aufdeckung und Vermeidung ursächlicher Faktoren der Frühgeburtlichkeit sowie der Früherkennung und Behandlung der drohenden Frühgeburt.
Aus den Daten der Bayerischen Perinatalerhebung lassen sich einige Risikofaktoren im Hinblick auf eine drohende Frühgeburt determinieren. Sie betreffen sowohl anamnestische Daten wie Alter, Staatsangehörigkeit und Familienstand als auch Vorerkrankungen sowie medizinische, insbesondere geburtshilflich-gynäkologische Befunde; auffällig ist die Häufung psychosozialer Faktoren (4). Bei der Reihung und Gewichtung der Einzelfaktoren sollte zwischen individuellem Risiko und Gesamtrisiko unterschieden werden. Aufschlußreich ist auch die Bestimmung des relativen Risikos, bezogen auf ein Gesamtrisiko von 1,0 für die einzelnen in den Anamnese- und Befundkatalogen der Mutterschaftsrichtlinien aufgelisteten Faktoren. Eine zusätzliche Gliederung in die frühe Frühgeburt (weniger als 32 Wochen) und die späte Frühgeburt (32 bis 36 Wochen) zeigt die zunehmende Bedeutung der geburtshilflichen "Vorgeschichte" sowie der Amnioninfektion, uteriner Blutungen und der vorzeitigen Wehentätigkeit mit abnehmendem Schwangerschaftsalter.
Die Ergebnisse der Perinatalerhebung zeigen auch, daß die in den Risikokatalogen aufgelisteten Prädiktoren insgesamt relevant sind. Die Frühgeborenenrate steigt deutlich mit dem Risikopotential von 3,8 Prozent bei risikofreier Schwangerschaft auf 12,0 Prozent bei einer Kombination von Anamnese- und Befundrisiken (13).
Generelle Hinweise für Verbesserungsmöglichkeiten ergeben sich auch aus der Schwangerenvorsorge. Es besteht eine deutliche Korrelation zwischen der Frühgeburtenfrequenz und der Vorsorgeintensität, gemessen an dem Zeitpunkt der Erstuntersuchung und der Anzahl der Untersuchungen. Die Frühgeborenenrate steigt von 1,8 Prozent bei Überstandard-versorgten Schwangeren über 3,3 Prozent bei Standard-versorgten auf fast 15 Prozent bei Unterstandard-versorgten Schwangeren. In der letztgenannten Gruppe ist auch das für Frühgeborene relevante vorgenannte Risikopotential besonders hoch. Unsere Schwangerenvorsorge ist demnach auch im Hinblick auf die Vermeidung der Frühgeburtlichkeit nicht ausreichend risikoadaptiert (12).
Erforderlich ist ein umfassendes, breitgefächertes Präventionsprogramm. Es sollte nicht erst in der Schwangerschaft beginnen, sondern viel früher im Sinne einer "prepregnancy" oder "preconceptional care". Wesentliche Bestandteile eines solchen Konzeptes wären die allgemeine Gesundheitspflege, die Eheberatung und genetische Beratung, die Familienplanung (Gebäralter, Geburtenzahl, Geburtenabstand) und die Verbesserung der psychosozialen Lebensbedingungen. Während der Schwangerschaft geht es zusätzlich um Aufklärung, Beratung und Wissensvermittlung über die normale und gestörte Schwangerschaft (eine gemeinsame Aufgabe von Ärzten, Hebammen und Sozialarbeitern), um die Verbesserung der Lebensbedingungen in Familie und Beruf (Mutterschutz, Beschäftigungsschutz, Tätigkeitseinschränkung, Verbesserung der gesellschaftlich-sozialen Position) sowie Fragen der allgemeinen Lebensführung, Gesundheitspflege und Ernährung (Ernährungs- und Kräftezustand, Ausgangsgewicht, Gewichtszunahme, Genußmittelkonsum) (1, 2, 8, 10, 13).
Erfolge in der Frühgeborenenprävention sind nicht von heute auf morgen zu erwarten. Akutmaßnahmen sind unzureichend, Langzeitprogramme sind erforderlich. Neben entsprechenden Investitionen und organisatorischen Maßnahmen ist viel Aufklärungsarbeit erforderlich, sowohl bei den verantwortlichen Gesundheitspolitikern als auch bei den Schwangeren selbst und immer noch in der Ärzteschaft.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-2061-2063
[Heft 31-32]


Literatur
1. Creasy RK: Preterm birth prevention: where are we? Am J Obstet Gynecol 1993; 168: 1223-1230.
2. Dudenhausen JW: Die Bedeutung sozialer Faktoren für die Frühgeburtlichkeit. Perinatal Medizin 1994; 6: 117-120.
3. Ehrenhaft PM, Wagner JL, Herdmann RC: Changing prognosis for very low birth weight infants. Obstet Gynecol 1989; 74: 528-535.
4. Hedegaard M, Brink Henriksen T, Sabroe S, Secher NJ: Psychological distress in pregnancy and preterm delivery. Br Med J 1993; 307: 234-239.
5. Hepp H: Mangel- und Frühgeburt. Ethische Aspekte aus der Sicht des Geburtshelfers. Der Gynäkologe 1992; 25: 130-136.
6. Kirby RS, Swanson ME, Kelleher KJ, Bradley RH, Casey PH: Identifying at-risk children for early intervention services: lessons from the infant health and development program. J Pediatr 1993; 122: 680-686.
7. Künzel W: Epidemiologie und Pathophysiologie der Frühgeburt. Gießener Gynäkologische Fortbildung. 1995: 57-70. Springer Verlag, 1995.
8. Papiernik E, Bouyer J, Dreyfus J: Risk factors for preterm births and results of a prevention policy. The Haguenau perinatal study 1971-1982. Pediatrics 1985; 76: 154-158.
9. Rettwitz-Volk W: Epidemiologische Aspekte der Frühgeburtlichkeit. Perinatal Medizin 1996; 8: 15-18.
10. Shiono PH, Klebanoff MA: A review of risk scoring for preterm birth. Clin Perinatol 1993; 20: 107-125.
11. Ulsenheimer K: Behandlungspflicht beim Früh- und Neugeborenen aus juristischer Sicht. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung. Jena: 87, 1993; 875-881.
12. Wulf KH: Effizienz und Inanspruchnahme der Schwangerenvorsorge. Perinatal Medizin 1993; 5: 73-77.
13. Wulf KH: Frühgeburt und Grenzen. Klinik der Frauenheilkunde und Geburtshilfe Bd 7. München, Wien, Baltimore: Urban & Schwarzenberg, 1997.


Anschrift des Verfassers
em. Prof. Dr. med. Karl-Heinrich Wulf
Universitäts-Frauenklinik
Josef-Schneider-Straße 4
97080 Würzburg

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