BEKANNTGABEN DER HERAUSGEBER: Bundesärztekammer
Bekanntmachungen: Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizinischen Versorgung Beschlüsse der Vorstände von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung, Juni 1997
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Bei zunehmender Komplexität der Medizin sind Leitlinien Hilfen für ärztliche Entscheidungsprozesse im Rahmen einer leistungsfähigen Versorgung der Patienten sowie wesentliche Bestandteile von Qualitätssicherungsprogrammen. Leitlinien können Einfluß nehmen auf Wissen, Einstellung und Verhalten von Ärzten, von Mitgliedern der Fachberufe im Gesundheitswesen und von medizinischen Laien. Leitlinien sollen somit Versorgungsergebnisse verbessern, Risiken minimieren und die Wirtschaftlichkeit erhöhen.
Die nachfolgenden Empfehlungen beschreiben Definitionen, Ziele und international akzeptierte Qualitätskriterien für Leitlinien. 2. Definitionen
l Leitlinien sind systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. l Leitlinien stellen den nach einem definierten, transparent gemachten Vorgehen erzielten Konsens mehrerer Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen und Arbeitsgruppen (gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Patienten) zu bestimmten ärztlichen Vorgehensweisen dar. l Leitlinien sind wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Handlungsempfehlungen. l Methodische Instrumente zur Erstellung von Leitlinien sind unter anderem Konsensuskonferenzen, Delphianalysen, Therapiestudien, Metaanalysen. l Leitlinien sind Orientierungshilfen im Sinne von "Handlungs- und Entscheidungskorridoren", von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muß. l Leitlinien werden regelmäßig auf ihre Aktualität hin überprüft und gegebenenfalls fortgeschrieben. Der Begriff Richtlinien sollte hingegen Regelungen des Handelns oder Unterlassens vorbehalten bleiben, die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht. Die Inhalte der vorliegenden Empfehlung beziehen sich ausdrücklich nicht auf Richtlinien der ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaften.
3. Ziele von Leitlinien Leitlinien dienen l der Sicherung und Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung,
l der Berücksichtigung systematisch entwickelter Entscheidungshilfen in der ärztlichen Berufspraxis,
l der Motivation zu wissenschaftlich begründeter und ökonomisch angemessener ärztlicher Vorgehensweise unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Einstellungen der Patienten, l der Vermeidung unnötiger und überholter medizinischer Maßnahmen und unnötiger Kosten,
l der Verminderung unerwünschter Qualitätsschwankungen im Bereich der ärztlichen Versorgung,
l der Information der Öffentlichkeit (Patienten, Kostenträger, Verordnungsgeber, Fachöffentlichkeit und andere) über notwendige und allgemein übliche ärztliche Maßnahmen bei speziellen Gesundheitsrisiken und Gesundheitsstörungen.
4. Qualitätskriterien von Leitlinien
Leitlinien sollten folgenden Qualitätskriterien genügen:
l Transparenz: Leitlinien sollten nur dann Berücksichtigung finden, wenn ihre Ziele sowie die bei der Erstellung benutzten Methoden und die den Empfehlungen zugrundeliegenden relevanten Erkenntnisse, Quellen und Autoren sowie die betroffenen Kreise genannt werden. Die vorgeschlagenen Vorgehensweisen sollen im Vergleich zu nicht in den Leitlinien empfohlenen Verfahren diskutiert werden. l Gültigkeit: Leitlinien sind als gültig (valide) anzusehen, wenn durch die Befolgung ihrer Empfehlungen die zu erwartenden gesundheitlichen und ökonomischen Ergebnisse tatsächlich erzielt werden können.
l Zuverlässigkeit und Reproduzierbarkeit: Leitlinien sind als zuverlässig und reproduzierbar anzusehen, wenn (1) andere unabhängige Experten bei der Benutzung der gleichen zugrundeliegenden empirischen Erkenntnisse (Evidenz) mit gleicher Methodik zu identischen Empfehlungen gelangen und wenn
(2) Leitlinien unter identischen klinischen Umständen immer gleich interpretiert und angewandt werden können.
l Multidisziplinäre Entwicklung: Ärztliche Leitlinien sind unter Beteiligung von Repräsentanten der betroffenen Gruppen (Anwender und gegebenenfalls Zielgruppen) zu entwickeln.
l Anwendbarkeit: Die Zielgruppen, denen die Empfehlungen von Leitlinien zugute kommen sollen - Patientenpopulationen et cetera -, sind eindeutig zu definieren und zu beschreiben. Dabei sollen Angaben über den Anteil der charakteristischen Situationen gemacht werden, in denen die Empfehlungen von Leitlinien nach empirischen Erkenntnissen erfolgversprechend sind. l Flexibilität: Leitlinien nennen speziell bekannte und allgemein zu erwartende Ausnahmen von den Empfehlungen. Sie zeigen auf, wie die Bedürfnisse der Patienten in die ärztliche Entscheidungsfindung einzubeziehen sind.
l Klarheit, Eindeutigkeit: Leitlinien sind in allgemein verständlicher Sprache abzufassen, unter Verwendung von präziser Terminologie und Definitionen sowie von logischen und leicht nachvollziehbaren Darstellungen. Es empfiehlt sich, soweit wie möglich einheitliche Präsentationsformen zu verwenden.
l Dokumentation der Leitlinienentwicklung: Die Verfahren, Beteiligten, benutzten Materialien, Annahmen, Prämissen und Analysenmethoden, mit deren Hilfe Leitlinien entwickelt wurden, sind ebenso exakt zu dokumentieren wie die Verknüpfung der Empfehlungen mit den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen.
l Planmäßige Überprüfung: Die Leitlinien enthalten Angaben darüber, wann, wie und durch wen sie überprüft werden.
l Überprüfung der Anwendung: Die Leitlinien zeigen Verfahren auf, mit denen die Akzeptanz und Praktikabilität der Empfehlungen in der Praxis ermittelt werden können.
l Kosten-Nutzen-Verhältnis: Leitlinien sollen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung unter Berücksichtigung der hierdurch entstehenden Kosten führen. Die Empfehlungen von Leitlinien sollten möglichst ergänzt werden durch Informationen über den Umfang des Nutzens, der Risiken, Nebenwirkungen und Kosten, die bei Berücksichtigung der Empfehlungen zu erwarten sind, sowie durch Hinweise auf die Nutzen-Kosten-Relation bei anderen Vorgehensweisen.
l Verfügbarkeit der Leitlinie: Leitlinien sollten durch Angaben über problemorientierte Instrumente ergänzt werden, mit deren Hilfe die Empfehlungen in der ärztlichen Berufspraxis verfügbar und nutzbar gemacht werden können (zum Beispiel Praxishilfen, Patienteninformationsmaterial, Fortbildungsmaterial, Dokumentationshilfen).
5. Vorschlag für eine standardisierte Zusammenfassung/
Gliederung von Leitlinien
1. Ziele: Vorrangige Ziele der Leitlinie mit Nennung des Gesundheitsproblems, der Zielgruppe (Patienten und Leistungserbringer) und der Rahmenbedingungen.
2. Vorgehensweise: Ablaufschema der empfohlenen Vorgehensweise. In diesem Zusammenhang sollte die Leitlinie - wenn möglich - Antwort auf folgende Fragen geben:
l Was ist notwendig ?
l Was ist überflüssig ?
l Was ist obsolet?
l Wie sollen Verlaufsbeobachtungen durchgeführt werden ?
l Läßt sich eine differenzierte Empfehlung zur Entscheidung hinsichtlich ambulanter oder stationärer Versorgung machen ? 3. Ergebnisse: Zusammenstellung der Ergebnisse der empfohlenen Vorgehensweise, auch im Vergleich zu anderen, nicht vorgeschlagenen Vorgehensweisen.
4. Beweise und Auswahlkriterien: Wissenschaftliche Belege für die Ergebnisse der empfohlenen Vorgehensweise. Angabe, welche Auswahlkriterien und Werturteile für die Nennung der wissenschaftlichen Belege von wem genutzt wurden.
5. Nutzen, Nebenwirkungen, Kosten: Umfang des Nutzens, der Risiken, Nebenwirkungen, Kosten, die bei Berücksichtigung der Leitlinie zu erwarten sind. Erwünscht sind Hinweise auf die Nutzen-Kosten-Relation der vorgeschlagenen Vorgehensweise (wenn möglich, auch im Vergleich zu anderen Vorgehensweisen).
6. Zusammenfassende Empfehlungen der Leitlinie
7. Implementierungsplan: Angabe problemorientierter Implementierungsinstrumente (zum Beispiel Praxishilfen, Patienteninformationsmaterial, Fortbildungsmaterial, Dokumentationshilfen)
8. Belege für die Berücksichtigung und Wirksamkeit der Leitlinie: Angabe externer Evaluation der Leitlinie und ihrer Berücksichtigung, Vergleich mit vergleichbaren Leitlinien oder Empfehlungen.
9. Gültigkeitsdauer und Verantwortlichkeit für die Fortschreibung
10. Angabe von Autoren, Kooperationspartnern, Konsensusverfahren, Sponsoren
Literatur
1. Agence Nationale pour le Développement de l’Evaluation Médicale "ANDEM" (1993): Les recommandations pour la pratique clinique. Paris
2. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (1996): AWMF-Online Leitlinien (awmf@uni-duesseldorf.de)
3. Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (1996): Curriculum Qualitätssicherung - Ärztliches Qualitätsmanagement. Texte und Materialien der Bundesärztekammer zur Fortbildung und Weiterbildung. Band 10. Köln
4. Canadian Medical Association (1994): Guidelines for Canadian Clinical Practice Guidelines. Ottawa
5. Field MJ, Lohr KN (1990): Clinical Practice Guidelines. Washington DC
6. Royal College of Nursing (1995): Clinical Guidelines - What you need to know. London
Autoren: Die "Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizinischen Versorgung" wurden 1996 durch die Zentralstelle der Deutschen Ärzteschaft zur Qualitätssicherung in der Medizin (Gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung) unter Beteiligung folgender Experten erarbeitet: R. E. Bloch (Bern), K. Lauterbach (Köln), U. Oesingmann (Dortmund), O. Rienhoff (Göttingen), H. D. Schirmer (Köln), F. W. Schwartz (Hannover).