ArchivDeutsches Ärzteblatt17/2010Soziale Epidemiologie: Auswirkungen von Ungleichheit

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Soziale Epidemiologie: Auswirkungen von Ungleichheit

Lehmkuhl, Dieter

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Richard Wilkinson, renommierter britischer Epidemiologe, hat viele Jahre zu sozialen Determinanten von Gesundheit geforscht. Er und die Koautorin suchten anhand offizieller Statistiken von Weltbank, UN und den USA nach Korrelationen zwischen Mustern der Einkommensverteilung und dem Ausmaß sozialer und gesundheitlicher Probleme in den entwickelten Industrieländern. Ihre Ergebnisse weisen nach, dass einkommensgleiche Gesellschaften, wie die skandinavischen Länder, Kanada und Japan, deutlich besser abschneiden als Länder mit stark ungleicher Einkommensverteilung, wie die USA, Portugal und Großbritannien. Dies betrifft körperliche und seelische Gesundheit, Schulbildung, Kindeswohl, das Maß an Vertrauen, soziale Integration und soziale Mobilität. In einkommensgleichen Ländern gibt es zum Beispiel weniger Depressionen und Ängste, Fettsucht, Teenager-Schwangerschaften, Drogenabhängigkeit, Inhaftierte und Gewalt, und die Lebenserwartung ist höher. Mehr Einkommensgleichheit ist zusammen mit Bildung – beides hängt eng zusammen – der Prädiktor für gesundheitliches und soziales Wohlergehen.

Diese Ergebnisse sind unabhängig davon, wie Gleichheit hergestellt wird – ob über sekundäre Umverteilung, wie in den skandinavischen Ländern, oder primär über geringere Einkommensunterschiede, wie zum Beispiel in Japan –, und sie sind weitgehend unabhängig von kulturellen Einflüssen. Größere Gleichheit wirkt sich selbst für diejenigen am oberen Ende der Einkommensskala positiv aus. Ein weiteres Ergebnis: Entwickelte Länder mit hohem Durchschnittseinkommen schneiden hinsichtlich der genannten Parameter nicht grundsätzlich besser ab als solche mit niedrigem; das heißt, größerer materieller Reichtum und Wachstum führen nicht mehr zwangsläufig zu besserem Wohlergehen. Viel entscheidender ist das Maß der Einkommens(un)gleichheit. Große Ungleichheit wirkt, so die gut begründeten Überlegungen der Autoren zur Kausalität der festgestellten Zusammenhänge, indirekt über Faktoren wie höherer Stress, Unsicherheit, Zukunftsverlust und Resignation, (Status-)Konkurrenz, Wettbewerbsdruck, Konsumismus (als Statusmarker) und fehlender sozialer Zusammenhalt. Dies sind alles Faktoren, die ungleiche Länder weitaus stärker bestimmen. Auswirkungen der Ungleichheit ließen sich demnach durch Umverteilung und Anhebung der Durchschnittseinkommen beseitigen; so würden die hohen Kosten der durch Armut erzeugten sozialen und gesundheitlichen Probleme vermieden.

Eigentlich sind diese Ergebnisse für Sozialmediziner nicht neu. Sie entsprechen ebenso dem gesunden Menschenverstand. Neu ist jedoch die breite empirische Evidenz auf der Basis umfassender Analyse umfangreicher, vorher nicht so zugänglicher Daten, auf die sich die Ergebnisse stützen. Ungleichheit zersetzt die Gesellschaft und deren soziale Matrix, so lässt sich die zentrale Aussage des Buchs zusammenfassen. Die bemängelte statistische Analyse wurde in der Paperbackausgabe 2010 inzwischen nachgeliefert. Jede seriöse Debatte über den Weg zu einer sozial und gesundheitlich bekömmlicheren Gesellschaft wird diese Ergebnisse berücksichtigen müssen. Das Buch ist in Großbritannien auf überwiegend positive Resonanz in der Presse gestoßen. Das Magazin „New Statesman“ hat es als eines der zehn wichtigsten Bücher der Dekade bezeichnet. Wesentliche Ergebnisse, Grunddaten und Methodik sind im Internet unter www.equalitytrust.org.uk abrufbar. Dieter Lehmkuhl

Richard Wilkinson, Kate Pickett: The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone. 2. Auflage. Penguin Books, London 2010, 347 Seiten, 9,99 Britische Pfund

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