ArchivDeutsches Ärzteblatt PP5/2010Familienmahlzeiten: Schutz vor psychischen Problemen

THEMEN DER ZEIT

Familienmahlzeiten: Schutz vor psychischen Problemen

Sonnenmoser, Marion

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS Dass Familien gemeinsam essen, findet in der heutigen Gesellschaft immer seltener statt. Doch gerade für Kinder ist es wichtig, ihre Mahlzeiten nicht allein und in eigener Verantwortung einzunehmen.

Essen im Kreis der Familie – Mahlzeiten sind eine Gelegenheit für die Familienmitglieder, um sich auszutauschen und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.
Essen im Kreis der Familie – Mahlzeiten sind eine Gelegenheit für die Familienmitglieder, um sich auszutauschen und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.
Vater, Mutter und Kinder sitzen gemeinsam am Tisch, essen und unterhalten sich – solch eine Idylle gibt es kaum noch. Heutzutage kommt nur jedes dritte Kind regelmäßig in den Genuss, zusammen mit anderen Familienmitgliedern eine oder mehrere Mahlzeiten am Tag einzunehmen. Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen müssen hingegen meistens allein essen, kaufen sich irgendwo etwas Essbares oder lassen Mahlzeiten aus, vor allem das Frühstück. Immer mehr Kinder und Heranwachsende gehen daher mit hungrigen Mägen in Kindergärten, Schulen und zum Ausbildungsplatz und zeigen dort Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsprobleme und Kreislaufschwächen – vielleicht nicht nur, aber sicherlich auch wegen Energiemangels.

Dass Kinder und Jugendliche sich selbst ernähren müssen, weil kaum noch jemand für sie kocht und sich Zeit für geregelte Mahlzeiten nimmt, wird von der Nahrungsmittelindustrie gefördert (und ausgenützt), indem sie beispielsweise schnell zubereitbare und konsumierbare Produkte und Essgelegenheiten (Fast Food, Convenience Food, Mikrowellengerichte, Pizzaservice, Imbissbude) anbietet. Auch scheint heutzutage vielen Eltern das Bewusstsein dafür abhanden zu kommen, dass es für Kinder nicht gut ist, wenn ihnen schon früh die Verantwortung für die eigene Ernährung überlassen wird. Denn Kinder können nicht wissen, wie man sich sinnvoll und gesund ernährt, wenn es ihnen niemand beibringt und vorlebt.

Kinder, die allein essen, ernähren sich ungesünder
Ernährungswissenschaftler und Gesundheitspsychologen befassen sich schon seit längerem mit der Problematik familiärer Ernährungsmuster, weil Essstörungen und Gewichtsprobleme im Kindes- und Jugendalter ständig zunehmen. Neuerdings wird aber nicht nur untersucht, welche Faktoren sich ungünstig auf das Ernährungsverhalten auswirken, sondern auch, welche günstigen Faktoren es gibt und ob auch andere Lebens- und Verhaltensbereiche davon beeinflusst werden. Beispielsweise fanden Psychologen um Jayne Fulkerson von der University of Minnesota heraus, dass Jugendliche, die regelmäßig – das heißt mindestens fünf- bis siebenmal pro Woche – im Kreis der Familie essen, häufiger frühstücken und sich gesünder ernähren. Sie nehmen zum Beispiel mehr Obst zu sich, als allein essende Gleichaltrige. Zudem weisen diese Jugendlichen seltener depressive Symptome und Übergewicht auf und leiden auch weniger unter der Angst, nichts oder zu wenig zu essen zu bekommen.

Die Gesundheitsökonomin Bisakha Sen von der University of Alabama stellte anhand einer repräsenta-tiven Langzeitstudie fest, dass gemeinsame Familienmahlzeiten sogar präventiv gegen Verhaltensauffälligkeiten und Devianz wirken. Bei Mädchen verhindern sie beispielsweise Drogenmissbrauch, bei Jungen Alkoholprobleme, Diebstahl, Vandalismus und körperliche Gewalt. Jugendliche, die regelmäßig mit der Familie essen, neigen zudem seltener dazu, von zu Hause wegzulaufen.

Die positive und präventive Wirkung gemeinsamer Familienmahlzeiten konnte auch ein Psychologenteam um Debra Franko von der Northeastern University beobachten. Es führte eine Langzeitstudie mit weiblichen Kindern und Jugendlichen durch, die zu Beginn der Studie zehn und am Ende 19 Jahre alt waren und jährlich befragt wurden. Es zeigte sich, dass Mädchen, die im Kindesalter und in der frühen Pubertät regelmäßig mit ihren Eltern und Geschwistern aßen, als Jugendliche und im jungen Erwachsenenalter seltener rauchten, Alkohol tranken und weniger oft zu Essstörungen (wie Bulimie) und Körperbildstörungen (wie Unzufriedenheit mit dem Körper, Wunsch nach einer extrem schlanken Figur) neigten. Außerdem empfanden sie insgesamt wenig Stress, konnten mit Problemen konstruktiv umgehen und fühlten sich mit ihrer Familie eng verbunden. Die Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass Familienmahlzeiten nicht nur „Essen“, sondern auch „Zeit für die Familie“ bedeuten. Die Familienmitglieder haben im Alltag kaum so viel Gelegenheit wie am Tisch bei einer gemeinsamen Mahlzeit, um sich auszutauschen, von ihren Freuden und Sorgen zu berichten, sich zuzuhören und sich gegenseitig Rat, Trost oder Ermunterung zu geben. Auf diese Weise entstehen Vertrauen und Bindung, und „richtig essen“ wird ganz nebenbei auch noch gelernt. Nach Meinung von Franko und Kollegen sind es letztlich die positive Atmosphäre, die gegenseitige Unterstützung und das Zusammengehörigkeitsgefühl, die während gemeinsamer Mahlzeiten vermittelt werden und die Kinder über viele Jahre innerlich stabilisieren, oft sogar für den Rest ihres Lebens. Sie sagen: „Es lohnt sich, mit Kinder regelmäßig zu essen, weil es der ganzen Familie Vorteile bringt.“
Dr. phil. Marion Sonnenmoser

Kontakt: Debra Franko, Department of Counseling and Applied Educational Psychology, Northeastern University, 203 Lake Hall, Boston, MA 02115–5000 (USA), E-Mail: d.franko@neu.edu

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote