ArchivDeutsches Ärzteblatt21/2010Endokrine Disruptoren: Geschickte Hormonimitatoren

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Endokrine Disruptoren: Geschickte Hormonimitatoren

Richter-Kuhlmann, Eva

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Weichmacher, die zur Herstellung von Kunststoffen eingesetzt werden, gelten als potenzielle Disruptoren. Foto: iStockphoto
Weichmacher, die zur Herstellung von Kunststoffen eingesetzt werden, gelten als potenzielle Disruptoren. Foto: iStockphoto
Endokrine Disruptoren stehen im Verdacht, die Entwicklung des menschlichen Organismus zu stören, die Fortpflanzungsfähigkeit zu mindern und die Entstehung hormonell regulierter Tumoren zu fördern. Ein Symposium ging den Fragen nach.

Seit mehr als 20 Jahren beobachten Wissenschaftler Phänomene hormoneller Störungen und „Geschlechtsveränderungen“ in der Umwelt: Bei Mollusken, Fischen, Fröschen und Vögeln verweiblichen die männlichen oder vermännlichen die weiblichen Tiere, die Fortpflanzungsfähigkeit nimmt ab, Tumoren entstehen. Als Ursache dafür vermuten Experten endokrine Disruptoren, ein Heer ganz unterschiedlicher Substanzen, die das Hormonsystem beeinflussen. Einige Wissenschaftler befürchten gar eine ernsthafte langfristige Störung des biologischen Gleichgewichts.

„Auch bei Menschen wurde ein Rückgang der Spermienanzahl und eine Zunahme von Hoden-, Brust- und Prostatakrebs wissenschaftlich beobachtet“, sagt Dr. Hartmut Giese vom Bundesumweltministerium beim Verbraucherschutz-Forum des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) Ende April in Berlin. „Ob dies in einem kausalen Zusammenhang zur Aufnahme von endokrinen Disruptoren zu sehen ist, ist jedoch unklar, da das Wissen über hormonell wirksame Chemikalien noch unzureichend ist.“

Etwas mehr Licht in dieses Dunkel zu bringen, versucht das BfR. Das Institut untersucht die Migration von endokrin wirksamen Substanzen aus Lebensmittelkontaktmaterialien und geht der Frage nach, auf welche Weise solche Verbindungen den Stoffwechsel beeinflussen. Derzeit arbeitet es zudem an der Etablierung von Screening-Verfahren und erstellt Vorschläge für Bewertungskonzepte.

Erschwerend für die toxikologische Einschätzung des Risikos von endokrinen Disruptoren ist, dass die betroffenen Substanzen strukturell und mechanistisch sehr verschieden sind und der Mensch sie mit der Nahrung, aber auch über die Haut oder die Luft aufnehmen kann. Sowohl Pestizide, Flammschutzstoffe, Kosmetika, Medikamente, Konservierungsmittel, Farben, Verbrennungsprodukte, Weichmacher, die zur Herstellung von Kunststoffen eingesetzt werden, als auch Pflanzeninhaltsstoffe sind potenzielle endokrine Disruptoren. „Auch die Wirkungsweise der Substanzen ist sehr unterschiedlich“, betont Prof. Dr. Andreas Hensel, Präsident des BfR.

Manche dieser Moleküle rufen im Organismus die Reaktion hervor, die das entsprechende Hormon auslösen würde. Andere hingegen docken an den Rezeptoren eines Hormons an und verhindern seine Wirkung. Weitere Gruppen stören die Synthese, den Transport, den Metabolismus oder die Ausscheidung der Hormone und verändern damit die natürlichen Hormonkonzentrationen in den Organismen.

Zielorgane seien alle hormonabhängigen Systeme, erklärt Hensel weiter. Häufig sei zudem eine Bioakkumulation von endokrinen Disruptoren zu beobachten, sowohl in der Nahrungskette als auch im menschlichen Fettgewebe, wodurch die Belastung mit der Zeit deutlich zunehme.

Endokrinschädliche Wirkungen werden auch Pestiziden zugeordnet. Foto: Caro
Endokrinschädliche Wirkungen werden auch Pestiziden zugeordnet. Foto: Caro
Isolierte Isoflavone eventuell nicht ohne Risiko
Hormonell wirksame Substanzen müssen jedoch nicht immer künstliche Stoffe sein. Sie kommen auch in der Natur vor, zum Beispiel als Bestandteile von Pflanzen. So enthält die Sojapflanze reichlich viele die als Phytoöstrogene bezeichneten Isoflavone, die ebenfalls in das menschliche Hormonsystem eingreifen können. „Im menschlichen Organismus imitieren Phytoöstrogene geschickt das weibliche Sexualhormon Östrogen“, sagt Prof. Dr. Alfonso Lampen, Leiter der Abteilung Lebensmittelsicherheit beim BfR. „Dabei fungieren sie als Ligand am Östrogenrezeptor und beeinflussen so die Proteinbiosynthese und die Zellvermehrung.“ Die Wirkung der Isoflavone sei unter anderem spürbar an den Knochen, am kardiovaskulärem System, bei der Ausprägung von menopausalen Symptomen sowie der Entstehung von Karzinomen.

Ob die Zufuhr von Isoflavonen zur Gesundheit des Menschen beitragen oder gar zum Risiko werden kann, ist noch nicht abschließend geklärt. „Bei der Wirkungsweise von Isoflavonen spielen die Art und Menge ihrer Aufnahme, ihre Konjugation mit Zuckern, die Darmflora und die individuelle Empfindlichkeit des Menschen eine große Rolle“, erläutert Prof. Dr. Leane Lehmann von der Universität Würzburg.

Fest steht jedoch, dass deutliche Unterschiede zwischen der Aufnahme von Isoflavonen durch eine sojabasierte Ernährung (wie in Japan) und der Aufnahme von Isoflavonen in isolierter Form bestehen. Zwar werden Isoflavonkapseln als Ersatz für die konventionelle Hormontherapie zur Behandlung von Wechseljahresbeschwerden sowie zur Prävention von Osteoporose frei verkäuflich in Deutschland angeboten. Wissenschaftlich ist der Lebensmittelchemikerin zufolge jedoch nicht eindeutig belegt, ob diese Isoflavone die Wechseljahresbeschwerden tatsächlich lindern.

„Eine positive Wirkung durch Isoflavone in Sojaprodukten ist allerdings auch für westliche Frauen nicht auszuschließen“, meint Lehmann. Aber gleichzeitig könnten isolierte Isoflavone, in einer hohen Dosis über einen längeren Zeitraum eingenommen, auch unerwünschte Wirkungen haben. So sei nicht auszuschließen, dass sie das Brustkrebsrisiko steigern könnten, da sie östrogenartig auf das Brustgewebe von Frauen in den Wechseljahren wirkten.

Ein potenzielles Risiko für Verbraucherinnen und Verbraucher stellen aber auch Lebensmittelverpackungen aus Kunststoff dar. Endokrin aktive Substanzen könnten entweder aus den Bausteinen (Monomeren) der Substanzen oder aus den Zusatzstoffen (Additiven) der Kunststoffe stammen, erklärt Dr. med. Andreas Luch (BfR). Der Toxikologe befasst sich unter anderem mit der Frage, inwieweit die chronische Aufnahme dieser schwach hormonell wirksamen Substanzen aus Lebensmittelverpackungsmaterial für den Menschen schädlich sein kann.

Eine einheitliche Vorgehensweise für den Nachweis von endokrinen Substanzeigenschaften existiert im Bereich der Lebensmittelbedarfsgegenstände allerdings nicht. Ende vergangenen Jahres untersuchte das BfR deshalb gemeinsam mit der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit und mit Laboren der Amtlichen Lebensmittelüberwachung in Deutschland Babyschnuller auf den Gehalt an Bisphenol A (BPA), einer Industriechemikalie, die für die Herstellung von Polycarbonat-Kunststoffen und Kunstharzen verwendet wird.

„Bein 17 von 18 untersuchten Saugern konnte nicht nachgewiesen werden, dass Bisphenol A in die Speicheltestlösung übergegangen ist. Lediglich bei einer Probe lag der gemessene Wert knapp über der Nachweisgrenze“, berichtet Luch. Aber auch bei diesem einen Sauger habe die täglich tolerierbare Aufnahmemenge nur ein Prozent betragen. „Dieses Ergebnis gibt keinen Anlass zu gesundheitlichen Bedenken“, sagt Luch.

Gleichzeitig beschäftigt sich das BfR mit der gesundheitlichen Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln. Diese dürfen derzeit nur zugelassen werden, wenn sie bei „bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung“ keine schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben. Dabei wurden auch bisher schon schädigende Wirkungen auf das Hormonsystem berücksichtigt. Nach der ab Juni 2011 gültigen neuen EU-Verordnung über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (VO [EG] Nr. 1107/2009) sind endokrin-schädliche Eigenschaften für den Menschen nun jedoch ein wahres Ausschlusskriterium für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Doch wie lässt sich das prüfen?

„Bisher gibt es noch kein Konzept, wie diese Regelung bei der Prüfung eines Wirkstoffs angewendet werden kann“, räumte Dr. Philip Marx-Stölting vom BfR gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt ein. Basierend auf den Ergebnissen eines internationalen Expertenworkshops im November vergangenen Jahres habe das BfR jedoch zumindest einen Vorschlag für ein solches Bewertungskonzept erarbeitet.

Diesem Vorschlag zufolge sollen Pflanzenschutzmittel mit möglichen endokrinschädlichen Eigenschaften nach einem vierstufigen Prozess charakterisiert werden. In einem ersten Schritt sollen dabei anhand aller vorliegenden toxikologischen Daten Effekte identifiziert werden, die durch einen endokrin-schädlichen Mechanismus bedingt sein könnten. In Folgeschritten werden diesen Effekten zugrunde liegende toxikologische Mechanismen überprüft, und es wird beurteilt, ob in Tierversuchen gewonnene Daten für den Menschen relevant sind.

„Die anschließende Entscheidung, ob das Pflanzenschutzmittel zugelassen werden kann oder nicht, kann entweder expositionsbasiert – das heißt unter Berücksichtigung der Menge, die ein Mensch normalerweise aufnimmt – oder auf Grundlage des ermittelten Gefährdungspotenzials des Stoffs getroffen werden“, erläutert Marx-Stölting. Abgestimmt werden soll der Bewertungsvorschlag bis zum nächsten Jahr.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

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