ArchivDeutsches Ärzteblatt37/1997Homöopathie: Argumente und Gegenargumente

MEDIZIN: Kurzberichte

Homöopathie: Argumente und Gegenargumente

Ernst, Edzard

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LNSLNS Vor gut 70 Jahren veröffentlichte Deutschlands damals führender Chirurg, August Bier, einen Artikel mit dem Titel "Wie sollen wir uns zur Homöopathie stellen?" (4). Bier versuchte darin darzustellen, daß vielleicht doch etwas an der Homöopathie dran sei und daß man ihr mit Offenheit begegnen sollte. Mit dieser Publikation beschwor er unversehens heftigste Angriffe seitens der Schulmedizin herauf (7). 1992 publizierten 16 Professoren die "Marburger Erklärung zur Homöopathie" in der sie diese Medizinform als "publizistisch geschürten Aberglauben" bezeichneten. Es folgten heftigste Angriffe aus den Reihen der Homöopathie (23).
Die Debatte um die Homöopathie wird seit ihrem Bestehen von beiden Seiten emotional und polemisch geführt (15). Dies ist nicht selten kontraproduktiv (6) und hilft letztlich dem Patienten wenig. Im folgenden soll daher versucht werden, die Argumente und Gegenargumente in aller Nüchternheit und Offenheit objektiv abzuwägen.
"Die Konzepte der Homöopathie sind absurd"
Dies ist wohl das am häufigsten verwendete Argument gegen die Homöopathie. Es bezieht sich vornehmlich auf die Ähnlichkeitsregel (Therapie von Symptomen mit Mitteln, die ebensolche Symptome am Gesunden auslösen) und die These vom "Gedächtnis des Wassers" (homöopathische Verdünnung jenseits der Loschmidtschen Zahl führt nicht zum Verlust, sondern zur Potenzierung der Aktivität einer homöopathischen Zubereitung). Beide Thesen sind Grundpfeiler der Homöopathie. Beide sind nicht zu vereinbaren mit den Gesetzen der Physik und Chemie, so wie wir sie heute kennen.
Homöopathie-Gegner führen aus, daß "praktisch sämtliche naturwissenschaftlichen Gesetze . . . [erst] nach Hahnemanns Tod entdeckt" wurden (25); in der Homöopathie habe man es in der Folgezeit vermieden, sich diesen neuen Erkenntnissen anzupassen. Homöopathie-Anhänger dagegen meinen, daß ganz offensichtlich ein Defizit im heutigen Erkenntnisstand der Wissenschaften vorliegen muß. Mit exakter Forschung müßte es irgendwann einmal möglich sein, diesen Widerspruch als scheinbar und nicht wirklich existent zu entlarven (26).
Sei es, wie es sei - fest steht, daß bei weitem nicht alles, was in der Medizin therapeutisch eingesetzt wird und wurde, auf einem plausiblen Rationale basiert. Wer von uns würde davor zurückschrecken, beispielsweise Acetylsalicylsäure einzusetzen, wenn fest stünde, daß damit Krebs geheilt werden kann, ohne daß über den Mechanismus einer solchen Wirkung auch nur das geringste bekannt wäre? Was in der klinischen Medizin letztlich zählt, ist also nicht die Plausibilität, sondern der Wirksamkeitsnachweis; anders ausgedrückt, die (derzeit noch?) offensichtliche Absurdität der homöopathischen Konzepte sollte keinen absoluten Hinderungsgrund für die Anwendung der Homöopathie darstellen.
"Homöopathische Arzneimittelprüfungen sind nicht reproduzierbar"
Die Anwendung der Ähnlichkeitsregel setzt voraus, daß homöopathische Arzneimittel zuvor am Gesunden geprüft wurden (16). Diese Prüfungen sind in vielerlei Hinsicht kritikwürdig (5). Unter anderem ist unklar, nach welchem Protokoll (es existieren fast ebenso viele Protokolle wie Prüfer) geprüft werden muß und ob die meist lange Liste von Symptomen, die ein Arzneimittelbild ausmachen, nicht nur eingebildete Befindlichkeitsstörungen sind. Sogar der Hahnemannsche Selbstversuch mit Chinin, der ihn zur Entwicklung der Homöopathie veranlaßte, wirft erhebliche Zweifel bezüglich seiner Reproduzierbarkeit auf (23).
Die Tatsache, daß hier vieles (oder fast alles) im argen liegt, wird nunmehr auch von homöopathischer Seite erkannt (5); es wird eine radikale Verbesserung der Arzneimittelprüfung gefordert. In Abwesenheit einer ausreichenden Anzahl wissenschaftlich exakter Prüfungen läßt sich weder der Wert noch der Unwert der homöopathischen Arzneimittelprüfung belegen.
"Scheinbare Heilerfolge der Homöopathie sind Scheinerfolge"
Dieses Argument ist so alt wie die Homöopathie selbst (17). Es erschöpfte sich zunächst im Anekdotischen. Homöopathen verwiesen auf ihre Heilerfolge, Gegner auf den Plazeboeffekt. Später wurden Statistiken angeführt, zum Beispiel über bessere Überlebensraten in homöopathischen Krankenhäusern bei Epidemien. Kritiker entgegneten, daß diese Zahlen mittels Selektionsvoreingenommenheit und anderen methodischen Schwächen, nicht aber durch die Wirksamkeit der Homöopathie zu erklären seien (18).
Inzwischen sind wir hier einen (wenn auch kleinen) Schritt weitergekommen. Wir können uns heute auf kontrollierte Studien und Metaanalysen stützen. Derzeit existieren drei unterschiedliche Metaanalysen von drei unabhängigen Arbeitsgruppen (22, 3, 19) sowie eine systematische Übersicht von anerkannt hoher Qualität (21). Diese Publikationen kommen ohne Ausnahme zu einem positiven Ergebnis (sie implizieren, daß Homöopathika Plazebos überlegen sind), räumen jedoch alle ein, daß methodische Schwächen der Einzelstudien eine definitive Schlußfolgerung nicht zulassen. Es ist in der Tat nicht möglich, auch nur eine einzige Studie zu finden, die einer strengen Kritik standhalten würde (5).
Die im Auftrag der Europäischen Union erstellte Analyse (19) ist deswegen besonders hervorzuheben, da sie von einem Team aus Anhängern und Kritikern der Homöopathie sowie unparteiischen Experten erarbeitet wurde (der Autor der vorliegenden Arbeit war Mitglied dieser Gruppe und zählt sich zur letztgenannten Kategorie). Hier wurden mit enormem Aufwand alle Homöopathie-Studien gesammelt und diejenigen, die randomisiert sowie plazebokontrolliert waren, analysiert. Sie kommt zu folgendem Schluß: "Es ist wahrscheinlich, daß unter den untersuchten homöopathischen Ansätzen einige Studien Effekte aufweisen, die über Nulltherapie oder Plazebo hinausgehen."
Das Argument der Homöopathie-Gegner "daß die Homöopathie vielfach von Wissenschaftlern hohen Grades, von staatlichen Kommissionen, in Spezialkliniken von Hochschulen überprüft wurde, aber keine spezifische Wirkung gezeigt hat" (25) ist also irreführend. Weitaus schlagkräftiger ist das Argument, daß die Datenlage durch Publikationsvoreingenommenheit (das heißt Studien mit negativem Ergebnis gelangen seltener zur Publikation als solche mit positivem Resultat) verzerrt wird und daher nicht dem tatsächlichen Sachverhalt entspricht (2). Der Autor dieser Zeilen weiß beispielsweise von mehreren homöopathischen Studien, die negativ ausfielen und (deshalb?) nicht publiziert wurden.
Ein weiteres Argument bezieht sich auf die Glaubwürdigkeit von Homöopathen: "Die sektiererische Natur der Homöopathie wirft ernste Fragen auf über die Rechtschaffenheit homöopathischer Forscher" (20). Unredlichkeit mag in vielen Bereichen der Medizin existieren. Ehe man sie einem Bereich pauschal vorwirft, sollte man jedoch Beweise für diese Anschuldigungen in der Hand haben. Das Argument überzeugt also nicht.
Wichtiger erscheint der Hinweis, daß keine Therapie als wirksam angesehen werden sollte, ehe nicht die Wirksamkeit bewiesen ist (20). Für die Homöopathie ist bis heute die Wirksamkeit nicht zweifelsfrei belegt. Das von Homöopathen häufig ins Feld geführte Argument, die oben genannten Analysen bewiesen nicht die Unwirksamkeit der Homöopathie, ist daher irrelevant.
"Homöopathie kann zumindest nicht schaden"
Auch diese These ist weit verbreitet. Sogar die EU-Richtlinien zur Zulassung von Homöopathika beruhen zum Teil darauf: hochverdünnte Mittel benötigen keinen Nachweis der Medikamentensicherheit (2). Dennoch ist die Homöopathie nicht gänzlich risikofrei. Eine Reihe von Nebenwirkungen und Komplikationen sind in der Literatur dokumentiert. Die Inzidenz derartiger Nebenwirkungen ist allerdings nicht bekannt. Daneben existieren auch bedeutsame indirekte Risiken, zum Beispiel die Verhinderung effektiver Maßnahmen durch Homöopathen (29). Ein Paradebeispiel ist hier die negative Einstellung vieler Homöopathen dem Impfen gegenüber (10). Homöopathische Mittel mögen unschädlich sein, Homöopathen sind es offenbar nicht in jedem Fall. Homöopathen kontern für gewöhnlich, daß dennoch die Homöopathie im Vergleich mit der Schulmedizin um Größenordnungen weniger Sicherheitsprobleme aufweist. Dem ist entgegenzuhalten, daß erstens die Nebenwirkungen der Homöopathie vielleicht doch häufiger sind als allgemein angenommen (1) und daß zweitens bei nicht sicher einschätzbarem Nutzen (siehe oben) eine Nutzen-/Risiko-Bewertung, auf die es in diesem Zusammenhang letztlich ankäme, schlichtweg unmöglich ist.
"Es existiert gar keine einheitliche Homöopathie"
"Praktisch gibt es so viele Homöopathien, wie es Homöopathien gibt" (25). Es ist richtig, daß sich seit Hahnemann diverse Schulen der Homöopathie herausgebildet haben. Diese sind sich zum Teil durchaus uneins. Dieser Umstand erschwert erheblich die Beurteilung der Homöopathie. Das Argument sticht jedoch nicht, wenn es um die Diskreditierung der Homöopathie an sich geht. Auch in anderen Bereichen der Medizin gibt es unterschiedliche Ausrichtungen. Es wäre die Aufgabe einer jeden derartigen Strömung, ihren Stellenwert zu belegen. Diese Forderung sollte auch an die Homöopathie und ihre diversen Strömungen gestellt werden.
"Homöopathen bereichern sich an Patienten"
Der Vorwurf, daß es hier um Profit geht und daß somit der Tatbestand der Quacksalberei erfüllt sei (20), ist ebenfalls so alt wie die Homöopathie selbst. Homöopathen haben zu aller Zeit gekontert, daß dies erstens falsch sei und daß zweitens die Profitgier ein allbekanntes Problem vor allem der Schulmedizin darstelle (8). Wie bereits ausgeführt, Unredlichkeit mag es hier wie dort geben. In Abwesenheit von Beweisen tut man jedoch gut daran, derartige Anschuldigungen zu unterlassen.
Brauchen wir weitere Forschung?
Diese entscheidende Frage wird uneinheitlich beantwortet. Viele Homöopathen meinen, die Homöopathie sei so "anders", daß sie sich nicht mit den heute akzeptierten Methoden erforschen läßt (13). Dies stimmt nur sehr bedingt. Es gibt Beispiele für kontrollierte Studien, die allen Ansprüchen auf Individualisierung, Diagnose und anderes gerecht werden (26). Ferner existieren innovative Prüfdesigns, die auf die besonderen Bedürfnisse der Homöopathie eingehen, ohne an Wissenschaftlichkeit einzubüßen (11). Selbst einige Kritiker der Homöopathie nehmen gegen weitere Forschung auf diesem Gebiet Stellung (28). Dieser Personenkreis argumentiert, daß angesichts der Mittelknappheit medizinische Forschung sich auf die aussichtsreichsten Projekte zu konzentrieren habe. Homöopathie sei nicht plausibel und gehöre daher nicht in diese Kategorie.
Obschon in dieser These eine nicht zu leugnende Logik steckt, ist sie (meiner Meinung nach) zu verwerfen. Die Homöopathie erfreut sich heute einer immensen Beliebtheit (14). Solange große Teile der Bevölkerung (irgend)eine Therapie anwenden, wäre es schlichtweg unethisch (9), nicht zu versuchen, die essentiellen Fragen, die sich auf den Nutzen und das Risiko beziehen, zu beantworten.
Fazit
Der Streit um die Homöopathie ist so alt wie diese Behandlungsform. Die Argumente sind inzwischen bestens bekannt, aber nur zum Teil zutreffend. Eine Lösung ist von diesem Dauerstreit kaum zu erwarten. In dieser Situation kann wohl nur exakte neue Forschung weiterführen. Was wir brauchen, sind nicht weitere ein- bis zweihundert unschlüssige Studien, sondern zwei bis drei adäquat angelegte und von Unparteiischen durchgeführte Studien zum Wirkungsnachweis. Zweihundert Jahre Diskussion, so will es scheinen, macht nicht das eine oder das andere Lager, sondern die Medizin als solche lächerlich. Was schlimmer ist, sie schadet letztlich unseren Patienten.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-2340-2342
[Heft 37]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über den Verfasser.


Anschrift des Verfassers
Prof. Edzard Ernst MD PhD
Department of Complementary Medicine
Postgraduate Medical School
25 Victoria Park Road
Exeter EX2 4NT · Großbritannien
1.Abbot NC, White AR, Ernst E: Complementary Medicine. Nature 1996; 381: 381.
2.Baker EA: European regulators covering homoeopathy. Forsch Komplementärmedizin 1996; 3: 309
3.Barnes J, Resch KL, Ernst E: Homoeopathy for post-operative ileus: a meta-analysis (submitted for publication)
4.Bier A: Wie sollen wir uns zur Homöopathie stellen? Münch Med Wschr 1925; 72: 713-717 und 773-776
5.Dantas F, Fisher P: Systematic review of provings. In: Ernst E, Hahn E (Hrsg): Homoeopathy a critical appraisal. Butterworth Heinemann, London: 1997
6.Drähne A: Homöopathie. Dialog ist dienlicher. Dt Ärztebl 1996; 93: 26
7.Ernst E: August Bier und German homoeopathy in the early 20th century. Br Homoeo J Jan 1996; 85: 49-52
8.Ernst E, Kaptchuk TJ: CM - the case for dialogue. J Roy Coll Physicians 1996; 30: 410-412
9.Ernst E: The ethics of complementary medicine. J Medical Ethics 1996; 22: 197-198
10.Ernst E, White AR: Homoeopathy and immunization, Br J Gen Pract Nov. 1995 1995; 45: 629-630
11.Ernst E, Resch KL: The "optional cross-over design" for randomized controlled trials. J Fundam Clin Pharm 1995; 9: 508-511
12.Ernst E: The safety of homoeopathy. Br homoeop J, 1995; 84: 193-194
13.European Commission for Homoeopathy: Internal Document. Brussels, Belgium: European Commission for Homoeopathy: 1994
14.Fisher P, Ward A: Complementary Medicine in Europe. Br Med J 1994; 309; 107-111
15.Grote W: Seehofers Schirmherrschaft. Dt Ärztbl 1996; 93: 2107
16.Hahnemann S: Organon of Medicine (Sixth Edition). W. Boericke (trans). New Delhi: B. Jain Publishers, 1980
17.Heinroth Ch A: Anti-Organon. Leipzig 1825
18.Holmes OW: Homoeopathy and its kindred delusions. 1842 re-publiziert in: Stalker D, Glymour C: Examining holistic medicine. Prometheus Books, Buffalo: 1989
19.Homoeopathic Medicine Research Group: Overview of data from homoeopathic medicine trials. European Commission, Bruxelles: 1996
20.Jarvis W: Homoeopathy, a position statement by the national council against health fraud. Skeptic 1994; 3: 50-57
21.Kleijnen J, Knipschild P, ter Riet G: Clinical trials of homoeopathy. Br Med J 1991; 302: 316-332
22.Linde K, Clausius N, Ramirez G, Melchart D, Eitel F, Hedges LV, Jonas W: Overviews and meta-analysis of controlled clinical trials in homoeopathy. In: Ernst E, Hahn E (eds): Homoeopathy a critical appraisal. London Butterworth: 1997
23.Marburger Erklärung. Raum und Zeit. 1994; 67: 30-34
24.Meyer FP: Vorlesungen über Homöopathie. Jena 1996.
25.Prokop O, Hopff W: Erklärung zur Homöopathie. Dt Apo Zeit 1992; 132: 1630-1631
26.Reilly DT: Explanation of Benveniste. Nature 1988; 334: 285
27.Reilly D, Taylor MA, Beattie NGM et al: Is evidence for homoeopathy reproducible? Lancet 1994; 344: 1601-1606
28.Vandenbrouck JP: Theory and practice. How do they relate to each other, and why is practice like homoeopathy theoretically unacceptable? In: Schmidt JG, Steele RG (eds): Kritik der medizinischen Vernunft. Kirchheim, Mainz 1994
29.Zimmer G, Miltner E, Maltern R: Lebensgefährliche Komplikationen unter Heilpraktikerbehandlung. Versicherungsmed 1994; 46: 171-174

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