ArchivDeutsches Ärzteblatt22/2010Von schräg unten: Fernost

SCHLUSSPUNKT

Von schräg unten: Fernost

Böhmeke, Thomas

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Die Deutschen sind Reiseweltmeister, scheinen dem unstillbaren Zwang zu unterliegen, alle Hochglanzprospekte der Reisebüros mit persönlichem Leben erfüllen zu müssen. Grenzenlose Freiheit, schieres Vergnügen, all das völlig ohne Risiken und Nebenwirkungen. Wenn das nur wirklich so wäre. Vor mir sitzt eine 82-jährige schwer herzkranke Dame, deren nichtrevaskularisierbare Koronarerkrankung medikamentös nur schwer einzustellen ist. Und das seit Jahren. Nachdem ich ihr empfohlen habe, die antianginöse Dreifachtherapie bis zur Tagesmaximaldosis zu steigern, erwähnt sie beiläufig, dass ihr Sohn beabsichtige, sie dieses Jahr nach Thailand mitzunehmen. Die Reise sei schon gebucht, ich hätte ja sicher nichts dagegen, nicht wahr? Ich habe etwas dagegen. Ob sie sich vorstellen könne, was passiert, wenn sie in 12 000 Metern Flughöhe einen nitratrefraktären Angina-pectoris-Anfall erleidet? „Ich weiß gar nicht, was Sie sich so anstellen. Vor zwölf Jahren bin ich schon mal dahin geflogen, da ging alles gut!“ Ich teile aber ihren jugendlichen Optimismus nicht. Ob eine kardiologische Versorgung vor Ort gewährleistet sei, will ich wissen. „Nun sind Sie mal nicht so pessimistisch. Neben dem Hotel ist ein Krankenhaus!“ Ob denn im besagten Krankenhaus die Kosten privat bezahlt werden müssten? „Darum brauchen Sie sich nicht zu sorgen, das macht mein Sohn!“ Ich habe zwar keine Lust, den Ferienverderber zu spielen, hinterfrage trotzdem, ob eine Fahrt ins Landesinnere bei 42 Grad Celsius Außentemperatur und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit noch ertragbar sei. „Also, ich weiß nicht, was Sie das kümmert, vor zwölf Jahren . . . “ – ich weiß, da ging alles gut. Nein, so meine ich, es tue mir sehr leid, aber bei einer medikamentös refraktären Angina pectoris CCS III könne ich ihre Fernostreise nicht befürworten.

Die alte Dame verlässt das Sprechzimmer, sichtlich enttäuscht. Ein schlechtes Gefühl beschleicht mich. Am Abend ruft mich der Sohn an, ob ich es ernst meinen würde. Ja, bekräftige ich, die Reise sei aus kardiologischer Sicht nicht zu befürworten. Mein schlechtes Gefühl verdichtet sich. Zwei Tage später trifft die Anfrage der Reiserücktrittsversicherung ein. Ob die den Urlaub verhindernde Erkrankung bei Vertragsabschluss bekannt gewesen sei, will die Versicherung von mir wissen. Mein schlechtes Gefühl überwältigt mich, soll ich falsch antworten? Nein, ich bleibe bei der Wahrheit. Ja, ich stelle mich an, es kümmert mich, ich bin pessimistisch, ich sorge mich, und ich habe jetzt das Problem: Die Versicherung wird niemals die Reisekosten zurückerstatten.

Und wer ist daran schuld? Ich. Aber wir Ärzte kommen ja auch nicht in den Hochglanzprospekten vor. Dort gibt es keine Risiken und Nebenwirkungen.

Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.

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