

Vor allem die einfache Landbevölkerung profitiert vom Phelophepa-Projekt.
Es kann recht kalt sein an einem frühen südafrikanischen Morgen. Schwester Ethelina Mgole öffnet um kurz nach sieben Uhr als erste die Zugtür von innen und begrüßt, auf der schmalen Leiter stehend, per Mikrofon die bereits in Scharen wartenden Patienten. Schwester Ethelina ist Leiterin der Health Clinic von Phelophepa. Dies ist ein zu einer Art Poliklinik umgebauter Zug, der seit 1994 jährlich neun Monate in Südafrika unterwegs ist und der Bevölkerung eine nahezu kostenfreie medizinische Grundversorgung anbietet – vorwiegend in abgelegenen ländlichen Gebieten.
Getragen von der südafrikanischen Eisenbahngesellschaft Transnet und mit finanzieller Hilfe des Schweizer Pharmakonzerns Roche konnte der Zug in den vergangenen Jahren von ursprünglich drei Wagen auf die Maximallänge von heute 18 Wagen ausgebaut werden. In diesen sind neben der Health Clinic eine Augen- und eine Zahnklinik untergebracht. Sogar ein Wagen mit Räumen für psychologische Gespräche gehört zum Angebot des Gesundheitszugs.
Für über einen Monat werde ich nun mit dem Zug auf Achse sein. Kollegen im eigentlichen Sinne suche ich allerdings vergeblich. Die Abteilungen werden von sehr kompetenten hauptamtlichen Krankenschwestern beziehungsweise einem Optometristen und Dentisten geleitet. Hinzu kommen 40 Studierende aus höheren Semestern der entsprechenden Ausbildungsgänge südafrikanischer Universitäten, die jeweils für zwei Wochen eine Art Pflichtpraktikum auf dem Zug absolvieren. Ohne sie wäre das Projekt nicht durchführbar.
Doch zurück zu Schwester Ethelina. Wie jeden Morgen erklärt sie in ihrer wohllaunigen Ansprache in einem interessanten Mix aus Englisch, Afrikaans und Xhosa den Ablauf für die Patienten. Geduld mögen sie haben, bittet sie, und wie nötig diese ist, merke ich, als der Zustrom an Patienten auch am Mittag nicht nachlassen will.
Bei allen Patienten werden unter provisorisch aufgespannten Zeltplanen zunächst Blutdruck und Blutzucker gemessen – eine Prozedur, die vielen der ländlichen Bewohnern völlig fremd zu sein scheint. Diabetes und Hypertonie sind in der afrikanischen Bevölkerung weiter verbreitet, als wir in Europa oder den USA glauben; kennen wir doch beide Erkrankungen vor allem als Folge einer schlechten Lebensführung in der Industriegesellschaft. Aufgrund der erhobenen Daten und der angegebenen Beschwerden erhalten die Patienten einen Aufkleber direkt auf Hemd oder Bluse. Nomulasa, eine 27-jährige Mutter, die sich heute früh um vier Uhr mit ihrem Baby zu Fuß von ihrem Dorf aufgemacht hat, erhält einen Sticker mit symbolisiertem Stethoskop. Das lässt sie als Patientin für die Health Clinic erkennen. Ein Zahn- und ein Brillensymbol sind ebenso selbsterklärend.
Während draußen noch diese Art von Triage fortgeführt wird, untersuchen drinnen im Zug andere Studierende bereits die ersten Patienten. Dabei hilft ihnen ein vorgegebener einfacher Algorithmus für Anamnese und Befunderhebung, gut sichtbar in jedem Untersuchungsabteil aufgehängt. Ähnlich simpel verhält es sich mit der Medikamentenliste. Diese ist unterteilt nach den Indikationen muskuloskeletale Beschwerden, Husten/Infekte und sexuell übertragbare Krankheiten (ohne HIV). Wer allerdings meint, Computer müssten bei dieser Art von Medizin unbekannt sein, irrt. Auch hier hat jede Diagnose einen Phelophapa-eigenen Code. Schnell lerne ich, das Otitis media EM002 heißt, eine Fraktur will als IN003 erfasst werden.
Ein paar Abteile weiter, im Raum für Krebsfrüherkennung, werde ich überrascht: Nicht nur, dass jeder Frau ein Zervixabstrich mit Pap-Test angeboten wird. Nein, alle Männer können, ebenfalls kostenfrei, einen PSA-Test machen lassen – und das ab 25 Jahren. Über den Sinn könnte man sicher streiten. Die Ergebnisse dieser und anderer Tests werden den örtlichen Health Centers übermittelt, die dann ihrerseits die Patienten zu einer eventuellen Weiterbehandlung einbestellen. Doch dann wird der 600-Tonnen-Zug schon längst weitergerollt sein, Hunderte Kilometer entfernt in eine andere entlegene Ortschaft.
An dieser Stelle setzt einer der Kritikpunkte gegen das Projekt an: Was wird aus den Patienten? Fakt ist, dass die staatlichen Health Centers und Krankenhäuser personell und technisch schlecht ausgestattet sind und keinen guten Ruf genießen. Eine Alternative zu ihnen gibt es aber nicht, private Kliniken sind für die einfache Bevölkerung unbezahlbar und meist auch nur in den größeren Städten vorhanden. Ohne die Untersuchungen im Zug würden viele Patienten undiagnostiziert bleiben, Diabetes und Hypertonie träten erst mit ihren fatalen Folgen zutage. So besteht wenigstens die Chance einer Prävention beziehungsweise Sekundärprävention.
Spätabends sehe ich, wie sich zwei Dutzend in bunte Tücher gehüllte Menschen neben den Zug auf den Boden legen und sich für die Nacht neben den Gleisen einrichten. Sie konnten heute nicht mehr untersucht werden, zu groß war der Andrang. Nachdenklich frage ich mich in dieser Nacht, ob das gesamte Projekt nicht doch nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein ist.
Am nächsten Morgen sitze ich schon früh mit drei Studierenden und zwei Schwestern im Geländewagen. Wir wollen zu einer entlegenen Schule fahren, um dort die Kinder zu untersuchen und den Eltern und Lehrern in praxisnahen Vorträgen von gesunder Ernährung, Körperpflege und Hygiene zu erzählen. Outreach nennen die Phelophepa-Verantwortlichen diese Art der Gesundheitsvorsorge und messen ihr große Bedeutung zu. In der Tat, selten habe ich so aufmerksame Zuhörer gesehen, wie in dieser Schule. Ich bin mir sicher, einen Unterschied im Leben vieler dieser Menschen bewirkt zu haben.
Viele Tage vergehen auf diese Art. Wochen später, am Ende meiner Zeit mit Phelophepa, nach schönen aber auch dramatischen Erlebnissen habe ich für mich eine Antwort auf meine Frage jener Nacht gefunden: Ja, es ist der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein – aber auch dieser Tropfen zählt.
Dr. med. Christoph Specht