ArchivDeutsches Ärzteblatt27/2010Kunst und Medizin: Trancezustände und Traumwelten

KULTUR

Kunst und Medizin: Trancezustände und Traumwelten

Schuchart, Sabine

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Adolf Bierbrauer (2009): „Ich male und male. Ich fühle mich als Mensch, der sich selbst achten kann.“ Foto: Sven Kierst
Adolf Bierbrauer (2009): „Ich male und male. Ich fühle mich als Mensch, der sich selbst achten kann.“ Foto: Sven Kierst

Am 26. Juli 2010 feiert der Arzt und Maler Adolf Bierbrauer den 95. Geburtstag. Sein mehr als 75-jähriges Œuvre spiegelt seine intensive Auseinandersetzung mit der menschlichen Seele wider. Spät wurde der Nonkonformist von der Kunstwelt entdeckt.

Bis zu seinem 82. Lebensjahr blieb er fern von der Öffentlichkeit, denn er hielt seine Kunst für eine reine Privatangelegenheit. Adolf Bierbrauer kam es nie darauf an, seine Werke im institutionellen Rahmen, in Museen und Galerien, zu präsentieren – „und das ist eigentlich die Nagelprobe“, betonte Prof. Bazon Brock anlässlich der ersten umfassenden Vorstellung des Künstlers im Jahr 2000 im Düsseldorfer NRW-Forum. „Er schafft Werke nicht, um uns einen Anlass zu bieten, etwas von der Welt in neuer, spektakulärer Weise repräsentiert zu finden, sondern er arbeitet im Hinblick auf die Frage, inwieweit wir das, was wir repräsentieren, auch Fleisch werden lassen.“

Der Kulturphilosoph bezieht sich damit auf die Fähigkeit des Düsseldorfer Arztes und Malers, die seelischen Äußerungen seiner Patienten wie auch seine eigene innere Verfassung „in künstlerisch einzigartiger Weise“ (Brock) in Bilder umzusetzen. Dadurch entstand ein beeindruckendes Lebenswerk, dessen Ende noch nicht erreicht ist. Denn auch kurz vor Vollendung seines 95. Lebensjahrs malt Bierbrauer – beeinträchtigt zwar durch gesundheitliche Einschränkungen, aber nach wie vor geistig wach und rege – in seinem Atelier in einem Altenheim. Für Kurator Martin Leyer-Pritzkow, der den Künstler vertritt und die Düsseldorfer Ausstellung initiierte, eine Conditio sine qua non: „Solange er malt, lebt er.“

Auch der 95. Geburtstag findet von der Öffentlichkeit unbemerkt statt. Denn Bierbrauer wird zwar von Künstlerkollegen sehr geschätzt – der WDR plant einen Filmbeitrag über ihn, und an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität entsteht eine Magisterarbeit mit anschließender Dissertation –, doch in der Kunstszene ist er nach wie vor ein Einzelgänger.

Schon in der frühen Jugendzeit schuf der 1915 Geborene erste Stillleben und vor allem Porträts. Doch das Selbstbewusstsein, Maler zu werden, hatte Bierbrauer damals nicht. Obwohl erste Aufträge für Porträts bei ihm eingingen, die er nur zu gern erfüllte, wählte er vor allem seinem Vater zuliebe den „soliden Arztberuf“ und verlegte die Kunst in die Freizeit. Bierbrauer: „Mein Gefühl war: Das wird immer nur als Sonntagsmalerei angesehen werden.“

Dass es anders kam, war tatsächlich noch nicht absehbar. Nach der Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft 1949 arbeitete Bierbrauer zunächst als Assistenzarzt an den Universitätskliniken Düsseldorf, wo er depressive Patienten mit Hypnose behandelte. Die damals gebräuchlichere Elektroschocktherapie lehnte er ab. Während der Behandlung ließ er sich von seinen Patienten ihre Visionen und Ängste derart exakt beschreiben, dass er diese bildhaft auf Papier festhalten konnte. Anders als bei üblicheren Therapiekonzepten, bei denen der Patient zum Malen aufgefordert und dadurch therapiert wird, brachte hier der Arzt die Schilderungen des Patienten künstlerisch zum Ausdruck. „Nach dem Erwachen interpretierten wir gemeinsam das entstandene Bild. Ich glaubte, dass eine gute Chance bestünde, auf dem Weg über das Hypnosebild den Seelenkern des Menschen besser zu verstehen“, sagt Bierbrauer.

Wie Zeitgenosse und Nachbar Joseph Beuys verstand sich der „Arzt-Künstler“ als Heiler einer kranken Gesellschaft, die zu der Zeit schwer an den Folgen des Zweiten Weltkrieges litt. Die so entstandenen meist 30 × 21 Zentimeter großen Aquarelle, wie der Fall des Patienten Sch. (Bild oben), sind ein wichtiger Bestandteil seines Œuvres. Bazon Brock: „Der therapeutische Impetus von Bierbrauer bestand darin, seine Patienten dazu zu bringen, dass sie das, was sie verkörpern, auch zeichenhaft repräsentieren können. Die Ergebnisse der Bilder, die daraufhin entstanden, sind letztlich so bedeutsam, weil sie künstlerisch-formal auf dem absolut höchsten Niveau ihrer Zeit stehen. Es gibt nichts Vergleichbares für die 50er Jahre.“

Auch für Bierbrauer selbst haben die Hypnosebilder große Bedeutung, denn sie öffneten seinen Blick für die Introspektion. Damit bilden sie die Grundlage für eine zweite wesentliche Werkgruppe, die ab Mitte der 60er Jahre – Bierbrauer ist inzwischen schon viele Jahre als Allgemeinmediziner in eigener Praxis tätig – entstand: die somnambulen Bilder. Auf dem unterschiedlichsten Material erkundet der Künstler die eigenen inneren Landschaften, setzt mittels meditativer Zustände seine Gefühlswelten in von allen Zwängen befreite Bildkompositionen um.

Dazu bedient er sich einer Formensprache, die neben Abstraktem auch auf die Tierdarstellungen, Fabelwesen, archaischen Figuren und Muster seiner Träume zurückgreift. Mit den somnambulen Bildern verabschiedet sich Bierbrauer frühzeitig von der naturalistischen Bildauffassung seiner Anfangsjahre. Und überwand damit auch die Unterscheidung zwischen Figuration und Abstraktion. Gleichwohl zeigen viele Werke dieser Serie gesichtsähnliche Formationen, surreale Gegenstände und textähnliche Fragmente mit Tagebuchcharakter. Für Bierbrauer sind es „innere Bilder, die mich dauernd bedrängen“.

Insbesondere die somnambulen Großformate, die der Maler ab Ende der 90er Jahre fertigt, stellen ihn auch in der praktischen Umsetzung vor riesige Herausforderungen. Seitdem er altersbedingt einen zunehmenden physischen Abbau in Kauf nehmen muss und im begrenzten Raum des Seniorenheims künstlerisch tätig ist, wird die Bearbeitung der teils 160 × 200 Zentimeter großen Leinwände immer schwieriger. Doch selbst heute noch – im Rollstuhl sitzend – gelingt ihm dies angesichts seiner Besessenheit, kreativ tätig zu sein, gelegentlich.

Zu Bierbrauers Œuvre gehören auch Porträts, Akte, Landschaften und die unter Einfluss der Anthroposophie entstandenen sogenannten Kosmologien. Als dritter Schlüssel zu seinem Werk dienen – neben den Hypnose- und somnambulen Bildern – allerdings eher die plastischen Arbeiten: Sie sind als eigenständige Fortsetzung der Gemälde anzusehen. Surrealistisch inspiriert, übertragen die Skulpturen Bierbrauers innere Bilder und Visionen in eine dreidimensionale Form: etwa das „Selbstporträt als Kranker“ (aus den 70er Jahren) oder „Der Elefantöse Tobsuchtsanfall” (Bild links) von 1997.

In Bildhauerei wie Malerei ist Bierbrauer, der zeitlebens zurückgezogen lebte, Autodidakt. Künstler wie Picasso oder Beuys beeindruckten ihn, aber die Einflüsse von außen blieben letztlich begrenzt: „Alles, was ich aus mir selbst heraus schuf, war für mich immer wieder Neuland – unglaubliche Erlebnisse, die mich in einer solchen Weise trugen, dass ich kein Bedürfnis nach Austausch hatte.“

Sabine Schuchart

* Adolf Bierbrauer am 30. Juli 1999 im Gespräch mit Martin Leyer-Pritzkow; publiziert in Martin Leyer-Pritzkow (Hrsg.), „Bierbrauer“, Düsseldorf 1999, Deutsch/Englisch, 224 Seiten mit 117 farbigen und 250 Schwarz-Weiß-Abbildungen

Lebensstationen

26. Juli 1915: Adolf Bierbrauer wird in Düsseldorf geboren.

1930/31: Erste Stillleben und figürliche Zeichnungen entstehen.

1934: Beginn des Medizinstudiums

Ab 1935: Intensive Auseinandersetzung mit dem anthroposophischen Gedankengut von Rudolf Steiner

1950: Tätigkeit als Assistenzarzt an den Universitätskliniken in Düsseldorf

Ab 1951: Eigene Praxis für Allgemeinmedizin. Hypnosebilder

1953: Hinwendung zu Landschaftsmalerei und Bildhauerei

Ab 1966: Somnambule Bilder

1973: Ende der Arzttätigkeit. Bierbrauer ist nur noch Maler und Pianist.

1998: Einzug in ein von ihm mitinitiiertes anthroposophisches Altenheim; 2006: Umzug in ein anderes Heim. Weiterhin rege Maltätigkeit

2000: Präsentation von Werk und Monografie im NRW-Forum in Düsseldorf

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