ArchivDeutsches Ärzteblatt PP7/2010Erinnerungskultur: Lernort Alt Rehse

THEMEN DER ZEIT

Erinnerungskultur: Lernort Alt Rehse

Jachertz, Norbert; Gerst, Thomas

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Idylle pur in der mecklenburgischen Seenlandschaft. Hier sollten die Ärzte in der NS-Zeit im Geiste der neuen Ideologie geformt werden. Ein Verein will die Erinnerung daran wachhalten, aber zugleich aktuelle medizinethische Fragen aufgreifen.

Der Gutshof von Alt Rehse: Hier soll nach umfassender Renovierung des Gebäudes ein Ort der Bildungsund Kulturarbeit entstehen. Foto: Ratschko
Der Gutshof von Alt Rehse: Hier soll nach umfassender Renovierung des Gebäudes ein Ort der Bildungsund Kulturarbeit entstehen. Foto: Ratschko

Zufallsfund auf einem Berliner Dachboden: ein 8-mm-Kleinbildfilm aus dem Jahr 1939. Der Blick fällt auf das Ortsschild von Alt Rehse in Mecklenburg, wo vor 75 Jahren am 1. Juni 1935 die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ feierlich eingeweiht wurde. Man sieht Männer mittleren Alters im Einheitssportdress bei der Putzaktion nach dem Aufstehen in der Frühe; später geht es in der gleichen Uniform zur Fortbildung. Ein reetgedecktes Haus brennt, dieser Vorfall ermöglicht die genaue Datierung des Schwarz-Weiß-Films – der Brand ereignete sich am 26. Juni 1939. Zu diesem Zeitpunkt fand in Alt Rehse ein Fortbildungslehrgang für „Altärzte und Apotheker“ statt.

Marschieren im Einheitstrainingsanzug, Antreten vor dem Schlafhaus zum Gruppenfoto, eine Hakenkreuzfahne flattert am Mast, beim Frühstück sitzen alle im Achselhemd, nur zwei Männer im normalen Hemd scheinen sich dem Dresscode zu verweigern. Mehr und mehr ereignet sich aber auch Vergnügliches – Badespaß im Tollensesee, ein Fußballspiel, Sonnenbad mit nacktem Oberkörper und gegenseitige Frotzeleien. Über die Inhalte der Fortbildung in Alt Rehse erfährt man in dem 17-minütigen Streifen nichts. Deutlich werde hier, so die Interpretation von Dr. Rainer Stommer, Projektleiter der „Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse“, die Entwicklung vom anfangs sehr formellen, rituellen Miteinander zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl. Dies war letztendlich auch Programm der „Führerschule“: Die teilnehmenden Ärzte sollten zu einer verschworenen Gemeinschaft im Dienste nationalsozialistischer Gesundheitspolitik geformt werden.

Alt Rehse liegt ländlich abgeschieden und idyllisch in die mecklenburgische Seen- und Hügellandschaft eingebettet in der Nähe von Neubrandenburg, mit Fachwerkhäusern im Stil niedersächsischer Bauernhäuser und einem landadeligen Schloss samt Park. An der „Führerschule“ wurde NS-Gesundheitspolitik einschließlich Rassenideologie vermittelt. 12 000 Heilberufler sollen an den Kursen teilgenommen haben, darunter 10 000 Ärzte. Eine beachtliche Zahl, gab es doch insgesamt lediglich 79 000 Ärzte im Reich.

„Selbstverständlich bekam man auch eine Uniform, für den Werktag einen schmucklosen Trainingsanzug, für Sonnund Feiertage einen braunen, mit weißer Paspelierung und silbernen Knöpfen mit entsprechendem Schiffchen, so daß man einem Liftboy zum Verwechseln ähnlich war.“ Fotos: Archiv
„Selbstverständlich bekam man auch eine Uniform, für den Werktag einen schmucklosen Trainingsanzug, für Sonnund Feiertage einen braunen, mit weißer Paspelierung und silbernen Knöpfen mit entsprechendem Schiffchen, so daß man einem Liftboy zum Verwechseln ähnlich war.“ Fotos: Archiv

Der „Verein für die Erinnerungs- Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse“ nahm die Eröffnung vor 75 Jahren zum Anlass, um an Ort und Stelle an die Mithilfe von Ärzten „bei der Ausgrenzung, Verfolgung und Tötung von Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, von Menschen mit Behinderungen sowie anderer politischer Auffassung“ während des Dritten Reiches zu erinnern. Der 2001 gegründete Verein will nicht nur an die mörderische NS-Gesundheitsideologie erinnern, sondern durch medizinethische Bildungsarbeit dazu beitragen, „dass so etwas nie wieder passiert“ – sagte der Vereinsvorsitzende, Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, Berlin, zum Auftakt einer Veranstaltung am 4. und 5. Juni 2010, bei der Forschungsergebnisse zu Alt Rehse und zur Medizin in der NS-Zeit vorgestellt wurden.

Unterstützung des Vereinsanliegens sicherte die Präsidentin des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern, Sylvia Bretschneider, zu. Bretschneider wies darauf hin, dass die NS-Vergangenheit von Alt Rehse erst seit Anfang der 1990er Jahre langsam aufgedeckt worden sei. In der DDR hatte die Nationale Volksarmee den verschwiegenen Ort als Refugium genutzt. Bretschneider, die sich aktiv mit rechtsextremen Kräften auseinandersetzt, warb in Alt Rehse für das Bündnis „Wir. Erfolg braucht Vielfalt“, das gegen die im Land verbreitete Fremdenfeindlichkeit gerichtet ist. Die SPD-Politikerin aus Neubrandenburg hält Aufklärung über die Folgen von Rassismus für vordringlich und zeigte sich in Alt Rehse besorgt über die Verharmlosung von Rechtsextremismus. So weise eine aktuelle Untersuchung der Universitäten Bielefeld und Greifswald nach, dass ein Großteil der Bevölkerung in Ostdeutschland die NPD für eine ganz normale Partei halte.

Feierliche Einweihung der neuen Turnhalle im Mai 1936 in Anwesenheit von Reichsärzteführer Gerhard Wagner.
Feierliche Einweihung der neuen Turnhalle im Mai 1936 in Anwesenheit von Reichsärzteführer Gerhard Wagner.

Tatsächlich haben die von Juni 2008 bis Mai 2010 vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld federführend durchgeführten Sozialraumanalysen in sieben ostdeutschen Orten sehr hohe Werte zu Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zutage gefördert. Spitzenwerte erreichte Anklam in Ostvorpommern; die Region gilt als Hochburg der NPD. In Anklam halten 37 Prozent der Bevölkerung die NPD für eine Partei wie jede andere. Das scheint daran zu liegen, dass die NPD bevorzugt lokale Besorgnisse aufgreift und damit Sympathien auf sich zieht. Der Projektleiter der Bielefelder Sozialraumanalysen, Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, sieht darin Methode, nämlich, „dass die Strategie des Kümmerns vor Ort die eigentlichen politischen Konzepte der Rechtsextremen in den Hintergrund treten lassen“. Die etablierten Parteien müssten „dringend ihre Alltagspräsenz erhöhen“, schlussfolgert Heitmeyer.

Auch die NS-Gesundheitspolitik griff zeitgemäße Anliegen auf und polte sie für die eigenen Zwecke um. Etwa wenn sie mit der „Neuen Deutschen Heilkunde“ einem verbreiteten Bedürfnis nach biologischem Denken, ganzheitlicher Behandlung und Gesundheitsführung des Patienten entgegenkam. Auf diesen Aspekt wies bei der Tagung die Medizinhistorikerin Dr. Marina Lienert, Dresden, hin. Sie zeichnete im Übrigen ein freundliches Bild der am Rudolf-Heß-Krankenhaus in Dresden praktizierten und auch an der „Führerschule“ vermittelten „Neuen Deutschen Heilkunde“ und ihrer ärztlichen Protagonisten.

Kann und darf das sein? Lienerts Referat sorgte jedenfalls am Rande der Tagung für einen bezeichnenden Disput mit zwei Kolleginnen. Darf man positive Seiten des NS-Staates, so es sie denn gab, benennen? Bekommt man dann nicht Beifall von der falschen Seite? Muss deshalb nicht stets das Menschenverachtende im Vordergrund stehen? Solchen Fragen geht eine „Ausstellungszeitung“ zu den in Mecklenburg-Vorpommern gelegenen Erinnerungsorten Alt Rehse („Gesundheit“), Prora (Massentourismus“) und Peenemünde („Waffentechnik“) nach. Die Schrift aus dem Jahr 2003 lag bei der Tagung in Alt Rehse aus. In ihr spricht sich der Hamburger Politologe Prof. Dr. Peter Reichel dafür aus, die beiden Bilder des NS-Staates – einerseits der Terror, andererseits die fürs Publikum attraktive Fassade – zusammenzufügen, um damit ein wirklichkeitsnahes Doppelgesicht des Dritten Reiches zu gewinnen. Eine heikle Gratwanderung.

Die Teilnehmer eines Jungärzte-Kurses rücken aus zum Straßenbau in Alt Rehse.
Die Teilnehmer eines Jungärzte-Kurses rücken aus zum Straßenbau in Alt Rehse.

Mit dem Doppelgesicht muss auch Alt Rehse klarkommen. Sven Flechner, der Bürgermeister von Penzlin, zu dessen Städtchen das Dorf heute gehört, spricht vom Ort der Mahnung und Aufklärung und hofft auf mehr Besucher in seiner strukturschwachen Gegend. Die regionalen Tourismuswerber preisen das Dorf schlicht wegen der reetgedeckten Fachwerkhäuser aus den 1930er Jahren – die als NS-Mustersiedlung errichtet wurden, nachdem man den alten Ortskern abgerissen hatte. Eine Vereinigung namens „Tollense Lebenspark“, in deren Händen sich das eigentliche Gelände der „Führerschule“, ein Häuserensemble im Schlosspark, derzeit befindet, offeriert alternativen Gesundheits- und Abenteuerurlaub. Die kassenärztliche Selbstverwaltung hatte das Gelände zunächst nach einem langwierigen Gerichtsverfahren vom Bundesverwaltungsgericht zugesprochen bekommen, schreckte aber vor der ungewissen finanziellen Belastung zurück und gab die Eigentumsrechte an den Bund zurück.

Der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit widmet sich neben einem Lokalhistoriker explizit eine Ausstellung des Erinnerungsvereins. Die ist im alten Gutshof am Rande des Schlossparks mit der „Führerschule“ untergebracht. Der Bau wurde 1862 im neugotischen Stil errichtet, 1939 mit einer neoklassizistischen Fassade an den Stil des Herrenhauses angeglichen; in den 1960er Jahren wurde die Fassade komplett verschandelt, die Dachkonstruktion ist irreparabel. Mit dem Gebäude hat der Verein „Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse“ Großes vor. Nach aufwendiger Restaurierung in der Gestalt von 1939 soll hier ein Ort der Bildungs- und Kulturarbeit mit Übernachtungsmöglichkeiten für Seminarteilnehmer entstehen. Die dafür benötigten circa vier Millionen Euro will man aus den verschiedensten Fördertöpfen bis Ende das Jahres beisammenhaben, so dass im Jahr 2011 zunächst mit der Grundsicherung begonnen werden kann. Dies sei ein idealer Ort für den Umgang mit medizinethischen Fragen, betonte Stommer und hofft, dass sich auch die ärztlichen Organisationen an der Finanzierung des Projekts beteiligen werden.

Norbert Jachertz, Thomas Gerst

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote