WISSENSCHAFT
Wildnistherapie: Hoffnung oder unverantwortliches Experiment?


Verhaltensauffällige Jugendliche sind zum Teil durch die etablierten Therapien nicht zu erreichen. Einen Ausweg bietet die Wildnistherapie, bei der Jugendliche in abgelegenen Gegenden durch ein Betreuerteam behandelt werden. Dieser therapeutische Ansatz ist allerdings umstritten.
Steven (16) rauchte und nahm Drogen, war aggressiv und hatte die Schule abgebrochen. Da er sich weigerte, Autoritäten anzuerkennen, kam es immer wieder zu heftigen Konflikten mit den Eltern und Lehrern. Wegen Einbrüchen und Körperverletzung war er bereits mehrfach vorbestraft. Er hatte an verschiedenen Therapien und Resozialisierungsmaßnahmen teilgenommen, allerdings ohne Erfolg. Er galt als hoffnungsloser Fall, dem wahrscheinlich eine kriminelle Karriere bevorstand. Seine Eltern aber gaben nicht auf und klammerten sich an den letzten Strohhalm, der sich ihnen noch bot: eine Wildnistherapie („wilderness therapy“). Darunter versteht man therapeutische Programme unterschiedlicher Couleur und Fundierung, die in der freien Natur durchgeführt werden und die Natur als heilsames Therapieelement nutzen; in Deutschland ist diese Therapieform unter anderem durch die RTL-Serie „Teenager außer Kontrolle – Letzter Ausweg Wilder Westen“ bekanntgeworden.
Die Trennung von ihrem Sohn, der sich nur unwillig auf die Therapie einließ, fiel den Eltern trotz aller Probleme schwer. Um wieder Zugang zu ihm zu finden, besuchten sie ihn regelmäßig im Basiscamp in Oregon, USA und nahmen dort an familientherapeutischen Sitzungen teil, obwohl sie mehrere Hundert Kilometer Anfahrt in Kauf nehmen mussten.
Wildnistherapie kann positive Veränderungen bewirken
Als Steven nach zwei Monaten nach Hause zurückkehrte, hatte er sich zum Positiven verändert: Er war rücksichtsvoller, umgänglicher und selbstständiger geworden. Zwar rauchte er noch immer, nahm aber keine Drogen mehr und wollte eine Ausbildung beginnen. Seinen Eltern erschienen diese Veränderungen fast wie ein Wunder. Wie lange Stevens „Verwandlung“ anhalten würde, konnte natürlich niemand sagen, aber der Versuch, ihm mit einer ungewöhnlichen Therapie zu helfen, hatte sich gelohnt.
Charakteristisch für „Patienten“ wie Steven sind externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, Devianz und Gewaltbereitschaft, Anpassungs-, Sucht- und familiäre Probleme, falsche Freunde, Schulversagen, mangelndes Selbstwertgefühl, Depressionen und ungünstige Zukunftsaussichten. Da bei ihnen herkömmliche Therapien in der Regel nicht anschlagen, gelten sie als extrem schwierige, therapieresistente Fälle. Vertreter von Wildnistherapien sind hingegen der Ansicht, dass es auch für diese Jugendlichen noch Hoffnung gibt. Allerdings müssten sie in einem anderen Rahmen angesprochen und behandelt werden als in üblichen Therapiezimmern. Diesen Rahmen bietet die Natur, genauer die „Wildnis“, wie etwa Wüsten, Gebirge oder ausgedehnte Wälder.
Während einer Wildnistherapie durchstreifen die Jugendlichen wochen- und monatelang abgelegene Gegenden mit einem Betreuerteam und übernachten in Zelten. Dabei werden ihnen unterschiedlicheHer- ausforderungen gestellt und Überlebenstechniken beigebracht. Sie sollen lernen, für sich selbst zu sorgen, Anordnungen zu folgen und sich in eine Gruppe einzugliedern. Sie sollen über ihr Verhalten und ihr bisherigen Leben nachdenken und sich über ihre Zukunft Gedanken machen. Sie werden angeregt, sich mit sich, den Therapeuten, den Gruppenmitgliedern und ihrer Familie auseinanderzusetzen und grundlegende Kompetenzen der Stressbewältigung, Kommunikation und Emotionsregulation einzuüben. Sie machen außergewöhnliche Erfahrungen und stoßen dabei oft an ihre Grenzen, die sie überwinden sollen. Auf diese Weise erwerben sie im Idealfall Verantwortungsgefühl, Selbstvertrauen und Respekt und sind nach der Therapie besser in der Lage, ihre Probleme in den Griff zu bekommen und die Herausforderungen des Lebens zu meistern.
Dass solche Ziele tatsächlich erreicht werden, zeigen Evaluationsstudien eines Zusammenschlusses amerikanischer Wildnistherapieanbieter namens Outdoor Behav- ioral Healthcare Industry Council (OBHIC). Nach Wildnistherapien ließen sich beispielsweise Verringerungen von Sucht- und oppositionellem Verhalten, Ess- und Zwangsstörungen, Suizidabsichten, Stress, Ängsten und Depressionen beobachten. Es handelt sich überwiegend um Teilerfolge, über deren Langzeitwirkung allerdings kaum etwas bekannt ist. Kritisch anzumerken ist, dass OBHIC bisher nur wenige ausgewählte Programme in die Evaluation einbezogen hat. Über die Wirksamkeit anderer OBHIC-Programme und von denen anderer Anbieter wird hingegen nichts berichtet. Ebenso liegen kaum Studien von unabhängigen Institutionen vor, so dass die Ergebnisse von OBHIC als selektiv und nichtrepräsentativ einzustufen sind.
OBHIC versucht, seriöse Anbieter von schwarzen Schafen zu trennen, indem es Qualitätsrichtlinien vorgibt und Programme und Veranstalter evaluiert. OBHIC zufolge handelt es sich bei qualitativ hochwertigen Wildnistherapien um verhaltenstherapeutische Ansätze, die gruppendynamische und naturbasierte Einflüsse nutzen, um Reflexionsprozesse und Verhaltensänderungen bei Patienten im Jugendalter anzustoßen. Sie haben eine nachweisbare therapeutische Wirkung und gelten als eine Behandlungsoption, die zusätzlich zu herkömmlichen Therapien angewendet werden kann. Zu einer Wildnistherapie nach den Standards der OBHIC gehören unter anderem ein professionelles Therapeutenteam, das für jeden Teilnehmer individuelle Behandlungspläne ausarbeitet, während des Aufenthalts in der Wildnis Einzel-, Gruppen- und Familientherapiesitzungen durchführt, für die Sicherheit und ärztliche Betreuung der Teilnehmer sorgt und anschließend eine ambulante Nachbetreuung organisiert. Unseriöse Anbieter setzen verstärkt auf militärischen Drill und Überlebenstraining und verzichten auf zugelassene Ärzte, Psychotherapeuten, Erlebnis- und Sozialpädagogen und auf die Nachsorge. Das hat in einigen Fällen bereits zu schweren Verletzungen und Unfällen mit Todesfolge geführt.
Bei unseriösen Anbietern ist die Betreuung oft mangelhaft
Die klinischen Psychologen David Scott und Lauren Duerson von der Clemson University berichten beispielsweise, dass ein Jugendlicher im August 2009 während einer anstrengenden Bergwanderung infolge von Überhitzung und Unterernährung zusammenbrach und starb. Darüber hinaus berichtete die Presse wiederholt über unbemerkte und unbehandelte Austrocknung, Überanstrengung, falsche Ernährung, körperliche Verletzungen, Vernachlässigung sowie über sexuellen und emotionalen Missbrauch der Teilnehmer. „Zu solchen Zwischenfällen kommt es, weil viele amerikanische Bundesstaaten die Programme nicht kontrollieren und lizenzieren“, meinen Scott und Duerson. Weitere Gründe sind unqualifiziertes Personal und schlechte Arbeitsbedingungen. Die Angestellten unseriöser Anbieter sind beispielsweise oft mit der Gruppengröße überfordert und können daher nicht auf den einzelnen Jugendlichen und seine Probleme eingehen. Sie sind teilweise jung und unerfahren, verletzen die Schweigepflicht, überschreiten zahlreiche Grenzen, etwa zwischen privat und beruflich, und werden nicht supervidiert. Sie bieten keine qualifizierte Psychotherapie an und binden die Familien nicht mit ein. Außerdem sind sie oft nicht genügend geschult, um Gefährdungen der Teilnehmer zu bemerken, leiden unter Erfolgsdruck, Erschöpfung und Schlafmangel und müssen in der Wildnis selbst zahlreiche körperliche und psychische Entbehrungen hinnehmen.
Scott und Duerson kritisieren darüber hinaus, dass sich nur wohlhabende Eltern Wildnistherapie leisten könnten, die oft hohe Ansprüche und die Vorstellung einer „Ruck-zuck-Therapie“ haben, die in kurzer Zeit mit drastischen Maßnahmen alle Probleme auf einen Schlag lösen soll. Sie halten es für fragwürdig, Jugendliche gegen ihren Willen zur Wildnistherapie zu zwingen, sie aus ihrem gewohnten Umfeld herauszureißen und von den Bezugspersonen zu trennen. Zudem bezweifeln sie, dass der Transfer der Lernerfahrungen in den Alltag funktioniert. Auch bemängeln sie, dass über den genauen Ablauf, die ethischen Richtlinien und die Therapiebedingungen seitens der Anbieter zu wenig informiert wird.
Im Jahr 2009 wurde ein Gesetzentwurf namens „Stop Child Abuse in Residential Programs for Teens Act“ erlassen, der unter anderem Standards für die Wildnistherapie festsetzt. Er verbietet jede Art von Missbrauch oder Vernachlässigung, ebenso Disziplinierungsmaßnahmen, die ethische Normen und die Würde des Menschen verletzen. Auch dürfen lebenswichtige Dinge wie Nahrung, Wasser, Kleidung, Behausung oder medizinische Versorgung nicht vorenthalten werden. Verpönt sind zudem Demütigungs- und Isolierungspraktiken; ein Handyverbot wird daher abgelehnt. Gefordert werden auch der Verzicht auf körperliche und psychische Gewalt, einwandfreie Führungszeugnisse und anerkannte Qualifikationen des Personals sowie spezielle Schulungen der Betreuer, um körperliche und psychische Überforderung rechtzeitig zu erkennen.
Trotz ihres teilweise fragwürdigen Rufs ist die Wildnistherapie im Kommen, nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. Das liegt an ihrem Neuigkeitswert und an der Erfahrung, dass die Natur eine positive Wirkung ausüben kann. Außerdem verbindet sich damit die Hoffnung, Zugang zu Jugendlichen zu finden, denen mit herkömmlichen Therapieprogrammen und -settings kaum geholfen werden kann. Mangels objektiver und unabhängiger Evaluationen nach wissenschaftlichen Maßstäben können sich Eltern, die sich Hilfe für ihre Kinder durch die Wildnistherapie erhoffen, zurzeit jedoch fast nur anhand von Werbematerial der Anbieter, Mund-zu-Mund-Propaganda und anekdotischen Berichten informieren. Diese Grundlage ist jedoch sehr dürftig und trägt kaum dazu bei, mögliche Wirkungen und Folgen von Wildnistherapie einzuschätzen. Daher ist es unerlässlich, dass die Wildnistherapie auch hierzulande von Gesetzgebern und Wissenschaftlern besser untersucht und evaluiert wird.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
Kontakt: David Scott, Clemson University, 304-E Tillman Hall, Clemson, SC 29634–0707 (USA), E-Mail: dscott2@clemson.edu