ArchivDeutsches Ärzteblatt31-32/2010Nachruf: Kein Hinweis auf die Rolle im Nationalsozialismus
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Sehr geehrter Herr Prof. Hoppe,

sehr geehrter Herr Prof. Vilmar,

der Nachruf auf Hans Joachim Sewering im Deutschen Ärzteblatt enthält keinen Hinweis auf die Rolle, die er als Arzt in der Zeit des Nationalsozialismus gespielt hat. Angesichts der Bemühungen der Bundesärztekammer, zu einer Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus beizutragen und den Opfern der nationalsozialistischen Medizinverbrechen gegenüber historische Verantwortung zu übernehmen, ist das Verschweigen der NS-Vergangenheit Sewerings schwer nachvollziehbar. Den Unterzeichnenden ist daher die folgende Ergänzung historischer Fakten wichtig.

Hans Joachim Sewering war, wie durch medizinhistorische Arbeiten seit langem belegt ist, Mitglied der SS seit 1933 und der NSDAP seit 1934. 1942 wurde er Assistenzarzt des Tuberkulosekrankenhauses in Schönbrunn bei Dachau und betreute zugleich die verbliebenen Pfleglinge der Associationsanstalt der Franziskanerinnen, in deren Gebäuden das Tuberkulosekrankenhaus eingerichtet worden war. Zwischen Juni 1943 und Februar 1945 tragen mindestens neun Einweisungen in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, deren zentrale Rolle für die „Euthanasie“-Morde in Oberbayern damals in weiten Kreisen bekannt war, seine Unterschrift. Fünf der verlegten Patienten und Patientinnen starben in Eglfing-Haar entweder in der Kinderfachabteilung oder aber im Rahmen der Hungereuthanasie, unter ihnen die 14-jährige Babette Fröwis, die nach Sewerings ärztlichem Zeugnis aufgrund ihrer Unruhe nicht mehr für Schönbrunn geeignet erschien. Anfang der 1990er Jahre versuchte Professor Sewering, die Verantwortung für diese Verlegung den Nonnen von Schönbrunn aufzubürden.

Unabhängig davon, wie man Sewerings Handlungsweise in Schönbrunn rechtlich oder moralisch bewertet, so ist es der Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen, der zu Beginn der 1990er Jahre, als Sewerings Verwicklung in die NS-„Euthanasie“ einer breiteren Öffentlichkeit bekanntwurde, unangemessen erscheinen musste. Für Sewering stand damals viel auf dem Spiel, nämlich seine Position als designierter Präsident des Weltärztebundes, auf die er aufgrund internationaler Proteste dann doch verzichten musste. Ein Wort des Bedauerns über das Geschehene wäre zu diesem Zeitpunkt nicht zuviel gewesen.

Aus diesem Grunde können die abschließenden Worte des Nachrufs, nämlich dass Hans Joachim Sewering sich um die Wahrung ethischer Normen ärztlichen Handelns verdient gemacht habe, doch nur eine beschränkte Geltung beanspruchen. Hierzu gehört unserer Auffassung nach auch die Übernahme historischer Verantwortung gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen und ihren Angehörigen durch die deutsche Ärzteschaft. In diesem Sinne kann die Unvollständigkeit des Nachrufs auf Professor Sewering als Rückschritt angesehen werden.

Die unterzeichnenden Ärztinnen und Ärzte, Medizinhistoriker/innen, Wissenschaftshistoriker/innen und Psychotherapeut/innen möchten Sie, sehr geehrter Herr Prof. Hoppe und sehr geehrter Herr Prof. Vilmar, bestärken, die historische Aufarbeitung der Medizinverbrechen und der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus und ihrer Nachwirkungen nach 1945 weiter zu fördern und voranzubringen. In diesem Sinne stehen wir Ihnen, ohne persönlich anklagen oder verurteilen zu wollen, aber doch um Offenlegung der historischen Fakten bemüht, vonseiten der professionellen Medizingeschichte gerne zur Verfügung.

PD Dr. med. Gerrit Hohendorf, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München, Klinikum rechts der Isar, Ismaninger Str. 22, 81675 München


Unterzeichner/innen:

Prof. Dr. phil. Gerhard Baader, Berlin

Prof. Dr. Vincent Barras, Institut universitaire d’histoire de la médicine et de la santé publique, Université de Lausanne

PD Dr. phil. Thomas Beddies, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin

Prof. Dr. Cornelius Borck, Herausgeber der Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck

PD Dr. med. Karl Heinz Brisch, Dr. von Haunersches Kinderspital Kinderklinik und Poliklinik, Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie, LMU München

PD Dr. Walter Bruchhausen, Medizinhistorisches Institut, Universität Bonn

Prof. Dr. med. Michael von Cranach, München

Prof. Dr. med. Wulf Dietrich, München, Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte

Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Hamburg

Dr. med. Johannes Donhauser, Niederschönenfeld

Dr. phil. Fritz Dross, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg

Dr. med. Hansjörg Ebell, München

Dr. phil. Annette Eberle, Historikerin, Dachau

Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Prof. em. Dr. phil. Dietrich von Engelhardt, Kommissarischer Direktor, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München

Dr. phil. Sabine Fahrenbach, Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Universität Leipzig

Prof. Dr. med. Heiner Fangerau, Vorsitzender des Fachverbandes Medizingeschichte, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm

PD Dr. phil. Ralf Forsbach, Siegburg

Prof. Dr. med. Andreas Frewer, MA, European Master of Bioethics, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg

cand. med. Eva Maria Fritschka, Moosburg

Prof. Dr. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Institut für Geschichte der Medizin, Universität Greifswald

Dr. phil. Andreas Fickers, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Associate Professor for Comparative Media History, University of Maastricht

Dr. phil. Alfred Fleßner, Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Prof. Dr. med. habil. Dr. phil. Werner E. Gerabek, Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg

Prof. Dr. med. Christoph Gradmann, Section for Medical Anthropology and Medical History, University of Oslo

Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach, Medizinhistorikerin, Stuttgart

PD Dr. phil. Ingo Harms, Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Gert Heidenreich, Schriftsteller, Hechendorf

Prof. Dr. med. Volker Hess, Institut für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Dr. phil. Annette Hinz-Wessels, Berlin

Dr. B. Höffken, Nürnberg

Dr. phil. Hans-Georg Hofer, Medizinhistorisches Institut, Universität Bonn

Dr. med. Marion Hulverscheidt, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin

Prof. Dr. Dr. Michael Hubenstorf, Institut für Geschichte der Medizin, Medizinische Universität Wien

Dr. med. Renate Jäckle, München

PD Dr. med. Irmela Jeremias, Dr. von Haunersches Kinderspital Kinderklinik und Poliklinik, LMU München

Prof. Dr. med. Axel Karenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln

Dr. Annemarie Kinzelbach, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg

Dr. med. Michael Kletter, München

Prof. Dr. med. Hans-Peter Kröner, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Universitätsklinikum Münster

Richard Kühl, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen

Dr. PH Joseph Kuhn, Dachau, DGSMP AG Geschichte der Sozialmedizin

Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg

Prof. Dr. rer. nat. Brigitte Lohff, Direktorin des Instituts für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Dr. Michael Martin, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm

Susanne Mehs, MA, Kiel

Dr. Gabriele Moser, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg

Dr. med. Thorsten Noack, Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Prof. Dr. rer. medic. Norbert W. Paul, MA, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Vizepräsident der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte

PD Dr. Cay-Rüdiger Prüll, MA, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Dr. med. Helmut Rießbeck, Schwabach

PD Dr. med. et lic. phil. Iris Ritzmann, Direktorin ad interim, Medizinhistorisches Institut und Museum Zürich

Philipp Rauh, MA, wiss. Mitarbeiter, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg

Prof. Dr. med. Volker Roelcke, MA, Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen

Dr. med. Maike Rotzoll, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

PD Dr. med. Thomas Rütten, Reader in History of Medicine, Newcastle University, UK

Mag. Melanie Ruff, Historikerin, Sammlungen der Medizinischen Universität Wien

Isabella Ruhland, Ärztin, München

Dr. med. K. Schäfer-Eckart, Medizinische Klinik 5, Klinikum Nürnberg

PD Dr. rer. medic. Sabine Schleiermacher, Institut für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Prof. Dr. phil. Ulf Schmidt, School of History, University of Kent

Prof. Dr. med. Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Prof. Dr. phil. Hans-Walter Schmuhl, Bielefeld

Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott, Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn

Prof. Dr. Eduard Seidler, Freiburg

Prof. Dr. med. Wolfgang Söllner, Chefarzt Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum Nürnberg

PD Dr. med. Dr. phil. Hubert Steinke, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Dr. phil. Sigrid Stöckel, MPH, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie, Medizinische Hochschule Hannover

Dr. med. Gisela Tascher, Heusweiler

Sascha Topp, MA, Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen

Dr. med. Ingrid Tsakmakides, Nürnberg

Dr. phil. Johannes Vossen, Kempen/Rheinland

Prof. Dr. Bettina Wahrig, Präsidentin der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte, Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, Technische Universität Braunschweig

Prof. Dr. med. Hannes Wandt, Medizinische Klinik 5, Klinikum Nürnberg Nord

Katharina Weikl, MA, Medizinhistorisches Institut der Universität Zürich

Dr. phil. Stefanie Westermann, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Aachen

Prof. Dr. med. Claudia Wiesemann, Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Göttingen

Dr. rer. biol. hum. Christine Wolters, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Dr. phil. Michael Wunder, Beratungszentrum Alsterdorf, Hamburg

Dr. phil. Jürgen Zarusky, Institut für Zeitgeschichte München


Referenzen:

Kater MH: The Sewering Scandal of 1993 and the German Medical Establishment, in: Berg M, Cocks G (eds): Medicine and Modernity. Public Health and Medical Care in the Nineteenth- and Twenthieth-Century Germany, Cambridge: Cambridge University Press 1997, pp. 213–234

Frewer A: History of Medicine and Ethics in Conflict. Research on National Socialism as a Moral Problem, in: Schmidt U, Frewer A (eds.): History and Theory of Human Experimentation. The Declaration of Helsinki and Modern Medical Ethics, Steiner, Stuttgart 2007, pp. 255–282

Hohendorf G: The Sewering Affair, in: Korot – The Israeli Journal of the History of Medicine and Science 19 (2008/2009), pp. 83–104

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