BRIEFE
Nachruf: Kein Hinweis auf die Rolle im Nationalsozialismus


Sehr geehrter Herr Prof. Hoppe,
sehr geehrter Herr Prof. Vilmar,
der Nachruf auf Hans Joachim Sewering im Deutschen Ärzteblatt enthält keinen Hinweis auf die Rolle, die er als Arzt in der Zeit des Nationalsozialismus gespielt hat. Angesichts der Bemühungen der Bundesärztekammer, zu einer Aufarbeitung der Medizin im Nationalsozialismus beizutragen und den Opfern der nationalsozialistischen Medizinverbrechen gegenüber historische Verantwortung zu übernehmen, ist das Verschweigen der NS-Vergangenheit Sewerings schwer nachvollziehbar. Den Unterzeichnenden ist daher die folgende Ergänzung historischer Fakten wichtig.
Hans Joachim Sewering war, wie durch medizinhistorische Arbeiten seit langem belegt ist, Mitglied der SS seit 1933 und der NSDAP seit 1934. 1942 wurde er Assistenzarzt des Tuberkulosekrankenhauses in Schönbrunn bei Dachau und betreute zugleich die verbliebenen Pfleglinge der Associationsanstalt der Franziskanerinnen, in deren Gebäuden das Tuberkulosekrankenhaus eingerichtet worden war. Zwischen Juni 1943 und Februar 1945 tragen mindestens neun Einweisungen in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, deren zentrale Rolle für die „Euthanasie“-Morde in Oberbayern damals in weiten Kreisen bekannt war, seine Unterschrift. Fünf der verlegten Patienten und Patientinnen starben in Eglfing-Haar entweder in der Kinderfachabteilung oder aber im Rahmen der Hungereuthanasie, unter ihnen die 14-jährige Babette Fröwis, die nach Sewerings ärztlichem Zeugnis aufgrund ihrer Unruhe nicht mehr für Schönbrunn geeignet erschien. Anfang der 1990er Jahre versuchte Professor Sewering, die Verantwortung für diese Verlegung den Nonnen von Schönbrunn aufzubürden.
Unabhängig davon, wie man Sewerings Handlungsweise in Schönbrunn rechtlich oder moralisch bewertet, so ist es der Umgang mit den Opfern und ihren Angehörigen, der zu Beginn der 1990er Jahre, als Sewerings Verwicklung in die NS-„Euthanasie“ einer breiteren Öffentlichkeit bekanntwurde, unangemessen erscheinen musste. Für Sewering stand damals viel auf dem Spiel, nämlich seine Position als designierter Präsident des Weltärztebundes, auf die er aufgrund internationaler Proteste dann doch verzichten musste. Ein Wort des Bedauerns über das Geschehene wäre zu diesem Zeitpunkt nicht zuviel gewesen.
Aus diesem Grunde können die abschließenden Worte des Nachrufs, nämlich dass Hans Joachim Sewering sich um die Wahrung ethischer Normen ärztlichen Handelns verdient gemacht habe, doch nur eine beschränkte Geltung beanspruchen. Hierzu gehört unserer Auffassung nach auch die Übernahme historischer Verantwortung gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen und ihren Angehörigen durch die deutsche Ärzteschaft. In diesem Sinne kann die Unvollständigkeit des Nachrufs auf Professor Sewering als Rückschritt angesehen werden.
Die unterzeichnenden Ärztinnen und Ärzte, Medizinhistoriker/innen, Wissenschaftshistoriker/innen und Psychotherapeut/innen möchten Sie, sehr geehrter Herr Prof. Hoppe und sehr geehrter Herr Prof. Vilmar, bestärken, die historische Aufarbeitung der Medizinverbrechen und der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus und ihrer Nachwirkungen nach 1945 weiter zu fördern und voranzubringen. In diesem Sinne stehen wir Ihnen, ohne persönlich anklagen oder verurteilen zu wollen, aber doch um Offenlegung der historischen Fakten bemüht, vonseiten der professionellen Medizingeschichte gerne zur Verfügung.
PD Dr. med. Gerrit Hohendorf, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München, Klinikum rechts der Isar, Ismaninger Str. 22, 81675 München
Unterzeichner/innen:
Prof. Dr. phil. Gerhard Baader, Berlin
Prof. Dr. Vincent Barras, Institut universitaire d’histoire de la médicine et de la santé publique, Université de Lausanne
PD Dr. phil. Thomas Beddies, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Cornelius Borck, Herausgeber der Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck
PD Dr. med. Karl Heinz Brisch, Dr. von Haunersches Kinderspital Kinderklinik und Poliklinik, Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie, LMU München
PD Dr. Walter Bruchhausen, Medizinhistorisches Institut, Universität Bonn
Prof. Dr. med. Michael von Cranach, München
Prof. Dr. med. Wulf Dietrich, München, Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Hamburg
Dr. med. Johannes Donhauser, Niederschönenfeld
Dr. phil. Fritz Dross, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. med. Hansjörg Ebell, München
Dr. phil. Annette Eberle, Historikerin, Dachau
Prof. Dr. med. Wolfgang U. Eckart, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Prof. em. Dr. phil. Dietrich von Engelhardt, Kommissarischer Direktor, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Technische Universität München
Dr. phil. Sabine Fahrenbach, Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Universität Leipzig
Prof. Dr. med. Heiner Fangerau, Vorsitzender des Fachverbandes Medizingeschichte, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm
PD Dr. phil. Ralf Forsbach, Siegburg
Prof. Dr. med. Andreas Frewer, MA, European Master of Bioethics, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg
cand. med. Eva Maria Fritschka, Moosburg
Prof. Dr. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Institut für Geschichte der Medizin, Universität Greifswald
Dr. phil. Andreas Fickers, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Associate Professor for Comparative Media History, University of Maastricht
Dr. phil. Alfred Fleßner, Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Prof. Dr. med. habil. Dr. phil. Werner E. Gerabek, Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg
Prof. Dr. med. Christoph Gradmann, Section for Medical Anthropology and Medical History, University of Oslo
Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach, Medizinhistorikerin, Stuttgart
PD Dr. phil. Ingo Harms, Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Gert Heidenreich, Schriftsteller, Hechendorf
Prof. Dr. med. Volker Hess, Institut für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Dr. phil. Annette Hinz-Wessels, Berlin
Dr. B. Höffken, Nürnberg
Dr. phil. Hans-Georg Hofer, Medizinhistorisches Institut, Universität Bonn
Dr. med. Marion Hulverscheidt, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Dr. Michael Hubenstorf, Institut für Geschichte der Medizin, Medizinische Universität Wien
Dr. med. Renate Jäckle, München
PD Dr. med. Irmela Jeremias, Dr. von Haunersches Kinderspital Kinderklinik und Poliklinik, LMU München
Prof. Dr. med. Axel Karenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln
Dr. Annemarie Kinzelbach, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. med. Michael Kletter, München
Prof. Dr. med. Hans-Peter Kröner, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Universitätsklinikum Münster
Richard Kühl, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen
Dr. PH Joseph Kuhn, Dachau, DGSMP AG Geschichte der Sozialmedizin
Prof. Dr. med. Karl-Heinz Leven, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. rer. nat. Brigitte Lohff, Direktorin des Instituts für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover
Dr. Michael Martin, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm
Susanne Mehs, MA, Kiel
Dr. Gabriele Moser, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg
Dr. med. Thorsten Noack, Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Prof. Dr. rer. medic. Norbert W. Paul, MA, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Vizepräsident der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte
PD Dr. Cay-Rüdiger Prüll, MA, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Dr. med. Helmut Rießbeck, Schwabach
PD Dr. med. et lic. phil. Iris Ritzmann, Direktorin ad interim, Medizinhistorisches Institut und Museum Zürich
Philipp Rauh, MA, wiss. Mitarbeiter, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg
Prof. Dr. med. Volker Roelcke, MA, Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen
Dr. med. Maike Rotzoll, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
PD Dr. med. Thomas Rütten, Reader in History of Medicine, Newcastle University, UK
Mag. Melanie Ruff, Historikerin, Sammlungen der Medizinischen Universität Wien
Isabella Ruhland, Ärztin, München
Dr. med. K. Schäfer-Eckart, Medizinische Klinik 5, Klinikum Nürnberg
PD Dr. rer. medic. Sabine Schleiermacher, Institut für Geschichte der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. phil. Ulf Schmidt, School of History, University of Kent
Prof. Dr. med. Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Prof. Dr. phil. Hans-Walter Schmuhl, Bielefeld
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott, Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn
Prof. Dr. Eduard Seidler, Freiburg
Prof. Dr. med. Wolfgang Söllner, Chefarzt Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum Nürnberg
PD Dr. med. Dr. phil. Hubert Steinke, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern
Dr. phil. Sigrid Stöckel, MPH, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie, Medizinische Hochschule Hannover
Dr. med. Gisela Tascher, Heusweiler
Sascha Topp, MA, Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen
Dr. med. Ingrid Tsakmakides, Nürnberg
Dr. phil. Johannes Vossen, Kempen/Rheinland
Prof. Dr. Bettina Wahrig, Präsidentin der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte, Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, Technische Universität Braunschweig
Prof. Dr. med. Hannes Wandt, Medizinische Klinik 5, Klinikum Nürnberg Nord
Katharina Weikl, MA, Medizinhistorisches Institut der Universität Zürich
Dr. phil. Stefanie Westermann, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Aachen
Prof. Dr. med. Claudia Wiesemann, Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Göttingen
Dr. rer. biol. hum. Christine Wolters, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover
Dr. phil. Michael Wunder, Beratungszentrum Alsterdorf, Hamburg
Dr. phil. Jürgen Zarusky, Institut für Zeitgeschichte München
Referenzen:
Kater MH: The Sewering Scandal of 1993 and the German Medical Establishment, in: Berg M, Cocks G (eds): Medicine and Modernity. Public Health and Medical Care in the Nineteenth- and Twenthieth-Century Germany, Cambridge: Cambridge University Press 1997, pp. 213–234
Frewer A: History of Medicine and Ethics in Conflict. Research on National Socialism as a Moral Problem, in: Schmidt U, Frewer A (eds.): History and Theory of Human Experimentation. The Declaration of Helsinki and Modern Medical Ethics, Steiner, Stuttgart 2007, pp. 255–282
Hohendorf G: The Sewering Affair, in: Korot – The Israeli Journal of the History of Medicine and Science 19 (2008/2009), pp. 83–104