THEMEN DER ZEIT
Berufliche Überbelastung: Sind gestresste Ärzte die depressiven Patienten von morgen?


Eine Befragung zeigt, dass die Gesundheit vieler Ärzte durch beruflichen Stress gefährdet ist. Eine Lösung kann nur langfristig und durch tiefgreifende gesellschaftliche Umstrukturierungen gefunden werden.
Die Ergebnisse einer aktuellen Studie (1) belegen den hohen beruflichen Stress vieler Ärzte und dessen Risikopotenzial für die Gesundheit. In einer Befragung von 1 287 Ärzten berichten Mediziner, die unter Dauerstress stehen, von deutlich stärkeren Gesundheitsbeschwerden als der Durchschnitt der Ärzte.
„Die Arbeit hat sich verdichtet“, erklärt Dr. Karlheinz Nienhaus (60), leitender Oberarzt einer Universitätsklinik. „Die Erfordernisse übersteigen die Bestimmungen nach dem Arbeitszeitgesetz. Dadurch entsteht ein enormer Arbeitsdruck.“ Darüber hinaus habe der bürokratische Aufwand stark zugenommen. Dies gehe von der Zeit für die Patientenversorgung ab, was sich auch in der Qualität der Versorgung niederschlage.
Weitere Untersuchungen zeigen, dass sich die gesundheitlichen Beschwerden gestresster Ärzte kaum von denen klinisch behandelter depressiver Patienten unterscheiden. Jeder siebte Arzt wies dabei für mehr als zwei Drittel der Belastungsmerkmale eines Burn-out-Screenings (2) höhere Werte auf als depressive Patienten.
Depressivität schlägt sich nieder in einer Schwächung der affektiven Schwingungsfähigkeit: Die emotionale und die soziale Kompetenz sind reduziert. Die Depressivität führt zu einer eingeschränkten mentalen Flexibilität und vermindert die Sensibilität und Empathiefähigkeit für die Patienten, wodurch das ärztliches Handeln stark beeinträchtigt wird.
Dies bekräftigte Nienhaus: „Es bleibt immer weniger Zeit für Austausch und Kommunikation unter Ärzten, Pflegekräften und Patienten. Dadurch hat sich über die Jahre ein anderer Kommunikationsstil entwickelt, der an sozialer und emotionaler Kompetenz verloren hat.“
Dauerstress vermeiden
Die Studie zeigt, dass auf den Ebenen von Körper, Kognition und Emotion (siehe Grafik) kaum Unterschiede zwischen den Beschwerdenwerten hochgestresster Ärzte und depressiver Patienten zu finden sind. Da die Teilnahme an der Befragung freiwillig war, sind Selektionseffekte bei der Stichprobe nicht auszuschließen. Trotzdem wird deutlich: Dauerstress wirkt sich negativ auf die psychophysische Gesundheit aus. Lange Arbeitstage verursachen für viele Ärzte hohen Stress. Der Gesundheitsschutz für Ärzte verlangt daher dringend ein Umdenken und Umstrukturieren im Arbeitsalltag.
Dem stimmt auch Nienhaus zu, der zu bedenken gibt: „Nötig wäre ein Zurückrudern in puncto Arbeitsquantität und -dichte sowie eine Fokussierung auf die primär ärztlichen Aufgaben.“ Die grundlegenden Strukturen des Lernens – gerade für Berufsanfänger – müssten sich ändern. Dabei sei es wichtig, den Transfer zwischen Theorie und praktischem Berufsfeld frühzeitig herzustellen und somit auch die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung zu bahnen. „Dazu reicht eine Anordnung allein oder eine neue gesetzliche Bestimmung nicht aus“, betont Nienhaus. „Der Kern des Problems liegt tiefer in der Gesellschaft verwurzelt und betrifft nicht nur den Arztberuf.“
Dr. rer. nat. Katja Geuenich
Kiehn-Müller, Ute
Freudenberg, Michael
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