ArchivDeutsches Ärzteblatt34-35/2010Versorgung von Menschen ohne Papiere: „Den Letzten beißen die Hunde“

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Versorgung von Menschen ohne Papiere: „Den Letzten beißen die Hunde“

Huschke, Susann

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Ungeachtet der rechtlichen Vorschriften hängt es entscheidend vom Krankenhauspersonal ab, ob sogenannte Illegale angemessen medizinisch versorgt werden.

Foto: iStockphoto
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Clarissa Mendoza ist Chilenin und lebt illegal in Berlin. An einem Donnerstagnachmittag im Winter 2007 ist sie auf der Suche nach einem Arzt für ihren damals knapp dreijährigen Sohn Tony, der starken Husten und Fieber hat und erbrechen muss. Zuerst versuchen sie es bei der Caritas-Ambulanz am Bahnhof Zoo, die aber schon geschlossen ist. Also sucht sie die Notaufnahme eines großen Berliner Krankenhauses auf. Am Empfang wird sie nach ihrer Versichertenkarte gefragt, die sie nicht vorweisen kann. Denn Migranten ohne gültige Papiere sind in Deutschland von der Krankenversicherung ausgeschlossen. Die Mitarbeiterin an der Anmeldung fordert sie auf, 200 Euro in bar zu begleichen, damit das Kind behandelt werden kann. 200 Euro – die hat Clarissa nicht. Sie verlassen das Krankenhaus, ohne dass ein Arzt Tony untersucht hat.

Das Beispiel illustriert eine Praxis, die in Interviews* mit Krankenhausangestellten bestätigt wird. Von Patienten ohne Versicherung, die also als Selbstzahler in die Notaufnahme kommen, verlangen einige Krankenhäuser eine „Anzahlung“ zwischen 50 und 200 Euro in bar, um zu verhindern, dass das Krankenhaus auf allen Kosten sitzenbleibt, wenn die Patienten nach der Behandlung wieder untertauchen, ohne eine gültige Adresse hinterlassen zu haben. Aber was geschieht, wenn Patienten wie Clarissa Mendoza die erforderliche Summe nicht aufbringen können?

Angst vor Abschiebung

Eine Pflegedienstleiterin und ein Pfleger eines anderen Krankenhauses erklären die dort gängige Praxis: Man verlange nach dem Reisepass, um eine Kopie anfertigen zu können, und fordere die Patienten auf, jemanden anzurufen, um das Geld zu organisieren. Man orientiere sich auch „am äußeren Erscheinungsbild“, ob derjenige den Eindruck erwecke, über Geldmittel zu verfügen. Außerdem, so die Pflegedienstleiterin, achte man auch darauf, wie „offensichtlich“ jemand eine Behandlung benötige.

Patienten ohne Versicherung werden unter Umständen bereits am Aufnahmetresen „abgeschreckt“. Insbesondere bei Migranten ohne Aufenthaltsstatus – ständig in Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden – kann diese Praxis schnell dazu führen, dass die Patienten es vorziehen zu gehen, in der Hoffnung, anderswo Hilfe zu finden, oder „von alleine“ wieder gesund zu werden.

Was wäre gewesen, wenn der Husten des dreijährigen Tony durch eine Lungenentzündung verursacht worden wäre? Konnte man schon an der Anmeldung davon ausgehen, dass es sich hier „nur“ um eine Bronchitis handelte, die am nächsten Tag in der Caritas-Ambulanz kostenfrei mit Antibiotika behandelt werden könnte?

Die Studie belegt, dass es entscheidend von den Beteiligten (Pflegern, Krankenschwestern, Ärzten, Sozialarbeitern und Verwaltungsangestellten) abhängt, wie undokumentierte Migranten in Berliner Krankenhäusern versorgt werden. So bestätigt ein Mitarbeiter des Patientenmanagements, es komme auf den Arzt an, ob ein undokumentierter Migrant auf eine Station aufgenommen und wie umfangreich er dort versorgt werde. „Wenn jemand lange draußen [im Ausland] gewesen ist, dann hat der Verständnis.“ – Wenn nicht, dann vielleicht nicht.

Auch die Kenntnisse über die rechtliche Situation von undokumentierten Migranten und über Finanzierungsmöglichkeiten für Behandlungen sind unterschiedlich. Während in manchen Krankenhäusern – vor allem in konfessionellen – das Personal bestens über Probleme und Möglichkeiten im Umgang mit undokumentierten Migranten Bescheid weiß, herrscht anderswo nicht nur bei Ärzten, sondern auch beim Verwaltungspersonal eher Unwissenheit, Unsicherheit und Unklarheit.

Das Schwarzer-Peter-Spiel

Eine Verwaltungsangestellte in einem Krankenhaus mit sehr hohem Migrantenanteil unter den Patienten fragte beispielsweise während des Interviews relativ ratlos die anwesende Sozialarbeiterin: „Ja, an wen wenden wir uns denn und sagen, wir haben hier einen Asylanten?!“ In einem anderen Krankenhaus erklärte eine Sozialarbeiterin, sie wisse nicht genau, wie das mit der drohenden Abschiebung sei, wenn eine Kostenübernahme beim Sozialamt beantragt werde. Ihre Kollegin sinnierte wenig später: „Ja, Abschiebung, darüber habe ich noch nie nachgedacht.“

Ob und wie ein undokumentierter Migrant behandelt wird, hängt also weniger davon ab, ob er ein Recht auf Versorgung hat, sondern eher davon, welche Einstellungen und welchen Kenntnisstand die beteiligten Angestellten haben – das macht den Gang ins Krankenhaus aus der Sicht der Migranten zu einer Art russischen Roulettes.

Bei Erkrankungen, die nicht akut lebensbedrohlich, aber dennoch behandlungsbedürftig sind, kann es vorkommen, dass Patienten ohne Krankenversicherung gar nicht erst stationär aufgenommen werden oder aber vorzeitig und ohne die notwendige medizinische Behandlung, Medikation oder Nachsorge entlassen werden. In einem Berliner Bezirk mit hohem Migrantenanteil beklagte sich der Oberarzt einer Notaufnahme: „In anderen Krankenhäusern lehnen die solche Patienten direkt ab, und wir machen dann hier im Prinzip eine kostenfreie Behandlung, weil der Staat sich nicht zuständig fühlt.“ Das bestätigen Angestellte anderer Krankenhäuser. Die finanzielle Last, die die Behandlung von Nichtversicherten mit sich bringen kann, ist mithin sehr ungleich verteilt, oder wie der Chefarzt in einem kommunalen Krankenhaus es formulierte: „Den Letzten beißen die Hunde“.

Bei den Erkrankungen, die wie ein Schwarzer Peter von hierhin nach dorthin verschoben werden, handelt es sich vor allem um chronische und/oder sehr teure Erkrankungen. Klassische Fälle sind beispielsweise Hüftgelenkersatz und Leistenhernien – nach dem Motto: „Das muss gemacht werden, aber nicht bei uns.“

Medizin gegen Verwaltung

In einer großen Berliner Klinik erklärte ein Oberarzt in der Notaufnahme: Wenn jemand keine Krankenversicherung habe, müsse eben geprüft werden, ob der Patient in den nächsten Stunden mit akuten und ernsthaften gesundheitlichen Probleme zu rechnen habe – und wenn nicht, „dann geht der“. Eine Sozialarbeiterin in einem kommunalen Berliner Krankenhaus berichtete von einem Fall, der dieser Praxis entspricht: Bei einem Libanesen ohne sicheren Aufenthaltsstatus hätte eine Herz-OP durchgeführt werden müssen. Die zuständige Station lehnte die nichtfinanzierte Operation ab, der Patient wurde entlassen. Was aus ihm geworden sei, wisse sie nicht.

Die größte Angst undokumentierter Migranten ist es, noch im Krankenhaus von der Polizei abgeholt und in Abschiebehaft genommen zu werden. In den allermeisten Fällen trifft dieses Worst-Case-Szenario nicht zu. Aber in Einzelfällen ruft die Krankenhausverwaltung die Polizei, wenn die Identität eines Patienten nicht festgestellt werden kann – weil dieser sich beispielsweise aus Angst vor einer Weitergabe seiner Daten weigert, seinen Reisepass vorzulegen, sich also „unkooperativ“ verhält, wie es ein Mitarbeiter des Patientenmanagements eines großen Berliner Krankenhauses formulierte.

In einem relativ kleinen „Kiez-krankenhaus“ berichtete ein Pfleger, dass die Verwaltung die Angestellten in der Rettungsstelle aufgefordert habe, die Polizei zu rufen, wenn ein Patient die Herausgabe seiner Ausweisdokumente verweigere. Dagegen wehren sich die Pfleger, Schwestern und Ärzte der Rettungsstelle allerdings, indem sie der Aufforderung schlicht nicht nachkommen. Das verdeutlicht den Interessenkonflikt zwischen medizinischem Personal, für das die Versorgung der Patienten Priorität hat, und der Verwaltung, die für die Wirtschaftlichkeit des Krankenhauses zuständig ist.

Mit der neuen Verwaltungsvorschrift zum Umgang mit Patienten ohne gültige Papiere (siehe Kasten) hat die Bundesregierung ein Stück weit den politischen Handlungsbedarf anerkannt. Ob und wie sich dadurch der Interessenkonflikt zwischen Medizin und Verwaltung oder die Ungleichverteilung der „Versorgungslast“ auf die Berliner Krankenhäuser entschärfen lässt, bleibt abzuwarten.

Nach wie vor ist ungeklärt, inwieweit diese neue Regelung tatsächlich allen Sozialämtern und Krankenhausverwaltungen bekannt ist. Wie die Interviews zeigen, ist nicht einmal die bisherige Regelung nach § 87 Aufenthaltsgesetz allen geläufig. Dazu kommt, dass die Krankenhäuser nach wie vor verpflichtet sind, die materielle Bedürftigkeit der Patienten nachzuweisen, damit das Sozialamt die Kosten für eine Notfallbehandlung übernimmt – wie das vonstatten gehen soll und welche Nachweise erbracht werden müssen (Kontoauszüge oder Einkommensnachweise können undokumentierte Migranten nicht vorlegen), bleibt Verhandlungssache zwischen Verwaltung und Sozialamt.

Ausgenommen von der neuen Verwaltungsvorschrift bleiben außerdem alle Behandlungen, die nicht als Notfall einzustufen sind. In diesen Fällen müsste der Patient die Kostenübernahme vor der Behandlung selbst beim Sozialamt beantragen – dadurch wiederum würde er seine Daten direkt (und nicht über eine schweigepflichtige Person) übermitteln, so dass das Sozialamt nach § 87 Aufenthaltsgesetz meldepflichtig bleibt. Es steht also an, weiterhin für eine bessere Versorgung von undokumentierten Migranten zu streiten.

Susann Huschke

*Alle Daten und Zitate stammen aus Interviews und informellen Gesprächen, die die Autorin im Rahmen ihrer Promotion im Fach Ethnologie zwischen Mai 2008 und September 2009 mit undokumentierten Migranten aus Lateinamerika sowie mit Ärzten und Krankenhauspersonal in Berlin geführt hat.

So steht es im Gesetz

Die alte Regelung

Auch undokumentierten Migranten steht eine medizinische Versorgung auf der Basis des Asylbewerberleistungsgesetzes zu. Allerdings wurde dieses Recht bisher durch den § 87 des Aufenthaltsgesetzes konterkariert. Danach waren öffentliche Stellen verpflichtet, Migranten, die sich illegal in Deutschland aufhalten, an die Ausländerbehörde zu melden (was in den meisten Fällen eine Abschiebung nach sich zog). Als öffentliche Stellen galten beispielsweise die Verwaltungen von öffentlichen Krankenhäusern und die Sozialämter.

Wenn also eine Krankenhausverwaltung die Kosten für die Notfallbehandlung eines undokumentierten Migranten beim Sozialamt geltend machen wollte, führte dies unter Umständen zu einer Denunziation des Patienten. Dies wiederum veranlasste viele Patienten aus Angst vor Entdeckung, die nötigen Daten (Name, Adresse, Geburtsdatum und Passkopie) zurückzuhalten, so dass eine Kostenübernahme durch das Sozialamt unmöglich war und die Kosten vom Krankenhaus selbst übernommen werden mussten.

Die neue Regelung

Die im September 2009 vom Bundesrat verabschiedete neue Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (Drucksache 669/09) legt fest, dass Angestellte von Krankenhausverwaltungen als berufsmäßige Gehilfen von Ärzten gelten und somit auch unter die Schweigepflicht fallen. Übermitteln diese nun für die Abrechnung Daten über undokumentierte Migranten an das Sozialamt, verlängert sich der Geheimnisschutz bis in das Sozialamt hinein und das Amt darf diese Daten nicht mehr an die Ausländerbehörde weiterleiten.

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