MEDIZIN: Editorial
Diagnostik und Differenzialdiagnose von Demenzerkrankungen
The Investigation and Differential Diagnosis of Dementias


Aufgrund der demografischen Entwicklung nehmen altersassoziierte Erkrankungen stetig zu. Dies gilt insbesondere für die Demenzerkrankungen. Im Kontrast zu den großen Fortschritten bei der Aufklärung von Ätiologie und Pathogenese von Demenzerkrankungen gibt es in der klinischen Diagnostik immer noch erhebliche Schwierigkeiten. Die klassische Diagnostik von Demenzerkrankungen sollte in zwei aufeinanderfolgenden Stufen ablaufen: Zunächst wird das Demenzsyndrom gesichert, dann erfolgt die nosologische Zuordnung (1). Verschiedenen Problemen dieser beiden Stufen widmen sich die beiden folgenden Artikel von Eschweiler et al. (2) und von Mollenhauer et al. (3).
Früherkennung durch Diagnostik
Die ICD-10-Kriterien für ein Demenzsyndrom sind ausschließlich klinisch und fordern alltagsrelevante Einschränkungen bei Gedächtnis- und anderen kognitiven Leistungen sowie Defizite der Affektkontrolle, des Antriebs oder des Sozialverhaltens. Es handelt sich demnach um ein klassisches psychiatrisches Syndrom, dem mit den Methoden der psychiatrischen Befunderhebung beizukommen ist. Klassische Screening- und Testinstrumente (zum Beispiel Mini-Mental-Status-Test, Uhrentest, CERAD-Skalen) stehen seit langem für die Unterstützung der Kliniker zur Verfügung (4). Die zahlreichen neuen Vorschläge wie DemTect, TFDD, Mikro-Mental-Test, Mini-Cog sind lediglich durch Reduzierung und Variation der Unterdomänen aus den klassischen Tests entstanden. Dies führte zu keiner Verbesserung der diagnostischen Sicherheit, wie die nahezu identischen Kennwerte der Spezifität und Sensitivität zeigen, die im klinischen Alltag bei allen Verfahren jeweils um 80 Prozent liegen. Innovative neuropsychologische Testverfahren, die neu zu definierende kognitive Domänen untersuchen, sind denkbar, jedoch nicht in Sicht.
Die Entwicklung der Demenzdiagnostik nimmt in den letzten Jahren einen strategisch grundsätzlich anderen Weg, der sich aus dem Interesse an den Vor- und Frühformen der Demenzerkrankungen, den leichten kognitiven Störungen (Mild Cognitive Impairment, MCI), ergibt. Weniger das klinische Demenzsyndrom selbst, sondern die neurobiologischen und -physiologischen Veränderungen der zugrundeliegenden Demenzerkrankungen werden als biologische Marker erhoben. Hiervon verspricht man sich vor allem drei Vorteile: Im Idealfall sind solche Marker untersucherunabhängig und damit objektiv; Veränderungen können gegebenenfalls wesentlich früher festgestellt werden; die nosologische Zuordnung wird erleichtert. Die Gefahr dieses Vorgehens liegt jedoch gerade in der Umgehung der klinischen Relativierung von organischen Veränderungen und in der Behandlung von Surrogatparametern.
Im nachfolgenden Artikel von Eschweiler et al. werden neben den klassischen diagnostischen Verfahren eine Reihe von erfolgversprechenden, neueren Methoden vorgestellt, die auf die Erhebung solcher biologischer Marker abzielen. Einschränkungen der Geruchsidentifikation, insbesondere bei der Alzheimer-Erkrankung, werden seit Jahren postuliert. Die Untersuchung ist einfach durchzuführen und für die Patienten wenig belastend. Automatisierte bildmorphologische Analyseverfahren können ohne Zusatzaufwand das klassische kraniale MRT ergänzen. Insbesondere für die Frühdiagnostik erfolgversprechend ist die Bestimmung von Amyloidbestandteilen und Tau-Proteinen im Liquor. Dies ist allerdings mit zusätzlichen Belastungen für die Patienten verbunden, da eine Liquorpunktion nach wie vor nicht zum obligaten Standard einer leitliniengerechten Demenzdiagnostik gehört. Die Single-Photon-Emissionscomputertomographie (SPECT) und die Positronenemissionstomographie (PET) bedürfen radioaktiv markierter Substanzen und sind daher auf spezialisierte Zentren beschränkt. Sensitivität und Spezifität aller genannten Verfahren liegen nicht über den Werten der klassischen Untersuchungsverfahren, so dass sich ein diagnostischer Zusatzgewinn nur in der Zusammenschau aller Befunde ergibt.
Syndromale Unterschiede im ersten Drittel des Krankheitsverlaufes
Mit Problemen der Differenzialdiagnose – der zweiten Stufe der klassischen Demenzdiagnostik – befasst sich der Artikel von Mollenhauer et al. bei der Vorstellung der beiden Demenzerkrankungen Demenz mit Lewy-Körpern und der Parkinson-Krankheit mit Demenz. Für alle Demenzerkrankungen ist generell festzustellen, dass sich deutliche und zuordenbare syndromale Unterschiede – falls überhaupt – lediglich im ersten Drittel des Krankheitsverlaufes zeigen. Die Syndrome gleichen sich mit dem Fortschreiten der Erkrankungen aneinander an. Die spezifischen Frühsymptome verschiedener Demenzerkrankungen (zum Beispiel Gedächtnis-, Sprach- und motorische Störungen, Unruhe, Halluzinationen) können in den späteren Phasen bei allen Demenzerkrankungen auftreten. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass bei vielen neuropathologisch nachuntersuchten Demenzfällen (und auch bei Nichtdementen) Hinweise auf verschiedene Demenz-Ätiologien nebeneinander vorliegen, die zuvor klinisch nicht in Erscheinung getreten sind. Insbesondere Zeichen der Alzheimer-Demenz und der vaskulären Demenz treten sehr häufig gemeinsam auf, so dass zunehmend diskutiert wird, ob es sich hierbei tatsächlich um zwei verschiedene Krankheitsentitäten handelt oder um eine Spektrumsdiagnose zwischen zwei idealtypischen Polen (5). Auch für die beiden von den Autoren im Folgenden dargestellten Erkrankungen – Demenz mit Lewy-Körpern und der Parkinson-Krankheit mit Demenz – lässt sich die Frage stellen, ob es sich lediglich um zwei unterschiedliche Verlaufsformen derselben Grunderkrankung handelt.
Akademische Spielerei
Die Bemühungen um exakte Differenzialdiagnosen – jenseits der seltenen Formen kausal behandelbarer Demenzen – muten in Ermangelung spezifischer Therapien als akademische Spielerei an. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Neuentwicklung diagnosespezifischer, differenzierter Interventionen in erheblicher Weise von der Richtigkeit der Grunddiagnosen abhängt, so dass die Diagnostiker hier in Vorleistung für eine zukünftige bessere Versorgung dementer Patienten gehen müssen.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Anschrift des Verfassers
PD Dr. med. Richard Mahlberg, MBA
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Institut für Psychogerontologie
Nägelsbachstraße 25
91052 Erlangen
E-Mail: mahlberg@geronto.uni-erlangen.de
The Investigation and Differential Diagnosis of Dementias
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(39): 675–6
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0675
@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
PD Dr. med. Mahlberg, MBA
1. | Mahlberg R, Gutzmann H (Hrsg.): Demenzen – erkennen, behandeln, versorgen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2009; 111–6. |
2. | Eschweiler G, Leyhe T, Klöppel S, Hüll M: New diagnostic developments in Alzheimer-Type dementia and Alzheimer’s disease. [Neue Entwicklungen in der Diagnostik der Alzheimer-Demenz und Krankheit. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(39): 677–83. VOLLTEXT |
3. | Mollenhauer B, Förstl H, Deutschl G, Storch A, Oertel W, Trenkwalder C: Lewy body and Parkinsonian dementia: Common, but often mis-diagnosed conditions [Demenz mit Lewy-Körpern und Parkinson-Krankheit mit Demenz – Zwei häufige Demenzformen, die oft nicht erkannt werden]. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(39): 684–91. VOLLTEXT |
4. | Engel S, Mück A, Lang FR: Kognitives Screening. In: Mahlberg R, Gutzmann H: Demenzen – erkennen, behandeln, versorgen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2009; 122–31. |
5. | Förstl H: ’Alzheimer’s disease’: more data, but are we any more informed? Curr Opin Psychiatry 2005; 18(6): 615–20. MEDLINE |
-
Deutsches Ärzteblatt international, 201610.3238/arztebl.2016.0203