THEMEN DER ZEIT
Die Charité in der DDR: „Es hat immer irgendwie funktioniert“


Es gab medizinische Qualität trotz Versorgungsengpässen und „politische Wachsamkeit auf allen Ebenen“.
Das Berliner Universitätsklinikum, die Charité, arbeitet anlässlich ihres Jubiläums auch seine jüngere Vergangenheit kritisch auf. Die Betonung liegt auf „kritisch“. Im Reigen der Aktivitäten anlässlich des 300-jährigen Bestehens der Charité wird nun auch deren Rolle nach 1945, insbesondere aber nach dem Mauerbau (1961), beleuchtet. Hervor treten dabei vor allem die politisch-ideologische Einbindung und die oftmals prekäre Versorgung mit medizinischen Gütern. Trotz häufiger Versorgungsmängel gelang es jedoch, die medizinische Betreuung auf einem guten Niveau zu halten, sie wurde dem Mangel geradezu abgetrotzt.
Emotionale Wellenlage
Man mag sich gar nicht vorstellen, wie klamm gewöhnliche Krankenhäuser, noch dazu außerhalb Berlins gewesen sein mögen. Als der Neurologe Prof. Dr. med. Karl Max Einhäupl 1992 aus dem Westen an die Humboldt-Universität berufen wurde, beeindruckte ihn jedenfalls die hohe klinische Qualität an der Charité. Aber auch, „dass es in der DDR nur einige wenige Wissenschaftler gab, die internationale Bedeutung hatten“, so Einhäupl, der heute Vorstandsvorsitzender der Charité ist, anlässlich einer Ausstellung zur Charité in den Jahren 1945 bis 1992 im Berliner Abgeordnetenhaus.
Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen Berichte von Zeitzeugen, die durch Quellenstudien abgesichert und ergänzt wurden. Leider läuft die Ausstellung nur bis 31. Oktober – angesichts der brisanten, lange geschönten oder vertuschten Aussagen viel zu kurz. Doch sind die Inhalte nachzulesen in einem schwergewichtigen Studienband, der sich auf 26 Zeitzeugenberichte stützt (Rainer Herrn, Laura Hottenrott [Hrsg.]: Die Charité zwischen Ost und West 1945–1992). Er ergänzt die Charité-Geschichte der Jahre 1710 bis 1960, die eine Reihe namhafter Medizinhistoriker vor wenigen Wochen bereits vorgelegt hat. Schon diese stach durch eine unkonventionelle Darstellung hervor, indem nämlich anhand von Patientenakten die Entwicklung der Charité wie der Medizin nachgezeichnet wird. Nun also die Zeitgeschichte als oral history, wohl auch um darzutun, dass Zeitgeschichte noch im Fluss und noch subjektiver ist als Geschichtsschreibung ohnehin. Auch nach 20 Jahren schlügen nämlich die emotionalen Wellen über die historische Einordnung noch hoch, resümiert der Medizinhistoriker Dr. Rainer Herrn seine Erfahrungen mit den Zeitzeugen. Herrn, der das Zeitzeugenprojekt am 1. September im Abgeordnetenhaus erläuterte, wies auf die schwierigen äußeren Bedingungen hin, den hohen politischen Druck und die Überwachung durch die Staatssicherheit, mit denen die Charité zu tun hatte. Die Mehrheit der Befragten sei übrigens der Meinung gewesen, das Stasikapitel müsse endlich abgeschlossen werden.
Politische Wachsamkeit
Für Aufarbeitung plädierte erwartungsgemäß auch die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Marianne Birthler. Die Stasiakten seien eine unverzichtbare, manchmal sogar die einzige Quelle für die Forschung. Die Charité-Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) seien einer der größten Bestände ihrer Behörde. Allein für das Ausstellungsprojekt seien 27 500 Seiten durchgesehen worden.
Wegen der im doppelten Sinne herausgehobenen Stellung der Charité – Musterklinikum und Lage direkt an der Grenze – waren auch die Überwachung und politische Durchdringung herausragend. Charakteristisch ist ein Brief von Kurt Hager vom SED-Zentralkomitee 1981 an Stasichef Erich Miehlke: „Da die Medizin insgesamt und die Charité insbesondere bereits seit längerem zum bevorzugten Angriffsfeld des Gegners gehören, ist der politischen Wachsamkeit auf allen Ebenen größte Aufmerksamkeit zu schenken.“ Durch „Einbeziehung aller Mitarbeiter in den Gesamtprozess, ist den Anstrengungen des Gegners entgegenzuwirken“, resümiert Hager. Folge war die verstärkte Schulung in Marxismus-Leninismus.
Abhörmikro in der Büste
Dazu kam die ständige Stasiüberwachung – etwa in der Klinik für Innere Medizin. Dort war ein Abhörgerät im Besprechungsraum installiert, eingebaut in die Büste des Internisten Theodor Brugsch. Das Mikrofon war mit der Abhörstation des MfS im Dachgeschoss der Klinik verbunden. Die Anlage blieb bis zur „Wende“ unbemerkt. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde an der Charité ein dichtes Netz von hauptamtlichen und informellen Mitarbeitern des MfS geknüpft. 1986 habe es mindestens 80 informelle Mitarbeiter (IM) gegeben, bestätigte Birthler und fügt hinzu, Zeitzeugen hätten die Stasi sehr unterschiedlich wahrgenommen; einige gäben an, sie gar nicht bemerkt zu haben, andere würfen ihr vor, ihre Karriere verhindert zu haben. Trotz Stasi sei die DDR aber „kein Volk von Verrätern“ gewesen, es gebe wunderbare Zeugnisse von Zivilcourage, und „die Zahl derer, die anständig blieben, ist groß“.
Eine Besonderheit der grenznahen Charité war ein eigenes „Grenzsicherheitsaktiv“, bestehend aus Medizinstudierenden und medizinischen Mitarbeitern, die Patrouille gingen. Die Zeitzeugen haben auch solche Aktivitäten sehr unterschiedlich wahrgenommen. Einige versichern, erst nach der Wende davon erfahren zu haben, eine Ärztin berichtet aber auch von einem Oberarzt der Onkologie, der nachts unterwegs gewesen sei.
Die Charité bildete eine eigene Parteiorganisation der SED. 14 Prozent der Mitarbeiter gehörten der Staatspartei an und – seit dem Mauerbau steigend – sogar 65 Prozent der Professoren (Stand: 1985). Die Partei verhalf zu glatten Karrieren, konnte aber auch jegliche Entwicklung verhindern, wie ein Zeitzeuge vermerkt. Die SED war in allen Entscheidungsgremien auf allen Ebenen vom Arbeitskollektiv vor Ort bis zur Spitze vertreten.
Nach der Wende bildete sich eine „Initiativgruppe Charité-Erneuerung“, die sich Reformen aus dem Hause selbst auf die Fahnen geschrieben hatte. Offenbar mit geringem Erfolg. In einem Positionspapier von 4. November 1990 heißt es jedenfalls resignierend: „Die Leiter möchten Leiter bleiben und nutzen die bisherigen teilweise rechtlosen Räume mit Konsequenz für die Stärkung ihrer Machtpositionen. So wie überall im Land, ist es auch an der Charité.“ Und: „Kaum ein Direktor einer Klinik oder eines Instituts ist bekannt, der sich zu seiner Schuld bekannt hat.“
Engpässe in der Versorgung
Das zweite ständig wiederkehrende Thema der Zeitzeugenberichte sind die offenbar stetigen Versorgungsengpässe. Ein Zeitzeuge: „Wir wussten alles. Aber wir konnten nicht alles machen.“ Das, was zu machen war, wurde in Therapierichtlinien festgehalten. Etwas verdruckst heißt es zur Versorgungslage 1988 im Bericht einer Kommission beim Ministerrat: Trotz bevorzugter Zuteilungen von Verbrauchsmaterialien sei es „bisher gelungen, die medizinische Notversorgung unter allen Umständen zu sichern“. Doch müssten Verschiebungen nichtakuter Operationen „ständig erfolgen“. Im Umkehrschluss heißt das: An der Regelversorgung haperte es. Engpässe traten vor allem bei neuen oder nicht in der DDR hergestellten Produkten auf. Für Antibiotika, die aus dem Westen kamen, mussten Sondergenehmigungen beantragt werden, manchmal bis ins Ministerium hinauf. „Aber das war kein Problem“, beteuert ein Zeitzeuge, der wusste, wie die Hase lief. Eine Zeitzeugin hingegen: „Es hat immer irgendwie funktioniert. Aber fragen Sie mich nicht wie.“
Norbert Jachertz
Ausstellung und Buch
Die Zeitzeugen-Ausstellung: Die Charité zwischen Ost und West (1945–1992), erarbeitet in Kooperation vom Institut für Geschichte der Medizin, vom Berliner Medizinhistorischen Museum und von der Universität der Künste, ist für Besucher in der Wandelhalle des Abgeordnetenhauses von Berlin, Niederkirchnerstraße 3–5, 10111 Berlin, bis zum 31. Oktober von Montag bis Freitag in der Zeit von 9 bis 18 Uhr geöffnet.
Rainer Herrn, Laura Hottenrott (Hrsg.): Die Charité zwischen Ost und West 1945–1992. Zeitzeugen erinnern sich.
Be.bra.wissenschaft-Verlag, Berlin-Brandenburg 2010, 432 Seiten, 24,90 Euro
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