ArchivDeutsches Ärzteblatt41/2010Interview mit Prof. Dr. med. habil. Jan Schulze, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer „Zehn Prozent mehr Studienplätze wären angebracht“

POLITIK: Das Interview

Interview mit Prof. Dr. med. habil. Jan Schulze, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer „Zehn Prozent mehr Studienplätze wären angebracht“

Hibbeler, Birgit; Richter-Kuhlmann, Eva

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Fotos: Svea Pietschmann
Fotos: Svea Pietschmann

Das Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer über den Numerus clausus, die Landarztquote und die Zukunft des Medizinstudiums.

Das öffentliche Interesse am Medizinstudium ist groß. Aber bilden wir genügend Ärzte aus, und dann noch die richtigen?

Schulze: Derzeit bewerben sich vier bis fünf Abiturienten auf einen Studienplatz. Damit ist eine gerechte und zielgerichtete Auswahl natürlich nicht einfach. Der Arztberuf ist eine Mischung aus Naturwissenschaft und heilkundlicher Aktivität. Dafür braucht man gute naturwissenschaftliche Kenntnisse, aber auch sogenannte Soft Skills, wie Kommunikationsfähigkeit, soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz. Und da liegt das Problem: Wie soll man die überprüfen? Noten hingegen sind reproduzierbar, man kann sie gut vergleichen und so die Besten auswählen.

Was bringen Auswahlgespräche, wie sie an einigen Fakultäten stattfinden?

Schulze: Sofern sie unstrukturiert erfolgen, handelt es sich um ein nicht gesichertes Vorgehen: aufwendig und nicht validiert. Ob die auf diese Weise ausgewählten Studierenden tatsächlich bessere Ärzte werden als die mit einem Abiturschnitt von 1,1 oder 1,0, ist nicht belegt.

Aber wie findet man die geeignetsten Bewerber?

Schulze: Wenn wir anerkennen, dass Soft Skills für den Arztberuf wichtig sind, dann brauchen wir auch eine verlässliche Erfassung dieser Faktoren. Das fällt enorm schwer, weil das Medizinstudium sowohl zum Theoretiker als auch zum Praktiker befähigt. Das ist ein breites Spektrum. Alle Bemühungen, die bis jetzt dahin gehen, diese „weichen“ Faktoren einzubeziehen, bilden eigentlich mehr Motivation und Leistungsbereitschaft ab. Wir haben aber dazu keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz. Diese ist aber dringend erforderlich, weil Auswahlverfahren einen großen Aufwand für die Fakultäten bedeuten. Wir sollten die Ergebnisse der über strukturierte Auswahlgespräche zugelassenen Kohorten abwarten, die zurzeit an einigen Fakultäten laufen. Heute steht lediglich fest: Eine gute Abiturnote befähigt zu einem guten Medizinabschluss.

Trotzdem gibt es Rufe, den Numerus clausus (NC) abzuschaffen.

Schulze: Das ist absolut abzulehnen. Wir würden damit die einzige metrische und bundesweit vergleichbare Auswahlmethode aus der Hand geben.

Dass sich Studenten mit sehr gutem Abitur besonders häufig gegen eine kurative ärztliche Tätigkeit entscheiden, ist nicht erwiesen. Werden hier Themen vermischt, die nichts miteinander zu tun haben?

Schulze: Besonders im Rahmen der Diskussionen um den Ärztemangel auf dem Lande wird oft gesagt, dass wir Leute auswählen sollen, die primär Landarzt oder Allgemeinarzt werden wollen, auch wenn sie sich mit schlechteren Ergebnissen im Abitur bewerben. Ob ein solches Vorgehen erfolgversprechend wäre, ist nicht belegt. Das sind vorschnelle Vorschläge von Politikern, die die Gesamtverhältnisse nicht ausreichend einschätzen können. Sie sollten uns nicht veranlassen, klare Erkenntnisse fallenzulassen.

Eine Landarztquote halten Sie also nicht für zielführend?

Schulze: Nein, eine so weitreichende Festlegung des gesamten späteren Berufs- und Lebenswegs überfordert junge Menschen schlichtweg. Das zeigen auch die Erfahrungen in Sachsen, wo junge Kollegen in der Allgemeinmedizin in einem umfangreichen Programm über mehrere Jahre mit Stipendien gefördert werden. Die Beteiligung ist immer weiter zurückgegangen, weil sich die Studenten im Studienverlauf noch nicht für eine Berufsqualifikation festlegen wollen.

Sollte man die Zahl der Studienplätze erhöhen?

Schulze: Ja, wenn man die Diskussion um den Ärztemangel ernst nimmt, und die Ärzteschaft nimmt ihn ernst. Die Krankenkassen sprechen zwar immer von Zahlentricksereien: Es seien zu viele Ärzte an den falschen Stellen. Aber ich glaube, das kann man nicht sagen. Wir müssen feststellen, dass etwa zehn Prozent unserer Absolventen in nichtkurative Bereiche gehen. Eine moderate Anhebung der Medizinstudienplätze um eben diese zehn Prozent wäre deshalb angebracht. Allerdings müssen die teuren Medizinstudienplätze auch realisiert werden. Es bedarf dazu definitiver finanzieller Mittelzuführung der Länder an die medizinischen Fakultäten. Auf jeden Fall müssen alle deutschen Fakultäten erhalten werden – alle 36.

Die Fakultät in Lübeck wäre fast dem Sparpaket des Landes Schleswig-Holstein zum Opfer gefallen. Inwieweit ist der Bund bei der Finanzierung des Medizinstudiums gefragt?

Schulze: Für die traditionsreiche und qualitativ gut beleumundete Medizinische Fakultät Lübeck ist letztendlich der Bund indirekt eingesprungen. Das kann auch noch in anderen Fällen nötig werden, und ja – eine Bundesverantwortlichkeit ist da durchaus gegeben.

Als ein Grund für den Ärztemangel wird manchmal eine hohe Abbrecherquote beim Medizinstudium angeführt. Ist diese Zahl tatsächlich so hoch?

Schulze: Die Quote liegt zwischen drei und fünf Prozent. Diese Zahl ist gut gesichert und über die deutschen Fakultäten gemittelt. Leipzig hat zum Beispiel nur 1,8 Prozent Abbrecher. Das ist fantastisch. Auch im Vergleich zu anderen Studienfächern ist die Quote bei der Medizin eher niedrig.

Viele Studierende wünschen sich eine stärkere Verzahnung von Klinik und Vorklinik. Die Approbationsordnung aus dem Jahr 2002 geht in diese Richtung. Wie steht es mit der Umsetzung?

Schulze: Bis ein solcher Wechsel an allen Fakultäten realisiert ist, dauert es. Die neue Approbationsordnung ist noch nicht hundertprozentig umgesetzt, aber man ist auf einem guten Weg. Für die Zukunft brauchen wir außerdem einen nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog. Daran wird zurzeit gearbeitet, auch die Bundesärztekammer ist beteiligt.

Während der studentischen Ausbildung steht immer noch der stationäre Bereich im Vordergrund. Wie kann man die Studierenden frühzeitig für die ambulante Versorgung interessieren?

Schulze: Wir brauchen an allen 36 Fakultäten einen Lehrbeauftragten oder eine Professur für Allgemeinmedizin. Diese haben dann die Aufgabe, Lehrpraxen im Umfeld der Fakultäten zu koordinieren und die akademische Lehrpraxentätigkeit auf ein hohes Niveau zu führen. Die Hauptverantwortung müssen jedoch die medizinischen Fakultäten haben. Sie müssen überblicken, wer wo was macht. Weitere Möglichkeiten, sich im Studium im Rahmen von Famulaturen, Praktika oder im praktischen Jahr im ambulanten Sektor zu betätigen, sind breit gegeben.

Stichwort PJ – sollte die Allgemeinmedizin ein Pflichtfach werden?

Schulze: Nein. Die PJ-Tertiale enthalten ein Wahltertial Allgemeinmedizin. Bestrebungen, das PJ zu vierteln und einen Pflichtteil Allgemeinmedizin festzuschreiben, hat der Deutsche Ärztetag abgelehnt.

Sollte man die Hochschulambulanzen für die ambulante Versorgung öffnen?

Schulze: Ein ganz klares Ja. Ich denke, es kann nicht sein, dass nur die Problemfälle in die Universitätspoliklinik gehen dürfen. Lehre braucht auch einfache Fälle. Der Wissenschaftsrat hat das gerade deutlich unterstrichen.

Was halten Sie vom Bachelor-Master-System in der Medizin?

Schulze: Der Druck, auch die Medizin umzustellen, ist nach wie vor da, obwohl es schon eine gewisse „Bologna-Ernüchterung“ gibt. Allerdings brauchen wir keinen Bachelor und Master in der Medizin. Die Anerkennung der Abschlüsse ist bereits durch eine EU-Richtlinie gewährleistet. Wenn wir jungen Kollegen die Möglichkeit bieten wollen, modifizierte Bachelorwege zwischen Biologie, Soziologie und Medizin zu gehen, darf das nur außerhalb des Kontingents für die Medizin realisiert werden.

Das Interview führten Dr. med. Birgit Hibbeler und Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann.

Zur Person

Prof. Dr. med. habil. Jan Schulze (67) ist Präsident der Sächsischen Landesärztekammer und Vorsitzender des Ausschusses „Ausbildung zum Arzt/Hochschule und Medizinische Fakultäten“ der Bundesärztekammer. Mit der Hochschulmedizin ist der Internist und Endokrinologe bestens vertraut: Viele Jahre arbeitete er am Universitätsklinikum in Dresden.

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