ArchivDeutsches Ärzteblatt44/2010Allergien: Neue Allergene durch Klimawandel und „Functional Food“

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Allergien: Neue Allergene durch Klimawandel und „Functional Food“

Gebhardt, Ulrike

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Da sich das Verbreitungsareal von wärmeliebenden Pflanzensorten verlagert und tropische Früchte vermehrt zu Lebensmitteln verarbeitet werden, nimmt die Zahl potenziell allergener und kreuzreagierender Strukturen zu.

Wissenschaftler haben in den letzten 20 Jahren die allergieverursachenden Proteine der wichtigsten Allergenquellen identifiziert. Das sind mehr als 1 000 Allergenmoleküle. Doch stetig kommen neue hinzu, manchmal zunächst unbemerkt. Als Folge des Klimawandels haben sich zum Beispiel die Verbreitungsareale von Pflanzensorten verschoben, wie Prof. Dr. med. Dr. phil. Johannes Ring (München) auf dem 5. Allergiekongress in Hannover ausführte. Das wärmeliebende, eigentlich im Mittelmeerraum beheimatete Glaskraut (Parietaria) dehne sich in Richtung Norden aus. Während in Italien klinisch relevante Sensibilisierungsraten gegenüber Glaskraut bei über 30 Prozent liegen, gilt das Gleiche in Deutschland aber bisher nur für 3,9 Prozent der untersuchten Personen.

Die Acerolakirsche ist beliebt wegen ihres hohen Vitamin-C-Gehalts. Das Glaskraut (rechts) kam bisher vorwiegend in den gemäßigten bis subtropischen Gebieten der Nordhemisphäre vor. Fotos: Mateus Hidalgo/vario images
Die Acerolakirsche ist beliebt wegen ihres hohen Vitamin-C-Gehalts. Das Glaskraut (rechts) kam bisher vorwiegend in den gemäßigten bis subtropischen Gebieten der Nordhemisphäre vor. Fotos: Mateus Hidalgo/vario images

Bei heuschnupfenähnlichen Symptomen und anderen Allergiebeschwerden, die während des Spätsommers – also nach der typischen Gräserpollensaison – aufträten, müsse vermehrt auch an Ambrosia gedacht werden, sagte Ring. Das ursprünglich in Nordamerika beheimatete beifußblättrige Traubenkraut (Ambrosia artemisiifolia) breite sich in Europa aus, und die Pollen flögen bis in den späten September hinein. Zwar seien mit klinisch relevanten Sensibilisierungsraten von über 30 Prozent die Gräser weiterhin auf Platz eins bei den Umweltallergenen des Außenbereichs, aber nach Birke, Haselnuss, Erle und Beifuß folge in Europa auf Platz sechs schon jetzt Ambrosia mit einer Sensibilisierungshäufigkeit von circa zehn Prozent. Vom „Ambrosia-Beifuß-Komplex“ sind Prof. Dr. rer. nat. Monika Raulf-Heimsoth (Bochum) zufolge in Deutschland schätzungsweise zwei bis vier Millionen Menschen betroffen: Wegen der engen Verwandtschaft zum hiesigen „Gewöhnlichen Beifuß“ (Artemisia vulgaris) reagierten Beifußallergiker häufig in einer Kreuzreaktion auch auf Ambrosia. Die allergische Reaktion auf die beiden Pflanzen ist klinisch nicht unterscheidbar.

Cave: Kreuzallergien

Mit neuen „Unruhestiftern“ hat man es auch bei den Nahrungsmittelallergien zu tun. Im Bereich „Functional Food“ müsse etwa die tropische Acerolakirsche beachtet werden, die wegen ihres hohen Vitamin-C-Gehalts häufig in sogenannten ACE-Säften zu finden sei, erläuterte Prof. Dr. med. Uta Jappe (Borstel). Jappe berichtete von dem Fall eines 37-Jährigen, der wenige Minuten nach dem Trinken eines Apfelsafts eine anaphylaktische Reaktion entwickelte. Der Mann hatte bereits eine Latexallergie und sprach wegen einer Kreuzreaktion nun auch auf die Acerolafrucht an.

Allergische Reaktionen auf beigefügte Drachenfruchtextrakte und Granatapfel seien ebenfalls dokumentiert, so Jappe. Die Allergologin gab in diesem Zusammenhang zu Bedenken, dass immer mehr Produkte Soja enthielten. Paradoxerweise würde Soja, das selbst potenziell allergen sei, durch massive Werbung vor allem Allergikern empfohlen. Keine Hinweise gebe es bislang für das allergene Potenzial von Pro- und Präbiotika, von Algenöl oder Phytosterinen, die manchen Lebensmitteln beigefügt würden, um einen angeblich gesundheitsfördernden Mehrwert zu erzielen, sagte Jappe.

Besorgniserregend sei, dass allergischen Konsumenten zunehmend Warnhinweise wie „Kann Spuren von . . . enthalten“ ignorierten, merkte Prof. Dr. med. Barbara Ballmer-Weber (Zürich) an. Bei bekannten Allergien sei hier jedoch stets Vorsicht geboten, weil es extrem schwierig sei, individuelle Schwellenwerte für den risikolosen Verzehr bestimmter Lebensmittel zu ermitteln. Viele variable Faktoren beeinflussten das Geschehen, etwa die „Matrix“, also die chemischen Nahrungskomponenten, in die das Allergen eingebettet sei, aber auch individuelle Faktoren aufseiten des Konsumenten, wie Stress oder Infektionen.

Außerdem könnten keine verlässlichen Vorhersagen darüber gemacht werden, welchen Einfluss die Herstellungsprozesse auf die Allergenität von Lebensmitteln hätten, betonte Dr. rer. nat. Thomas Holzhauser vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen. Durch Hitzeeinwirkung könnten einige Bestandteile zwar weniger allergen werden. Bei der Erdnuss dagegen bliebe die Allergenität durch Rösten erhalten beziehungsweise erhöhe sich sogar.

Ideal wäre es, wenn man durch eine spezifische Immuntherapie (SIT), die Schwellenwerte steigern könnte, so dass der Allergiker erst ab einer höheren Menge des allergenen Nahrungsbestandteils oder (im Idealfall) gar nicht mehr reagiert. Doch solche Therapieoptionen befinden sich derzeit noch in der Studienphase – wie zum Beispiel an der Berliner Charité. Dort sind 23 Kinder mit einer Erdnuss-allergie mit einer oralen SIT behandelt worden (1). „Die Ergebnisse zeigten erstmals, dass eine orale SIT bei Erdnussallergikern im Prinzip machbar ist“, erklärte Dr. med. Katharina Blümchen (Berlin).

Vier Kinder mussten die Behandlung zwar wegen schwerer Nebenwirkungen abbrechen, doch etwa die Hälfte der Behandelten tolerierte im Anschluss eine höhere Menge des Allergens. Zudem wiesen die Laborwerte auf einen immunmodulatorischen Effekt der Therapie hin. Doch ob tatsächlich eine Toleranz induziert worden sei, sei fraglich, sagte Blümchen. Mehr Studien seien erforderlich, damit die orale Immuntherapie bei Nahrungsmittelallergien künftig tatsächlich eine therapeutische Option werde.

Bei Allergien gegen Pollen oder Tierhaare wird die SIT seit vielen Jahren oft erfolgreich eingesetzt. Dennoch ließen sich weniger als fünf Prozent der Allergiker therapieren, bemerkte Prof. Dr. med. Thomas Kündig (Zürich). Für diese niedrige Rate sei das langwierige Prozedere mit vielen Injektionen, aber auch Nebenwirkungen verantwortlich. Nach Meinung des Schweizer Allergologen müssten neue Wege bei der Applikation des Allergens beschritten werden. Bei der klassischen subkutanen SIT gelange das Allergen in das Fettgewebe, wo es mehr oder weniger nutzlos herumliege. Das Immunsystem würde dadurch nicht genügend angesprochen.

Kündigs Arbeitsgruppe erprobte erfolgreich die Applikation des Allergens epikutan oder direkt in die Lymphknoten der Leistengegend (2, 3). Dadurch ließen sich die Menge des applizierten Allergens reduzieren und die Zeitdauer der Behandlung verkürzen, und dennoch würde eine bessere immunologische Antwort erzielt, erklärte Kündig. Während sich eine klassische SIT bei Gräserpollenallergie nahezu über drei Jahre streckt, führte Kündig eine Desensibilisierung über die Lymphknoten mit gleich gutem Erfolg in nur acht Wochen durch.

Allergenkarenz in der Schwangerschaft enttäuscht

Während ein Umdenken bei der SIT gerade erst angestoßen wird, hat es im Bereich der Primärprävention von Allergien bereits stattgefunden. Das Konzept der Allergenkarenz in Schwangerschaft und Stillzeit hat sich als enttäuschend erwiesen. Keine der Studien zur Hausstaubmilbenreduktion etwa konnte einen präventiven Effekt auf die allergische Sensibilisierung des Kindes nachweisen, wie Prof. Dr. med. Torsten Schäfer (Ratekau) berichtete. Im aktuellen Update der S3-Leitlinie zur Allergieprävention werde auch eine mütterliche Diät bei familiärer Vorbelastung während der Stillzeit nicht mehr empfohlen, sagte Schäfer (4). Anstelle der Karenz falle der Fokus der Maßnahmen nun stärker auf protektive Faktoren. Mütterliche Fischmahlzeiten etwa würden nun empfohlen, ebenso Fisch als Bestandteil der kindlichen Beikost im ersten Lebensjahr. Vermutlich seien es die im Fisch enthaltenen Fettsäuren, die das Risiko für allergische Sensibilisierungen und atopische Erkrankungen senken könnten, meinte Schäfer. Eine wissenschaftlich eindeutige Basis, die die Gabe sogenannter Probiotika zur Allergieprävention rechtfertigten, gebe es zurzeit nicht.

Eindeutig sei die Studienlage dagegen bei der Klärung der Frage, ob Kinder, die auf dem Bauernhof aufwüchsen, ein geringeres Allergierisiko hätten, betonte Prof. Dr. med. Erika von Mutius (München). Alle 29 von ihr zusammengestellten Studien zeigten einen protektiven Effekt des „Stallmilieus“ vor allergischer Rhinitis und atopischer Sensibilisierung, der bis in das Erwachsenenalter anhalte.

Schwierig werde es nun allerdings, dieses Wissen in konkrete Handlungsempfehlungen umzusetzen. Denn vorher müsse herausgefunden werden, welche einzelnen Faktoren einer Allergieentstehung entgegenwirkten, fügte von Mutius hinzu. Schützend im Sinne der „Hygienehypothese“ wirkten hier möglicherweise allgegenwärtige Mikroorganismen, die das Immunsystem davor bewahrten, in Richtung Allergiebereitschaft abzudriften.

Sich hier jedoch auf einzelne Kandidaten zu fixieren, wie das kürzlich im Kuhdung entdeckte Bakterium Acinetobacter iwoffii oder den Zucker Arabinogalactan, der durch das Viehfutter in großen Mengen im Stallstaub enthalten ist, hält von Mutius für ungeeignet. An „das“ Bakterium im Kuhstall glaube sie nicht. Der Schutzeffekt würde vielmehr durch einen Cocktail verschiedener Bakterien und Substanzen vermittelt, die es zu entschlüsseln gelte.

Dr. rer. nat. Ulrike Gebhardt

@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4410

1.
Blümchen K et al.: Oral peanut immunotherapy in children with peanut anaphylaxis, Journal of Allergy and Clinical Immunology 2010; 126, 83–91. MEDLINE
2.
Senti G et al.: Epicutaneous allergen administration as a novel method of allergen-specific immunotherapy, Journal of Allergy and Clinical Immunology 2009; 124, 997–1002. MEDLINE
3.
Senti G et al.: Intralymphatic allergen administartion renders specific immunotherapy faster and safer: A randomized controlled trial, Proceedings of the National Academy of Science 2008; 105, 17908–912. MEDLINE
1.Blümchen K et al.: Oral peanut immunotherapy in children with peanut anaphylaxis, Journal of Allergy and Clinical Immunology 2010; 126, 83–91. MEDLINE
2.Senti G et al.: Epicutaneous allergen administration as a novel method of allergen-specific immunotherapy, Journal of Allergy and Clinical Immunology 2009; 124, 997–1002. MEDLINE
3.Senti G et al.: Intralymphatic allergen administartion renders specific immunotherapy faster and safer: A randomized controlled trial, Proceedings of the National Academy of Science 2008; 105, 17908–912. MEDLINE
4.S3-Leitlinie Allergieprävention http://www.leitlinien.de/downloads/allergie/ddg/allergie_praevention_lang.pdf/?searchterm=allergieprävention

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