SCHLUSSPUNKT
Körperbilder: Michelangelo (1475–1565) – „Mühsalen und Qualen“


Als Michelangelo 1505 von Papst Julius II. nach Rom beordert wurde, galt dieser Ruf nicht dem Maler oder gar dem Zeichner, sondern allein dem Bildhauer. Er sollte das imposanteste Grabmal schaffen, das je für einen Papst errichtet wurde. Doch Julius überlegte es sich anders und drängte den Florentiner Künstler, die Decke der Sixtinischen Kapelle auszumalen – eine gigantische Aufgabe, die dieser nur höchst widerwillig übernahm. Das Monumentalgemälde sollte Michelangelo vier Jahre beschäftigen, legendär sind seine Klagen über die Mühsalen und Qualen der Gewölbemalerei. Erst bei der Enthüllung des Freskos 1512 wurde die ganze Dimension seiner Arbeit – ein Ensemble aus 343 Figuren – offenbar.
Wie akribisch der Renaissancekünstler das große Werk mit einzelnen Skizzen vorbereitete, zeigt seine Rötelzeichnung zu einer der Figuren, der Libyschen Sibylle: ein schöner dynamischer, sehr plastischer Torso mit seitlich geneigtem Kopf, daneben ein zweites Gesicht, zwei Zehen, eine Hand. Zwar folgte Michelangelo mit der weisen Prophetin der griechischen Mythologie dem Antikenideal seiner Epoche, aber neu und revolutionär waren Linienführung und Perspektive. Anatomisch präzise erfasste er das männliche Modell, stellte aber den vor Muskelkraft strotzenden, athletischen Körper nicht naturalistisch, sondern übersteigert-expressiv dar. Diese Sehweise mag sich bei ihm in den Steinbrüchen von Settignano bei Florenz herausgebildet haben, wo er bei den körperlich hart arbeitenden Steinmetzen zeitweise aufwuchs.
Gerade weil er sich zu Stein und Skulptur berufen fühlte, erreichte Michelangelo auch mit dem Zeichenstift eine einzigartige Dimension. „Seine Zeichnungen bilden die Grundlage für sein Gesamtwerk als Bildhauer, Maler und Architekt“, sagt Dr. Achim Gnann. Er ist Kurator einer Ausstellung in der Wiener Albertina, die noch bis Januar 104 Zeichnungen aus der etwa 75-jährigen Schaffensperiode des Universalgenies präsentiert. Für die größte Michelangelo-Schau seit 20 Jahren wurden kostbare Papierexponate weltweit aus Museen und sogar dem Privatbesitz der Queen zusammengetragen. Michelangelo selbst hatte zu seinem zeichnerischen Werk eine durchaus ambivalente Position; zwei Drittel soll er im Laufe seines langen Lebens vernichtet haben. Sabine Schuchart
Literatur
„Michelangelo. Zeichnungen eines Genies“, Ausstellungskatalog, gebundene Ausgabe, 416 Seiten, Wien 2010, 49,80 Euro.
Ausstellung
„Michelangelo. Zeichnungen eines Genies“, Albertina, 1010 Wien; tgl. 10–19 Uhr, Mi. 10–21 Uhr; bis 9. Januar 2011; www.albertina.at