ArchivDeutsches Ärzteblatt45/2010Pakistan: Die Jahrhundertflut
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Foto: action-press
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Die Überschwemmungen haben eine humanitäre Krise ausgelöst. Tankred Stöbe, Arzt und Präsident von Ärzte ohne Grenzen, schildert seine Eindrücke.

Schläft Amira nur, oder liegt sie im Koma? Es dauert lange, bis die Zweijährige in den Armen der Mutter erwacht. Auch danach bleibt sie müde und verlangsamt. Ihre Augen sind eingefallen, ebenso die Fontanelle, die Zunge ist trocken, und die Bauchhaut bleibt nach Anheben stehen – alles Zeichen von schweren Flüssigkeitsverlusten. Die Mutter gibt an, dass sie aus dem überschwemmten Teil der Stadt kommt und weiterhin das Brunnenwasser trinkt, das sie seit jeher mit einer Handpumpe fördert. Die Kleine hatte seit der letzten Nacht häufig erbrochen und wässrige Durchfälle. Auch weitere Familienmitglieder sind mit ähnlichen Symptomen betroffen.

Amira ist kein Einzelfall. Täglich sehen wir 140 Patienten mit diesen Beschwerden in der Klinik, und ihre Geschichten klingen meist gleich. Diese Jahrhundertflut, ausgelöst durch schwere Monsunregen, überschwemmte ein Drittel des Landes, war die schlimmste seit der Staatsgründung 1947. Nach offiziellen Schätzungen sind 20 Millionen Pakistaner von den Wassermassen betroffen, mehr als 1 700 verloren ihr Leben, etwa vier Millionen wurden obdachlos, unzählige verloren jede Existenzgrundlage.

Die Verwüstungen und das Leid der Betroffenen mit eigenen Augen zu sehen, ist erschütternd. In den ersten Tagen meines Einsatzes besuchte ich die Orte Nowshera,
Peshawar und dann Kot Addu, wo ich schließlich blieb. Am Ortsrand begegneten mir vier Brüder und erzählten, wie sie alles verloren hatten, auch einen Teil ihrer Viehherde. Da die Weiden weiter überschwemmt waren, mussten alle verbliebenen Rinder notgeschlachtet werden, wie auch sonst überall im Land. Das führte dazu, dass die Fleischpreise fielen, während andere Lebensmittelpreise, besonders für Obst und Gemüse, auf das Doppelte stiegen, da sie knapp geworden sind.

Kot Addu liegt in der Provinz Punjab und ist mit etwa 100 000 Einwohnern überschaubar, hat jedoch einen Einzugsbereich von einer Million Menschen. Hier unterstützen wir einen Teil des von den Fluten heimgesuchten Krankenhauses und mussten es erst mal grundrenovieren: den Schlamm entfernen, reinigen, streichen, die Elektroleitungen neu verlegen. So konnten wir 70 Betten für Patienten mit akut wässrigen Durchfällen bereitstellen. Da aber ein Krankenhaus nur mit Personal funktioniert, stellte ich nach mehr als 40 Bewerbungsgesprächen mit Ärzten, Pflegern und anderen Mitarbeitern ein Team zusammen, bevor wir mit
der Patientenbehandlung im Dreischichtbetrieb beginnen konnten.

Zuerst kamen vereinzelt Kranke, später mussten wir ganze Familien aufnehmen. Sie tranken das aus den verschmutzten Brunnen gepumpte Wasser und bekamen Durchfälle. Völlig entkräftet und oft nicht mehr fähig, sich auf den Beinen zu halten, erreichten sie das Krankenhaus. Innerhalb von 18 Tagen behandelten wir mehr als 2 000 Patienten mit diesen Symptomen, davon 550 schwer Erkrankte stationär, mehr als ein Drittel von ihnen waren Kinder unter fünf Jahren.

Bei Temperaturen von 40 °C und hoher Luftfeuchtigkeit war die Arbeit beschwerlich. Die erste Woche wohnten wir im einzigen und ziemlich schäbigen Hotel des Ortes mit miserablen hygienischen Bedingungen. Dann mieteten wir ein Haus. Das besserte die Situation, auch wenn wir anfangs nicht mehr als Matratzen hatten und versalzenen Reis zu essen bekamen. In unserem achtköpfigen internationalen Team behielten wir dennoch etwas Humor, trotz eingeschränktem Bewegungsradius von der Unterkunft zum Krankenhaus und zurück.

Pakistan gehört weiterhin zu den unsicheren Regionen dieser Welt, vor allem aber lässt sich die Sicherheit dort schwer abschätzen oder gar messen. Dennoch hat sich die Sicherheitslage im Vergleich zum Vorjahr, als ich im Norden des Landes für die Vertriebenen aus dem Swattal tätig war, etwas gebessert. Die Menschen sind arm, ihr Leben wird von der Land- und Viehwirtschaft geprägt. Die meisten Dächer sind strohgedeckt, und Ochs- und Eselskarren sind das häufigste Fortbewegungsmittel.

Landesweit behandelte Ärzte ohne Grenzen seit Beginn der Flut mehr als 40 000 Patienten, verteilte 140 000 Überlebenskitts und 10 500 Zelte und stellt täglich 940 000 Liter Trinkwasser bereit. Dies wurde durch die Zusammenarbeit von 1 600 nationalen und internationalen Mitarbeitern ermöglicht.

Am letzten Einsatztag konnte ich einen weiteren ambulanten Behandlungsort eröffnen. Eine Stunde südwestlich von Kot Addu im Örtchen Sheikh Omer haben wir gleich 100 Patienten behandelt. Neben wässrigen Durchfällen litten zunehmend mehr Patienten an Malaria und vor allem Kleinkinder an Mangelernährung. Erschütternd, wie auch acht Wochen nach der Flut die Folgen der Wassermassen sichtbar sind: überschwemmte Felder, nicht mehr erkennbare Dörfer. Und die Hälfte von Kot Addu steht weiterhin unter Wasser.

Das Mädchen Amira ist nach einem intravenösen Flüssigkeitsersatz wohlauf. Es wird aber Jahre dauern, bis die betroffenen Menschen wieder in ihr normales Leben zurückkehren können.

Tankred Stöbe

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