ArchivDeutsches Ärzteblatt45/2010Neu-Delhi-Metallo-BetaLaktamase: Ein neues Resistenzgen und seine möglichen Folgen

MEDIZINREPORT

Neu-Delhi-Metallo-BetaLaktamase: Ein neues Resistenzgen und seine möglichen Folgen

Häussinger, Dieter; Kann, Simone; Zylka-Menhorn, Vera

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Berichte über NDM-1 tragende Bakterien haben weltweit Aufmerksamkeit erregt. Einige Infektiologen sehen dadurch das Ende der antibiotischen Ära eingeläutet.

Ein 59-jähriger Schwede indischer Abstammung schreibt im Dezember 2009 Medizingeschichte: Der Patient, der sich zuvor in Neu Delhi wegen Infektionen hatte behandeln lassen müssen, ließ sein Blut im schwedischen Örebro untersuchen. Was die Mikrobiologen entdeckten, sorgt international immer noch für Aufsehen. Sie fanden mit Klebsiella pneumoniae und Escherichia coli gleich zwei Bakterienarten, die immun gegen alle gängigen Antibiotika sind, da sie eine neue Betalaktamase bilden können, die sogenannte Carbapenemase.

Dieses Enzym – Neu-Delhi-Metallo-Betalaktamase (NDM-1) genannt – deaktiviert Wirkstoffe aus der Gruppe der Carbapeneme (Imipenem, Meropenem, Doripenem, Ertapenem), die auf Intensivstationen häufig als Reserveantibiotika eingesetzt werden. Die Infektiologen beobachten mit Sorge, dass diese „Panresistenz“ nicht auf den schwedischen Patienten („Patient Zero“) beschränkt blieb. Ausgehend von Indien und Pakistan sind Bakterien mit dem NDM-1-Resistenzgen in zahlreiche westliche Länder importiert worden. Was macht sie so gefährlich?

Betalaktamasen sind bakterielle Enzyme, die den Betalaktamring von Antibiotika spalten und damit unwirksam machen können. Die genetischen Informationen für diesen Schutzmechanismus der Bakterien werden plasmidal vererbt oder liegen auf den Chromosomen. Hat ein Bakterium diese Eigenschaften erworben, so kann es Antibiotika wie Penicilline und Cephalosporine der ersten und zweiten Generation unwirksam machen (2, 6).

Ein noch größeres Spektrum an Antibiotika können die „extended- spectrum β-Lactamases“ (ESBL-Bildner) spalten. Sie sind durch Punktmutationen entstanden, und die entsprechenden Gene werden durch Plasmide weitergegeben. So gewinnt das Bakterium zusätzlich Resistenzen gegenüber Cephalosporinen aller Generationen und Monobactame (7, 8).

Als Therapeutika gegen die ESBL-Bildner halfen bisher die Betalaktamaseinhibitoren, wie zum Beispiel Tazobactam, Clavulansäure oder Sulbactam, oder in schweren Fällen eben die Carbapeneme. Doch durch die neue Metallobetalaktamase sind diese nun unwirksam geworden. Schlimmer noch, manche Stämme weisen darüber hinaus noch Resistenzen gegen Vertreter der Chinolone, Cycline und Aminoglykoside auf (Tabelle).

Gleichzeitig rüsten die Bakterien weiter auf. In vielen klinisch relevanten Keimen (unter anderem E. coli, K. pneumoniae, P. aeruginosa) konnte NDM-1 nachgewiesen werden (2). Bei Bakterien mit diesem Resistenzgen werden die Informationen unter anderem durch mobile genetische Elemente („Genkassetten“) weitergegeben (5). Somit erhält der Erreger in einer Austauschaktion gleich mehrere Resistenzgene. Darüber hinaus können diese mobilen Genexpressionselemente auf Transposons („springende Gene“) verschoben werden, die in das Chromosom und/oder in konjugative Plasmide integriert werden können. Die Effizienz dieser Resistenzen kann verstärkt werden durch das Einfügen eines zweiten Promotors oder die Integration von Mehrfachkopien des Resistenzgens.

Bereits dies ermöglicht es, dass die mobilen Gene sich sehr schnell und äußerst effektiv ausbreiten können (4, 7). Erschwerend kommt hinzu, dass der Austausch der Resistenzgene über Art- und Gattungsgrenzen hinweg geschieht, das heißt, Escherichia coli tauscht die Informationen nicht nur mit anderen Escherichia coli aus, sondern auch zum Beispiel mit Klebsiella pneumoniae und umgekehrt (5).

Mit den NDMs ist nicht nur eine neue Subklasse der Metallo-betalaktamasen entstanden, sondern es gibt auch eine neue Aminosäurestruktur im aktiven Zentrum der Enzyme. Diese neue Struktur bindet Betalaktame mit besonders hoher Intensität. Weitere Funktionen sind derzeit noch Gegenstand der Forschung (5).

In Indien sind 70 bis 90 Prozent der Isolate von Enterobacteriaceae ESBL-Bildner und damit potenzielle NDM-1-Erreger (4). Die Sentry-Studie (199799) fand bereits ESBL bei Klebsiella pneumoniae zu 45 Prozent in Lateinamerika, 25 Prozent im westlichen Pazifik und 23 Prozent in Europa (2). Heute dürften die Zahlen weit höher liegen. Das Paul-Ehrlich-Institut veröffentlichte Zahlen von 1998 und 2001 mit einem Anstieg der Imipenem-Resistenzen von Pseudomonas aeruginosa von 2,7 Prozent auf 8,5 Prozent (2).

In England erfolgten in den Jahren 2008 und 2009 verschiedene Untersuchungen bezüglich der ESBL-Bildner. Es wurden 37 unterschiedliche Enterobacteriaceae-Isolate allein in England, Schottland und Irland gefunden. Sie stammten von 29 Patienten. 17 davon waren im letzten Jahr in Indien oder Pakistan gewesen, 14 davon im Krankenhaus (4). In der Studie von Kumarasamy et al. (The Lancet Infectious Diseases, 2010; 10(9): 597–602) zeigt sich, wie stark die Resistenzen zugenommen haben (Tabelle). Die einzigen eingeschränkt wirksamen Antibiotika waren Tigecyclin und Colistin.

Die oft großzügige Gabe von Antibiotika ist eine Hauptursache für diese Entwicklung. Falsche Indikationen und Dosierungen, zu kurze oder zu lange Einnahmedauer, On- und Off-Regime, unkontrollierter Zugang zu den Antibiotika (Einkauf im Supermarkt) unterstützen die Resistenzbildung. In vielen Ländern fehlen außerdem die Mittel und das Wissen, notwendige Hygiene- und Vorsorgemaßnahmen durchzuführen.

Darüber hinaus begünstigt der Medizintourismus die Ausbreitung. Viele Patienten reisen in Länder wie Indien, Pakistan, Türkei oder China um eine Organtransplantation, Schönheitsoperationen oder Zahnbehandlungen durchführen zu lassen, da die Voraussetzungen und Preise oft attraktiver sind als in ihrem Heimatland. Wirtschaft, Handel, internationaler Tourismus und Migration erlauben den Bakterien einen schnellen Austausch zwischen Ländern und Kontinenten.

Leere Antibiotika-Pipeline

Für den Infektiologen Abdul Ghafur (Apollo Hospital, Chennai/Indien) läutet die gegenwärtige Ausbreitung von NDM-1 im Pool der ohnehin schon multiresistenten Keime das Ende der antibiotischen Ära ein – zumindest für die Gruppe der gramnegativen Bakterien. „Aber die Pipeline der Antibiotikaforschung ist dagegen nahezu trocken. Was auch immer wir einst für Waffen in Form von Antibiotika hatten – wir haben sie nun selbst ruiniert“, sagt Ghafur. Sein britischer Kollege Timothy Walsh von der Universität Cardiff in Wales pflichtet ihm bei: „Das schnelle Auftauchen dieser multiresistenten NDM-1 produzierenden Bakterien und ihre potenziell weltweite Ausbreitung könnten eine Ära einläuten, in der Antibiotika redundant werden. Die Lage erfordert sehr enge internationale Überwachung und Beobachtung.“

Was kann man tun?

Als erstes sind Screening- und Hygienemaßnahmen wichtig. Sie sollten analog zum § 23 des Infektionsseuchenschutzgesetzes erfolgen, so wie man sie auch schon für den multiresistenten Staphylokoccus aureus einsetzt (2). Dazu gehören die Isolation der infizierten oder besiedelten Patienten, eine sorgfältige Händedesinfektion vor und nach dem Patientenkontakt sowie eine Kittel- und Handschuhpflege für das betreuende Personal. Alles, was zur Pflege und Untersuchung am Bett benötigt wird (zum Beispiel Stethoskop, Blutdruckgerät, Fieberthermometer), muss im Zimmer des Patienten bleiben.

Sind Transporte zum Beispiel zu Untersuchungen notwendig, ist das Personal entsprechend zu informieren und zu schützen. Die Untersuchungen sollten ohne Wartezeiten erfolgen. Der Transportwagen muss nach der Beförderung des Patienten grundgereinigt werden. Ein Hinweis auf der Akte und im Verlegungs- oder Entlassungsbrief ist wichtig. Ist der Patient entlassen oder verlegt worden, muss eine Grundreinigung des Zimmers und der benutzten Gegenstände erfolgen.

Eine sorgfältige Beobachtung der epidemiologischen Situation und der sinnvolle und adäquate Gebrauch von Antibiotika sind elementar. Mit all diesen Maßnahmen kann man den NDM-1-Bakterien Einhalt gebieten, aber internationale Standards für das Screening und die Hygiene, den fachgemäßen und überlegten Einsatz der bisherigen Antibiotika sind dringend erforderlich, ebenso wie neue Antibiotikaentwicklungen (4).

Univ.-Prof. Dr. med. Dieter Häussinger

Dr. med. Simone Kann

Klinik für Gastroenterologie,
Hepatologie und Infektiologie

Universitätsklinikum Düsseldorf

E-Mail: simone.kann@med.uni-duesseldorf.de

Dr. med. Vera Zylka-Menhorn

@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4510

1.
Robert Koch Institut (RKI): Zum Auftreten von multiresistenten Erregern mit der Carbapenemase NDM-1 („Neu-Delhi Metallo-Beta-Laktamase“), Stand 19.08.2010.
2.
Witte W, Mielke M: ß-Laktamasen mit breitem Wirkungsspektrum, Bundesgesundheitsbl. Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 2003; 46: 881–90.
3.
CDC Centers for Disease Control and Prevention Report (MMWR): Detection of Enterobacteriaceae Isolates Carrying Metallo-Beta-Lactamases, United States, 2010; 59 (24); 750.
4.
Kumarasamy KK, Toleman MA, Walsh TR, Bagaria J, Butt F, Balakrishnan R, Chaudhary U, Doumith M, Giske CG, Irfan S, Krishnan P, Kumar AV, Maharjan S, Mushtaq S, Noorie T, Paterson DL, Pearson A, Perry C, Pike R, Rao B, Ray U, Sarma JB, Sharma M, Sheridan E, Thirunarayan MA, Turton J, Upadhyay S, Warner M, Welfare W, Livermore DM, Woodford N: Emergence of a new antibiotic resistance mechanism in India, Pakistan, and the UK: a molecular, biological, and epidemiological study, Lancet Infect. Dis. 2010; 10 (9): 597–602. MEDLINE
5.
Yong D, Toleman MA, Giske CG, Cho HS, Sundman K, Lee K, Walsh TR: Characterization of a New Metallo-ß-Laktamase Gene, blaNDM-1, and a Novel Erythromycin Esterase Gene Carried on a Unique Genetic Structure in Klebsiella pneumonia Sequence Type 14 from India, Antimicrob. Agents Chemother 2009; 53 (12): 5046–54. MEDLINE
6.
Health Protection Report: Multi-resistant hospital bacteria linked to India and Pakistan. 2009; Vol. 3, No. 26.
7.
Theuretzbacher U: Beta-Lactamasen und Beta-Lactamase-Inhibitoren, Chemother J 2004; 5: 206–17.
8.
Mims C et al.: Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie, 2. Auflage, Urban & Fischerverlag. 2006; 507–13.
1.Robert Koch Institut (RKI): Zum Auftreten von multiresistenten Erregern mit der Carbapenemase NDM-1 („Neu-Delhi Metallo-Beta-Laktamase“), Stand 19.08.2010.
2.Witte W, Mielke M: ß-Laktamasen mit breitem Wirkungsspektrum, Bundesgesundheitsbl. Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 2003; 46: 881–90.
3.CDC Centers for Disease Control and Prevention Report (MMWR): Detection of Enterobacteriaceae Isolates Carrying Metallo-Beta-Lactamases, United States, 2010; 59 (24); 750.
4.Kumarasamy KK, Toleman MA, Walsh TR, Bagaria J, Butt F, Balakrishnan R, Chaudhary U, Doumith M, Giske CG, Irfan S, Krishnan P, Kumar AV, Maharjan S, Mushtaq S, Noorie T, Paterson DL, Pearson A, Perry C, Pike R, Rao B, Ray U, Sarma JB, Sharma M, Sheridan E, Thirunarayan MA, Turton J, Upadhyay S, Warner M, Welfare W, Livermore DM, Woodford N: Emergence of a new antibiotic resistance mechanism in India, Pakistan, and the UK: a molecular, biological, and epidemiological study, Lancet Infect. Dis. 2010; 10 (9): 597–602. MEDLINE
5.Yong D, Toleman MA, Giske CG, Cho HS, Sundman K, Lee K, Walsh TR: Characterization of a New Metallo-ß-Laktamase Gene, blaNDM-1, and a Novel Erythromycin Esterase Gene Carried on a Unique Genetic Structure in Klebsiella pneumonia Sequence Type 14 from India, Antimicrob. Agents Chemother 2009; 53 (12): 5046–54. MEDLINE
6. Health Protection Report: Multi-resistant hospital bacteria linked to India and Pakistan. 2009; Vol. 3, No. 26.
7.Theuretzbacher U: Beta-Lactamasen und Beta-Lactamase-Inhibitoren, Chemother J 2004; 5: 206–17.
8.Mims C et al.: Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie, 2. Auflage, Urban & Fischerverlag. 2006; 507–13.
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