EDITORIAL
Psychische Erkrankungen bei Spitzensportlern: Stigmatisierung weicht auf


Ein trauriges Ereignis – der Suizid des Torwarts Robert Enke vor mehr als einem Jahr – scheint zu einem Umdenken zu führen. Erstens: Die Sportwelt erkennt an, dass auch Spitzensportler psychisch krank werden können. Zweitens: Die besondere Stigmatisierung psychisch kranker Spitzensportler weicht auf. Prof. Dr. med. Frank Schneider, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), meint sogar, dass Spitzensportler heute viel leichter sagen können: „Ich war depressiv.“
Ob sie diesen Satz auch im Präsens aussprechen würden, ist jedoch fraglich, denn die Austauschbarkeit der einzelnen Person bei sportlichem Misserfolg ist Teil des Systems. Und dass eine unbehandelte Depression zu Leistungseinbußen führt, steht außer Frage. Schneider, der an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Aachen arbeitet, berichtet von deutlich mehr Besuchen hilfesuchender Spitzensportler in seiner Klinik als noch im Jahr zuvor – Prominente, die seiner Meinung nach ganz bewusst eine Therapie in der abgelegenen Grenzstadt suchen, um nicht erkannt zu werden. Behandlungsbedürftige seelische Erkrankungen müssen nicht das Ende einer Karriere im Leistungssport bedeuten. Die verfügbaren Behandlungsberichte zeigten größtenteils das Gegenteil, betont Dr. med. Valentin Z. Markser, der Robert Enke psychotherapeutisch betreut hat.
Der Kölner Facharzt für Psychosomatische Medizin engagiert sich jetzt im neuen Referat „Sportpsychiatrie“ der DGPPN, dessen Aufbau angestoßen wurde durch den Diskussionsprozess nach Robert Enkes Tod. Denn dadurch ist in der Fachwelt vor allem deutlich geworden, dass psychische Erkrankungen bei Spitzensportlern bislang kein Thema waren. Diese Lücke soll nun mit der neuen Plattform für fachlichen Austausch geschlossen werden: Grundlagenforschung, Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen im Sport, Fortbildung von Trainern und Vereinen sind die Ziele des Fachreferats. Es soll auch eine Koordinierungsstelle aufgebaut werden, die Sportlern niedrigschwellige Hilfe vermitteln kann. Dies erscheint nötig trotz der Präsenz von Sportpsychologen, die den meisten Trainerteams inzwischen angehören. Doch die Nähe zum Verein macht sie gerade nicht zur Vertrauensperson für betroffene Sportler. Ihre Aufgabe ist es, zu motivieren und die Leistung zu optimieren. Sie haben weder den Anspruch noch die Ausbildung, therapeutisch tätig zu sein.
Sportler brauchen Psychiater und Psychotherapeuten, die sich mit den extremen körperlichen und seelischen Beanspruchungen im Leistungssport auskennen. So kann es etwa sein, dass Leistungssportler ihre Stimmung lange falsch einschätzen, betont Markser. Der Arzt muss sich mit den Anti-Doping-Richtlinien auskennen. Das Overtrainingsyndrom muss bekannt sein oder das vielfach erhöhte Auftreten von Essstörungen in den ästhetischen Sportarten. Vieles muss noch erforscht werden, doch eines ist inzwischen klar: Die Selektionshypothese, wonach es im Leistungssport keine psychischen Erkrankungen geben kann, weil sich nur mental starke Athleten durchsetzen, ist nicht mehr haltbar.