

Höchstens zwei Drittel unserer Patienten nehmen ihre Medikation so ein, wie es von uns empfohlen wurde. Dies scheitert mitunter an Vorstellungen, denen nur schwerlich Genüge getan werden kann. „Ich will Deutsch!“, so erreicht die derzeitige Migrationsdebatte meinen Rezeptblock. „Wenn eine Pille, dann eine deutsche Pille!“ Dies werte ich als löbliches Verlangen zur Stärkung der Binnennachfrage, betrachtet man indes die zur Diskussion stehenden Ingredienzien der betreffenden Arznei, so türmt sich ein differenzialtherapeutisches Problem auf. Enthalten ist in dem Präparat unter anderem Siliciumdioxid, das durch Aufschließen von Quarzsand gewonnen wird. Da kann man schon davon ausgehen, dass unsere Nord- und Ostseestrände hinreichend Ausgangsmaterial liefern. Beim Farbstoff E 172, also Eisenoxid und dem Magnesium im Magnesiumstearat ist es aber wahrscheinlicher, dass diese Rohstoffe aus der Volksrepublik China stammen, da es reich an diesen Vorkommen ist. Insofern kann es durchaus sein, dass sein Präparat einen Migrationshintergrund hat und nicht vollständig deutsch ist. „Ich will nichts aus China, ich will eine deutsche Tablette!“, fordert mein Patient. Die in seinem Präparat enthaltene Stearinsäure wird aus Kokosöl gewonnen, also einer Pflanze, die man nicht unbedingt als heimisch bezeichnen kann. Nicht ganz ausschließen kann man zudem, dass die Herstellung der Verpackungen und Blister nach Osteuropa verlagert wurde, um die Produktion zu verbilligen, allerdings schweigen sich die Pharmakonzerne darüber aus. „Hören Sie schlecht? Sie bringen mich noch auf die Kokospalme! Ich will Deutsch!“ Ich sehe trotz der Bemühungen von osteuropäischen Fabrikarbeitern, chinesischen Bergleuten und karibischen Kokospalmen die Therapietreue den Bach runtergehen.
„Wenn Sie mir kein deutsches Präparat verschreiben können, gehe ich!“ Nicht doch! Er müsse bedenken, dass der Betablocker, den ich ihm gerne verschreiben würde, von einem deutschen Professor erfunden wurde, dass deutsche Chemiker ins Ausland gehen, um die dortige Produktion von pharmazeutischen Grundstoffen zu gewährleisten, dass deutsche Geschäftsleute sich immer mehr in der Volksrepublik China engagieren! Zugegeben, seine Pille hat zwar einen Migrationshintergrund, aber deutsche Wissenschaftler, Mediziner und Geschäftsleute synthetisieren, studieren und bilanzieren in der ganzen Welt – nur für ihn! „Ist das wirklich so?“ Ganz sicher ist das so!
Außerdem – wenn ich mir seine durch mallorquinische Bräune veredelten Gesichtszüge betrachte, perfekt in Kombination mit seiner französischen Designerbrille und dem feinen italienischen Zwirn, übertroffen nur von seinem erlesenen englischen Schuhwerk – ein bisschen Migration ist doch überall, nicht wahr? Weltgewandt wie er ist, kann er doch gegen meine Pille nichts haben, oder? „Ist ja gut, ich nehme sie.“ Erleichtert fülle ich das Rezept auch. Für die Therapietreue meiner Patienten gebe ich alles, auch das Allerletzte.
Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.