ArchivDeutsches Ärzteblatt49/2010Arzneimittelprozess: Duogynon erneut vor Gericht

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Arzneimittelprozess: Duogynon erneut vor Gericht

Neuber, Harald

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Ein Hormonpräparat der Schering AG sorgte schon Ende der 70er Jahre für Aufregung in der Bundesrepublik. Nun soll der Fall erneut aufgerollt werden.

André Sommer ist sich seiner Sache sicher. Der 34-jährige Berufsschullehrer aus der kleinen Gemeinde Pfronten an der Grenze zu Tirol sitzt ruhig neben seinem Anwalt Jörg Heynemann. Das grüne Karohemd steckt in der Jeans, seine Hände hat er auf dem Tisch gefaltet. Konzentriert hört er den Ausführungen des Richters Udo Spuhl zu. Sommer verliert nicht seine Ruhe, als der Vorsitzende der 7. Zivilkammer ihm alle Hoffnungen zu nehmen droht. Seine Ansprüche gegenüber dem Bayer-Schering-Konzern seien 2005 verjährt. „Nach meiner Rechtsauffassung“, sagt Spuhl und schaut kurz von seinem Manuskript auf, „war die Einnahme des Medikaments 1975 das letzte vorwerfbare Verhalten“. Und nach Ansicht des Bundesgerichtshofs komme es alleine auf den Eintritt des Schadens an.

Ein Duogynon- Opfer wartet am 30. November vor dem Landgericht Berlin auf den Prozessbeginn. Am 11. Januar 2011 wird das Urteil verkündet. Foto: dpa
Ein Duogynon- Opfer wartet am 30. November vor dem Landgericht Berlin auf den Prozessbeginn. Am 11. Januar 2011 wird das Urteil verkündet. Foto: dpa

Der Schaden aber belastet Sommer bis heute. Weil seine Mutter zu Beginn der Schwangerschaft das Hormonpräparat Duogynon der damaligen Schering AG eingenommen hatte, kam ihr Sohn mit erheblichen Missbildungen von Blase und Genitalien zur Welt. Zwölf Operationen, sagte er, habe er sich seither unterziehen müssen.

Duogynon wurde in der Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis Anfang 1980 unter diesem Handelsnamen und zuletzt unter der Bezeichnung Cumorit eingesetzt. Das Kombipräparat aus den Sexualhormonen Progesteron und Estradiol (Wirkstoffe im Dragee: 10 mg Norethisteronacetat, 0,02 mg Ethinylestradiol) wurde vor allem als Schwangerschaftstest verwendet. Nach der Einnahme bekamen die Patientinnen binnen einer Woche eine Blutung. Blieb sie aus, wies dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Schwangerschaft hin. Das vergleichsweise komplizierte Verfahren war notwendig, weil die heute üblichen Urintests zur Bestimmung einer Schwangerschaft erst 1980 auf den Markt kamen. In der geringeren Zahl der Fälle wurde das hormonelle Arzneimittel bei sekundärer Amenorrhö, in Einzelfällen und hochdosiert zum Schwangerschaftsabbruch verwendet.

Bayer-Schering verweigert die Einsicht in die Unterlagen

Der Duogynon-Skandal hatte damals schon die westdeutsche Republik erschüttert. Ende der 70er Jahre nahm der Protest gegen die Schering AG massiv zu. In Großbritannien, wo das Kombipräparat seit 1958 unter dem Markennamen Primodos auf dem Markt war, wurde den Gesundheitsbehörden zufolge ein Zusammenhang zwischen dem Mittel und schweren Missbildungen nachgewiesen. Tausende Kinder überlebten mit Geburtsfehlern, darunter Herz- und Organschäden, gespaltenen Gaumen, neurologischen Defekten oder deformierten Genitalien.

Im aktuellen Verfahren weist der inzwischen fusionierte Bayer-Schering-Konzern alle Schuld von sich und verweigert den Einblick in die Unterlagen. Das Unternehmen zieht sich auf ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1980 zurück, in dem der Hersteller vor deutschen Gerichten von der Verantwortung entbunden wurde. Anwalt Heynemann und die Betroffenen einer Interessengemeinschaft lassen diese Position nicht gelten. Die rechtliche Lage, sagt der Medizinjurist, habe sich 1980 erheblich von der heutigen Gesetzesgrundlage unterschieden. So mussten damals die Kläger den Beweis über die embryonale Toxizität führen. Nach der Novelle des entsprechenden § 84 des Arzneimittelgesetzes im Jahr 2002 liegt die Nachweispflicht nun beim Pharmaunternehmen. Zudem, so heißt es von den mutmaßlichen Duogynon-Opfern, seien inzwischen neue Dokumente bekannt, die den Konzern belasteten.

André Sommer jedenfalls will auch nach der Verhandlung in Berlin nicht aufgeben. „Es ist nun eingetroffen, was wir befürchtet haben“, sagte er gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt, „und das betrifft nicht nur mich, sondern auch die anderen Opfer.“ Anwalt Heynemann gibt deren Zahl mit 200 gesicherten Fällen in Deutschland an. Seitdem er die Initiative für einen neuen Prozess ergriffen habe, habe er von anderen Betroffenen mehr als 2 000 E-Mails bekommen, berichtete Sommer. Unterstützung erhielt er auch von Dutzenden Mitgliedern eines Interessenverbandes, die im Gerichtssaal mit uniformen T-Shirts Platz genommen hatten. „Duogynon“, war darauf zu lesen. „Wir verjähren nicht.“

Das Urteil in erster Instanz soll am 11. Januar kommenden Jahres gefällt werden.

Harald Neuber

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