ArchivDeutsches Ärzteblatt50/2010Religion: Unverbindliches Angebot
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Wie vermittelt man in einem glaubensfernen Land „Religion“? Das Deutsche Hygiene-Museum versucht es.

Ausgerechnet das Dresdener Hygiene-Museum, das sich üblicherweise der Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft widmet, präsentiert seit Oktober eine Schau, technisch raffiniert und interaktiv, über religiöse Einstellungen in Deutschland. Und ausgerechnet in Ostdeutschland, der Region Deutschlands, in der 70 Prozent der Bevölkerung keiner Konfession angehören und sich 20 Prozent als überzeugte Atheisten bezeichnen, so viel wie nirgends sonst in Europa.

Bezüge zwischen Religion und Medizin gibt es zwar reichlich, doch von denen ist im „Kraftwerk Religion“, so der Ausstellungstitel, kaum die Rede. Die Sächsische Landesärztekammer will das jedoch im März mit einer Vortragsreihe nachholen und hat sich dazu mit der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen zusammengetan.

Kulturtransfer: Buddha aus Marburg, ursprünglich China, 10./13. Jahrhundert. Foto: Christoph Triplett/dhmd
Kulturtransfer: Buddha aus Marburg, ursprünglich China, 10./13. Jahrhundert. Foto: Christoph Triplett/dhmd

„Was bedeutet es für die Ausstellung“, fragt deren Kuratorin, Petra Lutz, „dass sie in der stark säkularisierten ehemaligen DDR stattfindet und daher zu erwarten ist, dass viele Besucher keine religiös Handelnden sind?“ Ihre Antwort: Eine Präsentation mit distanziertem Blick, ausgehend von einem pluralen Religionsbegriff.

Religionsneutrale Präsentation

Die Herausforderung bewältigen Lutz und ihr kreatives Team, indem sie in Deutschland praktizierte Glaubensrichtungen nebeneinanderstellen. Ohne Gewichtung, ungeachtet ihrer öffentlichen Bedeutung. Das liegt im entkirchlichten Ostdeutschland – lediglich 29 Prozent gehören einer christlichen Kirche an – näher als im Westen, in dem der Prozess der Religionsferne nur schleichend voranschreitet und wo eine solch neutrale Präsentation wohl auf kirchenoffizielle Vorbehalte stoßen würde.

Nicht so in Dresden. Hier können in einem „wenig streitigen“ Streitgespräch, parallel zur religionsneutralen Ausstellung, die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Dr. Ellen Ueberschär, und der linkskatholische Staatsrechtler Prof. Dr. Christoph Möllers die ihnen aufgegebene Frage, wie viel Religion der Staat vertrage, nicht beantworten. Wohl stellt sich alsbald heraus, dass das (westdeutsche) Grundgesetz (GG), dem die DDR vor 20 Jahren beigetreten ist, erheblich von den großen christlichen Kirchen beeinflusst wurde. Der Staat gebe zwar vor, religionsneutral zu sein, erklärte Möllers, privilegiere aber gemäß GG die Kirchen, billige hingegen auch Andersgläubigen Religionsfreiheit im Einzelfall zu. Die Grundrechte seien aus „religiös motivierter Normativität entwickelt“ worden, so Möllers. Inzwischen hätten sie ihrerseits „eine fast religiöse Bedeutung angenommen“.

Auch hier ist ein Prozess im Gange, der zu tatsächlicher staatlicher Neutralität führen könnte. Möllers wie Ueberschär beobachten zwar ein zunehmendes Interesse an Orientierung, während aber Ueberschär hofft, davon werde auch das traditionelle Christentum profitieren, macht Möllers ein widersprüchliches Phänomen aus: Religion gewinne tendenziell an Interesse, „während die Kirchenangehörigkeit abnimmt und damit die Bedeutung der Funktionsträger“. Das schwächt gerade die, auf die der Staat immer noch setzt, um ethische Positionen bestimmen zu können. Ob mit oder ohne kirchlichen Einfluss – die Wertvorstellungen in Ost und West sind weitgehend gleich, ergab 2009 die „Europäische Wertestudie“. Ursprünglich religiös fundierte Werte wurden zu bürgerlichen Tugenden.

Was ist Kultur, was Religion?

Gegenwind kommt auch aus Straßburg. Die Europäische Menschenrechtskonvention mache keinen Unterschied zwischen den Religionen, konstatiert die neu bestallte Richterin am Bundesverfassungsgericht, Renate Jaeger, in einem Interview („Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 4. Dezember). Jaeger kommt vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) für Menschenrechte. Das GG möge einen Unterschied machen – noch –, doch der EuGH, „grenzt klar voneinander ab, was der Kultur und was der Religion geschuldet ist“. So könnte es, setzt man den Gedankengang fort, auch in Deutschland kommen.

Die Ausstellungsmacher im Hygiene-Museum nehmen die Entwicklung schon vorweg und stellen mit dem kühlen Blick des Ethnologen Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus und, gleichsam als Konfession sui generis, Atheismus nebeneinander und trennen säuberlich innere Glaubensüberzeugungen und Wirken in der Gesellschaft. Zur Vorbereitung der Ausstellung haben sie 58 mehr oder weniger Glaubende in strukturierten Interviews zu Grundfragen ihres persönlichen Glaubens und zum gesellschaftlichen Zusammenleben auf der Basis ihres Glaubens befragt. Interviewt wurden ganz „normale“, aber auch ein paar prominente Gläubige, so Andrea Nahles, katholisch, oder Thomas de Maizière, evangelisch, oder Necla Kelek, islamisch. Auffallend: Auf Vertreter der Hierarchie wurde verzichtet, abgesehen von der stets präsenten Margot Käßmann, doch die zählt inzwischen formal ja nicht mehr zur Hierarchie. Sie alle antworteten vor der Videokamera auf Fragen wie: „Woher kommen wir, wohin gehen wir?“, „Haben Sie Angst vor dem Tod?“, „Zweifeln Sie manchmal an Gott?“, „Was ist Sünde?“, „Was begeistert Menschen am Islam (wahlweise Christentum etc.)?“ Auch nach aktuellen Befürchtungen wird gefragt, etwa: „Wie stehen Sie zur Kopftuchdebatte?“, „Haben Sie Angst vor religiöser Gewalt?“, „Möchten Sie andere von Ihrem Glauben überzeugen?“ Die Vielzahl der Fragen zu öffentlich umstrittenen Themen lässt auf ein spezielles Anliegen der Ausstellungsmacher schließen, nämlich über das vermeintliche/tatsächliche Konfliktpotenzial von „Religion“ aufzuklären – und möglichst zu beruhigen. Als gemeinsamer Nenner von Gläubigen wie Ungläubigen entpuppt sich eine allseitige Toleranz: Jeder soll, folgt man Kopftuchträgerinnen, Evangelikalen, Atheisten, Buddhisten und Kirchentreuen, nach seiner Fasson selig werden. Die Harmonie wird gelegentlich gestört, etwa wenn ein junger Atheist bezweifelt, dass das Kopftuch freiwillig getragen wird. Die Grenze der Toleranz sehen die Interviewten zumeist dann erreicht, wenn Religionen diskriminiert oder Menschen religiös motivierte Verhaltensvorschriften aufgezwungen werden. Gewalt vertritt offen niemand, die Friedfertigkeit von Religion steht obenan. Mag sein, dass unter den 58 Interviewten keine derart radikal Gläubigen waren, dass die Harmonie ernstlich hätte gestört werden können. Manche der friedlichen Gläubigen gestehen indes ein, Angst vor religiös daherkommender Gewalt zu haben. Andrea Nahles etwa. Sie erwähnt den Islam, nennt aber, sichtlich wieder um Ausgewogenheit bemüht, gleich auch radikale Gruppierungen in den USA oder die Scientology (die die Dresdener Ausstellung ansonsten ausspart).

Zeitgemäß: Der heilige Isidor als Bildschirmschoner. Foto: dhmd/Judith Albert, Zürich
Zeitgemäß: Der heilige Isidor als Bildschirmschoner. Foto: dhmd/Judith Albert, Zürich

Ins ausgewogene Bild passt auch eine weitere Botschaft der Ausstellung: Religionen haben vieles gemeinsam: Streben nach Transzendenz, Erklärungen der letzten Dinge, Fundierung mit heiligen Büchern, Verehrung heiliger Zeichen und Reliquien, und nicht zuletzt die Rituale: Aufnahmerituale, Mannbarkeitsrituale, Prozessionen, Gebete. Auf Rituale und gemeinschaftsstiftende Symbole können selbst erklärte Nichtreligionen, die ansonsten auch gewalttätig Religion bekämpfen, wie die des Sozialismus, nicht verzichten: Das Thälmannbild im „Herrgottswinkel“, das Foto des Staatsratsvorsitzenden anstelle des Kreuzes, Jugendweihe statt Konfirmation oder Firmung, Aufmärsche anstelle von Prozessionen.

Das Deutsche Hygiene-Museum hat reichlich Erfahrung mit der eingängigen Vermittlung komplexer Sachverhalte. Das kommt dieser Ausstellung, die eine Unzahl an Informationen aufzubereiten hat, zugute. Man arbeitet vorwiegend mit Videos. Ausstellungstücke gibt es zwar auch, sie dienen aber eher als Hingucker. Zum Beispiel der Koffer mit den Gerätschaften für die heilige Messe. Oder: eine Sammlung von Kopfbedeckungen katholischer Prälaten. Oder: eine Marienfigur, die zur Justitia umfunktioniert wurde. Einzelne Götter- und Buddhastatuen, der Koran auf Agfafilm, eine Thorarolle. Dann aber die Videos. Zu jeder der Fragen aus den Interviews steht ein Bildschirm mit Kopfhörer bereit, in grauen, dämpfenden Filz gebettet. Auf Knopfdruck erscheinen die Interviewpartner mit ihrer Antwort auf die jeweils aufgerufene Frage. Der Besucher wandert auf seiner Suche nach Orientierung im Religionsdschungel von Station zu Station und vergleicht die Botschaften: Was sagt zu Frage X der deutsche Hindu und die Zen praktizierende Katholikin, was der evangelische Pfarrer oder der bekennende Atheist? Ein Markt der Meinungen. Man kann zugreifen oder weitergehen.

Schließlich landet der Besucher im letzten Raum. Weit und dunkel. Auf einer wandfüllenden Projektion sieht er übergroße Betende. In einer Kathedrale, einem Tempel, einer Moschee. In einer Endlosschleife. Die Szenerien gehen ineinander über und fassen so die unterschwellige Botschaft der Ausstellung zusammen: Irgendwie sind doch alle Religionen gleich.

Den Besuchern und Besucherinnen gefällt der plurale Blick. Im Gespräch und im Gästebuch loben sie das „respektvolle Plädoyer für die Vielfalt der Religionen“, die Anstöße zum Nachdenken. Ein älterer Herr sieht sich hingegen bestätigt, auch ohne Religion leben zu können. Die meisten Besucher sind jung und neugierig. Sie besichtigen stundenlang und unterstreichen so eine Untersuchung Leipziger Religionssoziologen. Die haben festgestellt, dass die junge Generation in Ostdeutschland sich in religiöser Hinsicht „offener, aber auch uneindeutiger als die vorhergehenden Generationen“ erweist. Die Klasse 8 a einer Oberschule verabschiedet sich: „Wir fanden das voll schön.“

Norbert Jachertz

Informationen

Die Ausstellung „Kraftwerk Religion“ läuft bis 5. Juni 2011 (und endet damit mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag, der in Dresden stattfindet), geöffnet dienstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr. Ort: Deutsches Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1, 01069 Dresden-Meißen. Telefon: 0351 4846400, Informationen, auch zum Begleitprogramm (zum Beispiel den Medizin-Vorträgen im März) unter www.dhmd.de

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