THEMEN DER ZEIT: Blick ins Ausland
Todesstrafe in China: Organspender wider Willen?


Rund 6 100 Todesurteile wurden 1996 in China verhängt und in 4 367 Fällen umgesetzt. Damit kamen im Reich der Mitte laut amnesty international (ai) mehr Menschen durch einen Richterspruch zu Tode als in allen anderen Staaten der Welt zusammen. Die Menschenrechtsorganisation vermutet, daß die tatsächlichen Zahlen noch weit höher liegen. Zahlen gelten als Staatsgeheimnis
Offizielle Angaben sind seitens der chinesischen Regierung nicht zu bekommen; das Thema gilt als Staatsgeheimnis. Dabei beschränkt sich dieses Strafmaß nicht nur auf Schwerstverbrecher: Mit dem Inkrafttreten eines Strafgesetzbuches in China im Jahr 1980 stieg die Zahl der Delikte, für die die Todesstrafe verhängt werden kann, von 21 auf 68. Selbst einfacher Diebstahl hat in China viele Menschen das Leben gekostet. Die Kritik von Human Rights Watch, amnesty und anderen Organisationen gilt auch der Art, wie die Urteile zustande kommen: in Schnellverfahren! Diese werden oft innerhalb einer Woche anberaumt und abgeschlossen. Den Angeklagten bleibt so kaum Zeit für den Aufbau einer Verteidigung, und in vielen Fällen können sie nicht einmal auf einen Anwalt zurückgreifen. Nicht nur der exzessive Gebrauch der Todesstrafe wird von ai und Human Rights Watch scharf kritisiert. Die Vorwürfe gehen noch einen Schritt weiter: Nach Quellen von Human Rights Watch und amnesty international werden vielen Exekutierten im Anschluß an die Vollstreckung Organe zur Transplantation entnommen. Dies sind neben Nieren auch Herzen und Hornhaut. Der Bedarf an Organen werde ein paar Wochen vor der Vollstreckung mitgeteilt. Viele Todgeweihte werden daraufhin im Vorfeld ärztlich untersucht. Es wird ihnen Berichten von ai zufolge beispielsweise Blut entnommen, um auf diese Weise die notwendigen Daten für eine Transplantation zu erhalten. Der Grund für die Untersuchung kurz vor der Hinrichtung wird ihnen aber nicht genannt. Ferner sollen die Soldaten zum Teil angewiesen werden, die Verurteilten so zu erschießen, daß der Tod nicht direkt eintritt und Organe noch explantiert werden können. Somit sei längst nicht immer der Hirntod des unfreiwilligen Spenders sichergestellt. Die Organentnahme erfolge entweder im Krankenhaus oder auch teilweise direkt am Hinrichtungsort in dafür bereitgestellten Fahrzeugen.
Die Angehörigen werden von der Organentnahme nur in den seltensten Fällen unterrichtet. Meistens wird ihnen später lediglich die Asche der verbrannten Leiche übergeben. Wünscht die Familie die Aushändigung des Leichnams, werde dies von den Behörden zurückgewiesen oder würde nur bei der Bezahlung der Kosten für das Verfahren und die Inhaftierung getan, was aufgrund der hohen Summen sich aber keiner der Hinterbliebenen leisten könne. Bis vor ein paar Jahren bestritt die chinesische Regierung jegliche Organentnahme bei zum Tode Verurteilten. Mittlerweile ist seitens der chinesischen Botschaft in Bonn zu vernehmen, daß in Einzelfällen Todgeweihte als Organspender gedient haben, allerdings nur nach einer Einverständniserklärung des Verurteilten oder dessen Angehörigen. Organe als Exportartikel
Die Aussage von ai, daß 90 Prozent des Nierenbedarfs auf diese Weise gedeckt werden, weist die Botschaft entschieden zurück, gebe es doch ein den europäischen Staaten ähnliches System für Transplantationen und Organspender. Genauere Informationen über dessen Organisation bleiben aber sowohl die Botschaft als auch das Gesundheitsministerium in Peking schuldig. Laut Human Rights Watch und amnesty international werden die Organe nicht nur für Transplantationen an Chinesen genutzt, sondern zum Teil auch an Ausländer veräußert. Vor allem Reiche aus benachbarten asiatischen Staaten gehörten zu den "Organ-Kunden" Chinas. Diese müssen für die "Dienstleistung" deutlich tiefer in die Tasche greifen als die Einheimischen: Während ein Chinese zwischen 5 000 und 30 000 Yuan für die Operation bezahlen muß (etwa 875 bis 5 300 DM), wird für einen ausländischen Patienten rund 30 000 US-Dollar veranschlagt. Marc Seidel