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Nürnberger Ärzteprozess: Über die Zulässigkeit von Versuchen an Menschen


Als der Prozess am 9. Dezember 1946 begann, fuhr ein schneidender Wind über die Ruinenhügel Nürnbergs und warf Wolken groben Staubes gegen jedermann. Die Kälte war beklemmend – und so blieb die Atmosphäre. In dem großen Kerker, aus dem in den folgenden Wochen Nachricht um Nachricht – unheilvoll verspätet – kam, eröffnete sich keinem Schmerz die Gnade des Mitleids. In der wachsenden Wüste bröckelte jedes Leid nur immer noch ein Stück ab von dem, was einmal heil war.“ Mit dieser eindringlichen Schilderung beginnt Alexander Mitscherlich, von den westdeutschen Ärztekammern als Beobachter zum Nürnberger Ärzteprozess gesandt, in „Das Diktat der Menschenverachtung“ seine erste Dokumentation des Prozessverlaufs. Der Ärzteprozess war der erste der insgesamt zwölf Folgeverfahren des Internationalen Hauptkriegsverbrecherprozesses. Keiner erregte eine solche Betroffenheit bei den Beobachtern: Hier wurde gegen Ärzte verhandelt, die bei medizinischen und pseudomedizinischen Versuchen ihre menschlichen Opfer wie Versuchskaninchen behandelt hatten.
Unterkühlungsversuche im KZ Dachau: Häftlinge wurden gezwungen, über Stunden in Eiswasser auszuharren. Viele überlebten diese Quälerei nicht. Fotos: dpa
Angeklagt waren 23 Personen, darunter 20 Ärzte, denen entweder die Verantwortung für die Medizinverbrechen oder die direkte Beteiligung daran vorgeworfen wurde. Bis zum Sommer 1946 hatten die amerikanischen Ankläger noch keine Entscheidung darüber getroffen, wer überhaupt vor Gericht gestellt werden sollte. Man entschied sich schließlich dafür, vor allem den Führungskräften des NS-Gesundheitswesens den Prozess zu machen. Ranghöchster Angeklagter war Prof. Dr. med. Karl Brandt, ehemaliger Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Dessen Konkurrent beim Kampf um die Führung im NS-Gesundheitswesen, Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, der ebenfalls vor das Militärtribunal gebracht werden sollte, hatte sich dem Verfahren durch Selbstmord im Nürnberger Gefängnis entzogen. Dafür kam sein Stellvertreter, Prof. Dr. med. Kurt Blome, auf die Anklagebank. Er sollte unter anderem die NS-Forschungen zur biologischen Kriegsführung koordiniert haben; vermutet wird, dass US-Interessen an den Forschungsergebnissen nicht unwesentlich zu seinem Freispruch im Nürnberger Ärzteprozess beitrugen. Über die Operation „Paperclip“ bekam Blome 1951 einen Arbeitsvertrag für die USA, der aber nach kurzer Zeit wieder aufgelöst wurde, weil er offenbar nichts Wesentliches zu den US-Forschungsanstrengungen beitragen konnte.
Blick auf die 23 Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess
• Höhenversuche im KZ Dachau: Experimente mit Häftlingen in Unterdruckkammern, um menschliches Überleben in extremen Höhen zu messen,
• Unterkühlungsversuche im KZ Dachau: Um herauszufinden, wie man unterkühlte Personen am besten wieder erwärmt, zwang man Häftlinge, über Stunden in Eiswasser auszuharren.
• Fleckfieber-Experimente in den KZ Buchenwald und Natzweiler: Hunderte von gesunden Häftlingen wurden infiziert, um die Wirksamkeit von Impfstoffen zu testen.
• Sulfonamid-Experimente im KZ Ravensbrück: Häftlinge wurden vorsätzlich verwundet, die Wunden wurden bakteriell infiziert; im Anschluss testete man die Heilwirkung von Sulfonamid und anderen Wirkstoffen.
• Gift-Experimente im KZ Buchenwald: An Häftlingen wurde die Wirkung von Giften beobachtet; diejenigen, die nicht daran starben, wurden anschließend ermordet, um bei einer Autopsie die Wirkmechanismen zu erkunden.
• Experimente zur Trinkbarmachung von Meerwasser: Häftlinge erhielten über einen längeren Zeitraum ausschließlich chemisch behandeltes Meerwasser zu trinken.
• Ermordung Zehntausender tuberkulosekranker Polen,
• Ermordung Hunderttausender psychisch kranker oder behinderter Menschen im „Euthanasie“-Programm.
„Der Übermacht furchtbarer Tatsachen“, schrieb Alexander Mitscherlich 1947, „– nun in der Stille des Gerichtssaales ausgebreitet – vermag in der Tat nur der Herr zu werden, der von der Katastrophe zurück auf ihre historischen Motive blickt. Dies ist die einzige erlaubte Objektivität – denn wie immer das Urteil der Richter lauten möge, ganz unerlaubt wäre es, nur in den 23 Angeklagten mehr oder weniger Schuldige, abnorme Charaktere zu erblicken.“ Mehr denn je weiß man heute, dass das deutsche Wissenschaftssystem mit seinen tragenden Institutionen im Rahmen der medizinischen Forschung sehr eng mit dem NSUnrechtssystem verstrickt war. Die Zahl derjenigen Ärzte, die direkt oder indirekt mit den grausamen Menschenversuchen zu tun hatten, war sehr viel größer, als der Nürnberger Ärzteprozess über lange Zeit viele glauben machte.
Sieben der Angeklagten wurden vom Gericht zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 2. Juni 1948 im Hof des Gefängnisses Landsberg durch Erhängen vollstreckt. Sechs der Angeklagten wurden freigesprochen, die restlichen Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslang. Die letzten der zu Haftstrafen Verurteilten kamen 1955 frei. Viele der überlebenden Opfer litten ihr Leben lang an den ihnen zugefügten Verletzungen. Thomas Gerst
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