ArchivMedizin studieren1/2007Nürnberger Ärzteprozess: Über die Zulässigkeit von Versuchen an Menschen

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Nürnberger Ärzteprozess: Über die Zulässigkeit von Versuchen an Menschen

Gerst, Thomas

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LNSLNS Vor 60 Jahren wurden die Urteile im Nürnberger Ärzteprozess gesprochen. Unvorstellbar Grausames war Menschen zu Forschungszwecken von Ärzten angetan worden.

Als der Prozess am 9. Dezember 1946 begann, fuhr ein schneidender Wind über die Ruinenhügel Nürnbergs und warf Wolken groben Staubes gegen jedermann. Die Kälte war beklemmend – und so blieb die Atmosphäre. In dem großen Kerker, aus dem in den folgenden Wochen Nachricht um Nachricht – unheilvoll verspätet – kam, eröffnete sich keinem Schmerz die Gnade des Mitleids. In der wachsenden Wüste bröckelte jedes Leid nur immer noch ein Stück ab von dem, was einmal heil war.“ Mit dieser eindringlichen Schilderung beginnt Alexander Mitscherlich, von den westdeutschen Ärztekammern als Beobachter zum Nürnberger Ärzteprozess gesandt, in „Das Diktat der Menschenverachtung“ seine erste Dokumentation des Prozessverlaufs. Der Ärzteprozess war der erste der insgesamt zwölf Folgeverfahren des Internationalen Hauptkriegsverbrecherprozesses. Keiner erregte eine solche Betroffenheit bei den Beobachtern: Hier wurde gegen Ärzte verhandelt, die bei medizinischen und pseudomedizinischen Versuchen ihre menschlichen Opfer wie Versuchskaninchen behandelt hatten.

Unterkühlungsversuche im KZ Dachau: Häftlinge wurden gezwungen, über Stunden in Eiswasser auszuharren. Viele überlebten diese Quälerei nicht. Fotos: dpa
Unterkühlungsversuche im KZ Dachau: Häftlinge wurden gezwungen, über Stunden in Eiswasser auszuharren. Viele überlebten diese Quälerei nicht. Fotos: dpa
Gegenstand der Anklage waren vor allem medizinische Experimente, die an KZ-Häftlingen ohne Rücksicht auf deren Gesundheit und Leben vorgenommen worden waren. Aber auch die Verantwortung für den Massenmord an psychisch kranken und behinderten Menschen sowie Sterilisationsversuche an Häftlingen wurden den Angeklagten zur Last gelegt. Obwohl die Alliierten sehr schnell über das Ausmaß der Medizinverbrechen informiert waren, war das Zustandekommen des Nürnberger Ärzteprozesses zunächst nicht sicher. Zum einen schien den Alliierten dort, wo sie für sich verwertbare Ergebnisse erhofften, die Kooperation mit Beschuldigten opportuner als deren Anklage. Zum anderen befürchtete man als Folge eines Prozesses, in dem über medizinische Versuche an Menschen verhandelt würde, einen allgemeinen Vertrauensverlust in die experimentelle Medizin und Wissenschaft. Der Physiologe Andrew Ivy, von der American Medical Association als Sachverständiger zu den Prozessvorbereitungen entsandt, schlug vor, Richtlinien zu formulieren, unter welchen Bedingungen Versuche an Menschen akzeptabel seien. In seinem Urteilsspruch vom 20. April 1947 griff das Militärgericht diese Richtlinien auf; es formulierte die zehn Grundsätze „über zulässige medizinische Versuche“, die als Nürnberger Kodex in die medizinethische Diskussion eingegangen sind.

Angeklagt waren 23 Personen, darunter 20 Ärzte, denen entweder die Verantwortung für die Medizinverbrechen oder die direkte Beteiligung daran vorgeworfen wurde. Bis zum Sommer 1946 hatten die amerikanischen Ankläger noch keine Entscheidung darüber getroffen, wer überhaupt vor Gericht gestellt werden sollte. Man entschied sich schließlich dafür, vor allem den Führungskräften des NS-Gesundheitswesens den Prozess zu machen. Ranghöchster Angeklagter war Prof. Dr. med. Karl Brandt, ehemaliger Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Dessen Konkurrent beim Kampf um die Führung im NS-Gesundheitswesen, Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, der ebenfalls vor das Militärtribunal gebracht werden sollte, hatte sich dem Verfahren durch Selbstmord im Nürnberger Gefängnis entzogen. Dafür kam sein Stellvertreter, Prof. Dr. med. Kurt Blome, auf die Anklagebank. Er sollte unter anderem die NS-Forschungen zur biologischen Kriegsführung koordiniert haben; vermutet wird, dass US-Interessen an den Forschungsergebnissen nicht unwesentlich zu seinem Freispruch im Nürnberger Ärzteprozess beitrugen. Über die Operation „Paperclip“ bekam Blome 1951 einen Arbeitsvertrag für die USA, der aber nach kurzer Zeit wieder aufgelöst wurde, weil er offenbar nichts Wesentliches zu den US-Forschungsanstrengungen beitragen konnte.

Blick auf die 23 Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess
Blick auf die 23 Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess
Andere Angeklagte hatten sich schwerwiegenderer Verbrechen schuldig gemacht oder waren mit ihren Forschungsergebnissen für die Alliierten nicht interessant genug. Hauptpunkte der Anklage waren „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Ankläger bezogen sich dabei vor allem auf die medizinischen Experimente. Im Einzelnen ging es um
Höhenversuche im KZ Dachau: Experimente mit Häftlingen in Unterdruckkammern, um menschliches Überleben in extremen Höhen zu messen,
Unterkühlungsversuche im KZ Dachau: Um herauszufinden, wie man unterkühlte Personen am besten wieder erwärmt, zwang man Häftlinge, über Stunden in Eiswasser auszuharren.
Fleckfieber-Experimente in den KZ Buchenwald und Natzweiler: Hunderte von gesunden Häftlingen wurden infiziert, um die Wirksamkeit von Impfstoffen zu testen.
Sulfonamid-Experimente im KZ Ravensbrück: Häftlinge wurden vorsätzlich verwundet, die Wunden wurden bakteriell infiziert; im Anschluss testete man die Heilwirkung von Sulfonamid und anderen Wirkstoffen.
Gift-Experimente im KZ Buchenwald: An Häftlingen wurde die Wirkung von Giften beobachtet; diejenigen, die nicht daran starben, wurden anschließend ermordet, um bei einer Autopsie die Wirkmechanismen zu erkunden.
Experimente zur Trinkbarmachung von Meerwasser: Häftlinge erhielten über einen längeren Zeitraum ausschließlich chemisch behandeltes Meerwasser zu trinken.
Ermordung Zehntausender tuberkulosekranker Polen,
Ermordung Hunderttausender psychisch kranker oder behinderter Menschen im „Euthanasie“-Programm.

„Der Übermacht furchtbarer Tatsachen“, schrieb Alexander Mitscherlich 1947, „– nun in der Stille des Gerichtssaales ausgebreitet – vermag in der Tat nur der Herr zu werden, der von der Katastrophe zurück auf ihre historischen Motive blickt. Dies ist die einzige erlaubte Objektivität – denn wie immer das Urteil der Richter lauten möge, ganz unerlaubt wäre es, nur in den 23 Angeklagten mehr oder weniger Schuldige, abnorme Charaktere zu erblicken.“ Mehr denn je weiß man heute, dass das deutsche Wissenschaftssystem mit seinen tragenden Institutionen im Rahmen der medizinischen Forschung sehr eng mit dem NSUnrechtssystem verstrickt war. Die Zahl derjenigen Ärzte, die direkt oder indirekt mit den grausamen Menschenversuchen zu tun hatten, war sehr viel größer, als der Nürnberger Ärzteprozess über lange Zeit viele glauben machte.

Sieben der Angeklagten wurden vom Gericht zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 2. Juni 1948 im Hof des Gefängnisses Landsberg durch Erhängen vollstreckt. Sechs der Angeklagten wurden freigesprochen, die restlichen Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslang. Die letzten der zu Haftstrafen Verurteilten kamen 1955 frei. Viele der überlebenden Opfer litten ihr Leben lang an den ihnen zugefügten Verletzungen. Thomas Gerst

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