THEMEN DER ZEIT
Krankenmorde in der NS-Zeit: Das Bußritual der Psychiater


Schuldbekenntnis und Erinnerung an die Opfer – das späte Eingeständnis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
Psychiater waren maßgeblich an den Zwangssterilisationen und Krankenmorden in der Zeit des Nationalsozialismus beteiligt. Nicht nur in Einzelfällen, sondern in großem Umfang. Nicht nur als Helfershelfer, sondern aus eigenem Antrieb, überzeugt und verantwortlich. Beteiligt waren führende, auch wissenschaftlich hochangesehene Vertreter des Fachs. Das ist seit langem bekannt, nicht nur unter Fachleuten. Dennoch bedurfte es mehrerer Anläufe, ehe sich die wissenschaftliche Vertretung des Fachs diesem beschämenden Teil ihrer Vergangenheit stellte. Zuletzt und ohne Wenn und Aber am 26. November 2010 beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin.
In einer eindrucksvollen Gedenkveranstaltung bat deren Präsident, Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Frank Schneider (Aachen), „die Opfer und deren Angehörige um Verzeihung für das Leid und das Unrecht, das Ihnen in der Zeit des Nationalsozialismus im Namen der deutschen Psychiatrie und von deutschen Psychiaterinnen und Psychiatern angetan wurde, und für das viel zu lange Schweigen, Verharmlosen und Verdrängen in der Zeit danach“.
Die mehr als tausend Teilnehmer billigten Schneiders Erklärung per Akklamation. Zuvor waren sie Zeugen eines beklemmenden Vortrags ihres Kongresspräsidenten geworden. Schneider ließ die Geschichte von Schuld und Versäumnis seiner Psychiaterkollegen nicht durch Historiker referieren – die kamen bei einem Symposium anschließend auch zu Wort –, sondern übernahm selbst die Aufgabe.
360 000 Menschen wurden ab 1933 gemäß dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von Ärzten sterilisiert. Ärzte hatten sie zuvor gemeldet, andere sie schematisch begutachtet. Ärztlichen Widerstand scheint es wenig gegeben zu haben und wenn, dann kaum aus den Anstalten und Kliniken, sondern von niedergelassenen Ärzten. „Ein Grund könnte darin liegen“, vermutet Schneider, „dass dort, außerhalb der großen Kliniken, der Kontakt zu den Patientinnen und Patienten direkter war, unmittelbarer.“ Am Erbgesundheitsgesetz hatte Prof. Dr. med. Ernst Rüdin maßgeblich mitgearbeitet, der Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, der von 1935 bis 1945 auch der Präsident der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (DGNP) war, der Vorgängerin der heutigen DGPPN. Rüdin handelte durchaus im Sinne der Zeit. Eugenische Denkweisen waren verbreitet, das deutsche Gesetz galt als vorbildlich, auch international. Von deutscher Gründlichkeit war die Umsetzung des Gesetzes.
Medizinischer Leiter der Organisation für den zentral geplanten Krankenmord (heute als „Aktion T4“ bezeichnet, benannt nach der Berliner Tiergartenstraße 4) war der gleichfalls namhafte Psychiater und Neurologe Prof. Dr. med. Werner Heyde. Bei T4 werteten etwa 50 Gutachter, darunter wiederum angesehene Psychiater, die von ihren Kollegen aus den Kliniken geschickten Meldebögen aus und entschieden durch Ankreuzen über Leben (selten) und Tod (zumeist). 70 000 Menschen starben in Gaskammern. Mit T4 endeten die Krankenmorde nicht, sie wurden in den Anstalten fortgeführt, mittels Medikamenten oder Hungerkost oder einer Kombination daraus. 250 000 bis 300 000 Patienten fielen ihnen zum Opfer.
Die meisten Täter kamen nach dem Krieg straflos davon. Manche wurden gar hochgeehrt. Schneider wies in seiner Bilanz der Versäumnisse auch auf die klägliche Rolle seiner Gesellschaft und ihrer Protagonisten nach 1945 hin. Die Professoren Werner Villinger, Friedrich Mauz und Friedrich Panse, die zu den Gutachtern von T4 zählten, waren nach dem Krieg Präsidenten der Fachgesellschaft. Mauz und Panse ward sogar die Ehrenmitgliedschaft zuteil. Erwähnt sei an dieser Stelle auch Hermann Simon, von dem auf dem DGPPN-Kongress offiziell nicht die Rede war. Die Fachgesellschaft vergab zwischen 1971 und 2009 immerhin einen nach ihm benannten Preis. Nicht ohne Grund, denn Simon gilt als Vorkämpfer der aktivierenden Krankenbehandlung. Nach 1945 wurde verdrängt, dass er zugleich Zwangssterilisationen befürwortet und empfohlen hatte, Patienten, die nicht zu aktivieren waren, also nach dem Sprachgebrauch „Ballastexistenzen“, von ihrem Schicksal zu erlösen. Ein Doppelgesicht, das auch andere Reformpsychiater der Zeit aufweisen.
Prominente Psychiater, die in der NS-Zeit zu den Tätern gehörten, traten nach dem Krieg als Sachverständige zur Wiedergutmachung auf und rechtfertigten die Zwangssterilisationen als wissenschaftlich begründet. Prof. Dr. med. Helmut Ehrhardt (Marburg), ein Schüler von Villinger, versicherte bei einer Anhörung zum Bundesentschädigungsgesetz im Deutschen Bundestag noch 1961, das Erbgesundheitsgesetz sei kein NS-Unrecht gewesen und entspreche „auch der heutigen wissenschaftlichen Überzeugung“. Erhardt war von 1970 bis 1972 Präsident der Fachgesellschaft. Ebenfalls 1961 lehnte Villinger im Bundestag die Entschädigung von Zwangssterilisierten mit der fachmännisch klingenden Begründung ab, es könnten „neurotische Beschwerden und Leiden auftreten“, die nicht nur „das bisherige Wohlbefinden“, dieser Menschen, „sondern auch ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen“.
Die wenigen frühen Kritiker liefen ins Leere. Erst Anfang der 1980er Jahre habe, betonte Schneider, die kritische Erforschung der Psychiatrie in der NS-Zeit eingesetzt. Und sie hält an. Die DGPPN hat Anfang 2010 eine Kommission zur Aufarbeitung ihrer Geschichte eingerichtet, die von dem Gießener Medizinhistoriker Prof. Dr. med. Volker Roelcke geleitet wird. Die Fachgesellschaft finanziert Forschungsprojekte, die detailliert klären sollen, inwieweit ihre Vorgängerin und deren Repräsentanten bei dem „Euthanasie“-Programm der Nazis, der Zwangssterilisierung oder der Vertreibung jüdischer und politisch missliebiger Psychiater beteiligt waren.
Schneider kündigte an, die DGPPN werde die Errichtung einer Gedenkstätte an der früheren Tiergartenstraße 4 in Berlin unterstützen. Bisher ist dort, am Busparkplatz vor der Philharmonie, eine Plakette angebracht, gewidmet den „vergessenen Opfern“. Beim DGPPN- Kongress setzte sich Prof. Paul Weindling (Oxford) dafür ein, den Opfern ihre Namen zu geben. Der Wunsch scheint allerdings mit dem deutschen Datenschutzrecht zu kollidieren. Auch die wenigen noch lebenden Opfer oder deren Nachkommen könnten Einwände haben. Denn „die Opfer schämen sich, und nicht die Täter“, erklärte Ruth Fricke vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Fricke appellierte an die Psychiater, sich für die Gleichstellung der Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ mit den anderen NS-Opfergruppen einzusetzen. Sie empfahl, aus der Geschichte „in dem Sinne zu lernen, dass die Entscheidung, ob ein Leben lebenswert oder lebensunwert ist, nur die Person treffen kann, die dieses Leben lebt“, und verwies auf die aktuelle Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik.
Weindling wie auch Kongress-präsident Schneider erinnerten daran, dass mit Psychiatriepatienten zu Tausenden wissenschaftlich experimentiert wurde. Dem Schicksal von (bisher) 14 441 männlichen und 6 836 weiblichen Opfern solcher Experimente, zumeist stammten sie aus Polen oder dem früheren Jugoslawien, geht Weindling in einem Forschungsprojekt nach. Ab etwa 1942 bis zum Kriegsende sei die Zahl der Experimente an Patienten „enorm angestiegen“, berichtete Weindling. Denn die Wissenschaftler hätten „eine einmalige Gelegenheit gesehen, ihrer Nachkriegskarriere zu dienen“.
Solche Forschung war „kein Ergebnis einer kruden Pseudowissenschaft“, rückte Prof. Dr. phil. Carola Sachse (Wien) eine verbreitete Entschuldigungsstrategie zurecht, sondern entsprach durchaus wissenschaftlichem Vorgehen. Ähnlich nannte Roelcke die Annahme, medizinische Verbrechen seien Resultat einer irrationalen, der Medizin aufgezwungenen Politik gewesen, einen „Mythos“. Sachse, die wie Weindling der Historikerkommission der DGPPN angehört, leitete 2000 bis 2003 die Kommission zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der NS-Zeit und begleitete das „Bußritual“ (Sachse) – Entschuldigen, Faktenoffenlegen, Erinnern – der Max-Planck-Gesellschaft. Ihre Schlussfolgerung: Wissenschaftliche Forschung hat keine ethisch immanenten Grenzen, diese müssen vielmehr gesetzlich normiert werden.
Apropos Bußritual. Der Gedenkveranstaltung der Psychiater ging am 18. September 2010 in Potsdam eine ähnliche der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin voraus (siehe dazu den Beitrag von Hans-Walter Schmuhl in DÄ, Heft 45/2010). Kinderärzte hatten in der NS-Zeit in sogenannten Kinderfachabteilungen etwa 10 000 behinderte oder kranke junge Leute fachkundig ermordet. Auch sie waren wie die Patienten der psychiatrischen Anstalten von Ärzten als lebensunwert erachtet worden.
Norbert Jachertz
Radke, Michael
Thilenius, Dietmut
Kretz, Helmut
Payk, Theo R.
Kiworr, Michael
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