MEDIZINREPORT
Multiple Sklerose: Neue Substanzen sind wirksamer, aber auch riskanter


Ein intensives Überwachungsprogramm nach der Zulassung soll zur Klärung beitragen, inwieweit ein breiter Einsatz der oralen Medikamente Fingolimod und Cladribin zu rechtfertigen ist.
Neuartige Wirkprinzipien bei oraler Darreichung erweitern die therapeutischen Optionen für Patienten mit multipler Sklerose (MS), vor allem der schubförmig remittierenden Form. In den drei Zulassungsstudien der beiden Substanzen Fingolimod und Cladribin traten weniger Schübe auf als unter dem bisherigen Goldstandard Betainterferon und Glatirameracetat. Ob die hochwirksamen Substanzen demnächst breit eingesetzt werden können, wird von Fachleuten derzeit vorsichtig beurteilt. „Die Wirkstoffe sind innovativ, bergen aber auch ein Risiko“, erklärte Prof. Dr. med. Heinz Wiendl (Münster) gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Der Vorstandssprecher des Kompetenznetzes Multiple Sklerose betonte, dass man bei einer Langzeitimmuntherapie mit rezidivierenden Infektionen und Neoplasien rechnen müsse.
Neuere histopathologische Erkenntnisse belegen bereits für das Frühstadium der MS schwere neuronale Schädigungen, die durch die Plastizität des Gehirns lange kompensiert werden und somit klinisch noch stumm sind. „Die Neurodegeneration ist einerseits die Folge einer chronischen Demyelinisierung, andererseits einer direkten Schädigung der Nervenfasern durch den entzündlichen Prozess“, erläuterte Prof. Dr. med. Bernd Kieseier (Düsseldorf) auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Mannheim. T-Lymphozyten gelten als mögliche Auslöser für die Zerstörung der Myelinscheiden und der Axone.
Mit Hilfe der Kernspintomographie (MRT) beziehungsweise der funktionellen MRT und der Magnetresonanzspektroskopie könne dieser persistierende Prozess jedoch frühzeitig nachgewiesen werden. Ausgehend von der frühen irreversiblen Schädigung der Nervenzellen ergebe sich die Notwendigkeit einer frühzeitigen Immuntherapie, um den selbstzerstörerischen entzündlichen Prozess zu verlangsamen oder zu stoppen. Die seit Mitte der 90er Jahre zur Verfügung stehenden immunmodulatorischen Basistherapeutika wie Interferone und Glatirameracetat richten sich allein gegen die entzündliche Komponente. „Diese stellen zweifellos eine deutliche Verbesserung der MS-Therapie dar, besonders wenn sie früh begonnen wird“, sagte Prof. Dr. med. Ralf Gold aus Bochum. So werde die Schubfrequenz um circa 30 Prozent gesenkt. Die neurologischen Behinderungen vermögen diese Substanzen allerdings nicht aufzuhalten.
Zudem muss die Basistherapie in regelmäßigen Abständen – täglich bis einmal wöchentlich – von den Patienten selbst injiziert werden. Grippeartige Nebenwirkungen und Schwellungen an der Injektionsstelle schränken die Compliance weiter ein, so dass mehr als 30 Prozent der MS-Patienten mit der schubförmig remittierenden Verlaufsform dem deutschen MS-Register zufolge die Therapie abbrechen. Von einer „Pille gegen MS“ verspricht man sich daher eine bessere Therapietreue.
Der orale Wirkstoff Fingolimod der Firma Novartis ist das synthetische Analogon eines Pilzmetaboliten und zählt zu der neuen Wirkstoffklasse der Sphingosin-1-Phosphat (S1P)-Rezeptor-Modulatoren. Durch Bindung an die S1P-Rezeptoren auf den T-Lymphozyten kontrolliert der Wirkstoff den Austritt dieser Entzündungszellen aus den Lymphknoten. Wie Kieseier ausführte, gehen klinisch die Entzündung im ZNS und in der Folge auch das Ausmaß der Gehirnatrophie sowie die Progression der Behinderung zurück.
Der zweite Wirkstoff ist das inaktive Prodrug Cladribin der Firma Merck-Serono – ein Purin-Nukleosid-Analogon, das zu einer lang andauernden Reduktion der im Blut zirkulierenden Lymphozyten führt, ohne die angeborene Immunabwehr wesentlich zu beeinträchtigen, wie Prof. Dr. med. Heinz Wiendl (Münster) in Mannheim erklärte.
In der CLARITY-Studie1 wurden zwei unterschiedliche Dosen von Cladribin gegen Placebo getestet. Im ersten Jahr erhielten die Teilnehmer zwei (Gesamtdosis 3,5 mg/kgKG) oder vier Behandlungszyklen (Gesamtdosis 5,25 mg/kgKG), im zweiten Jahr zwei Zyklen. Nach zwei Jahren gab es eine relative Reduktion der Schubzahl von 57,6 Prozent in der niedrigeren Dosierung und von 54,5 Prozent in der höheren Dosierung. Somit konnte eine Halbierung der Schubzahl erreicht werden, diese sei unter Placebo allerdings auch eher gering gewesen, schränkt Prof. Dr. med. Ralf Gold (Bochum) ein. Dass sich die Progression der Behinderung unter Cladribin verzögerte, manifestierte sich im MRT an der geringeren Zunahme der Herde im Gehirn.
Fingolimod wurde in zwei Phase-III-Studien überprüft. In der FREEDOMS-Studie2 wurden zwei unterschiedliche Dosen des täglich einzunehmenden Medikaments getestet. Nach zwei Jahren fand man eine Reduktion der Schubzahl von 54 Prozent bei niedrigerer Dosierung (0,5 mg) und von 60 Prozent in der höheren Dosierung (1,25 mg). Die Zahl der entzündlichen Hirnläsionen sank ebenfalls, wie serielle Kernspinaufnahmen zeigten, und die Behinderungsprogression wurde signifikant verzögert (p = 0,02).
In einer weiteren zwölfmonatigen Studie (TRANSFORMS3) senkte Fingolimod in einer täglichen Dosis von 0,5 mg versus dem intramuskulär applizierten Interferon beta-1a (Avonex®) die Schubzahl um 52 Prozent. Auch die Zahl neuerer oder größerer T-2-Läsionen im MRT sank (1,6 versus 2,6). Hinsichtlich der Krankheitsprogression zeigten sich keine signifikanten
Unterschiede.
Während die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA Fingolimod unter strengen Auflagen zugelassen hat, wurde die Prüffrist für Cladribin bis Februar dieses Jahres verlängert. In Europa wird die Zulassung für Fingolimod in diesem Quartal erwartet. Cladribin hingegen wurde am 24. September 2010 von der Europäischen Zulassungsbehörde EMA zurückgewiesen. So traten bei 2,3 Prozent der Patienten Herpes-zoster-Infektionen auf; in der Hochdosisgruppe entwickelte fast ein Drittel eine Lymphopenie, es wurden vier Krebserkrankungen
diagnostiziert.
Unter Fingolimod kam es in der Gruppe der Patienten mit höherer Dosierung zu teilweise schwerwiegenden Herpesinfektionen. Eine disseminierte Varizella-zoster- und eine nicht beherrschbare Herpes-simplex-Infektion führte zum Tod. Diese höhere Dosierung wird allerdings nicht zur Zulassung kommen. Vor allem zu Beginn der Therapie traten eine vorübergehende Abnahme der Herzfrequenz sowie AV-Blocks und Blutdruckerhöhungen auf. In einigen Fällen wurden Makulaödeme beobachtet, die jedoch reversibel waren. In der Gruppe mit der niedrigeren Dosierung zeigten sich diese schwereren Nebenwirkungen nicht.
Pharmakovigilanzstudie zum Antikörper Natalizumab
Ob die oralen Therapeutika in die Basistherapie eingehen werden, ist derzeit unklar. „Wir wissen derzeit noch zu wenig über die Langzeitnebenwirkungen wie opportunistische Infektionen und Neoplasien“, sagte Wiendl gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt und kündigte an: „Wenn die Substanzen in Deutschland verfügbar sind, wird das Kompetenznetz eine prospektive Pharmakovigilanz-Immunmonitoring-Studie initiieren und – möglichst in Kooperation mit der Herstellerfirma – versuchen, ein umfassendes Sicherheitsregister ins Leben zu rufen.“
Dauern die MS-Schübe trotz Basistherapie an, ist für die Patienten derzeit der 2006 zugelassene Wirkstoff Natalizumab eine Option – wenn auch nicht ohne Risiko. In solchen Fällen kann die Schubrate zwar um mehr als zwei Drittel reduziert werden, außerdem lassen sich Begleitsymptome wie die Fatigue und eine Sehverschlechterung günstig beeinflussen. Problematisch ist die Anwendung dieses hochwirksamen Antikörpers jedoch durch das Risiko für eine progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML).
Derzeit sind weltweit 75 Fälle bei circa 75 000 mit Natalizumab behandelten Patienten gemeldet; 20 Prozent der Patienten sind daran gestorben. Das Risiko für diese lebensbedrohliche Komplikation wachse mit der Dauer der Applikation, sagte Wiendl. Während es im ersten Jahr weit unter 1 : 1 000 liege, steige es nach 24 Monaten Therapie auf 1 : 750 bis 1 : 500. Kämen noch weitere Risikofaktoren dazu, wie etwa eine vorherige Immunsuppression, könne das Risiko auf 1 : 200 steigen.
In einer vom Kompetenznetzwerk gestarteten Pharmakovigilanzstudie werden immunologische und metabolische Veränderungen unter Langzeittherapie mit Natalizumab identifiziert. Daraus könnten sich Wiendl zufolge Biomarker ergeben, die eine Identifizierung von Risikopatienten ermöglichen. Ein Marker könne der Nachweis von Antikörpern gegen das JC-Polyomavirus sein, dem Auslöser der PML. So scheinen Patienten mit latenter JC-Virusinfektion unter Natalizumab stärker gefährdet zu sein, eine PML zu entwickeln.
„Die praktische Relevanz dieses Tests muss allerdings erst im Feldversuch validiert werden“, fügte Wiendl als Studienleiter hinzu. Da ein einziger Biomarker wohl nicht genüge, sollen weitere Assays auf ihre Aussagekraft hinsichtlich Veränderungen im Immunsystem unter Natalizumab überprüft werden. „Unser Ziel ist es, eine Art Signatur zu erstellen, die es ermöglicht, Patienten herauszufiltern, die den wirksamen Antikörper gefahrlos erhalten können“, betonte Wiendl.
Ingeborg Bördlein
1CLARITY = Cladribine tablets treating multiple sclerosis orally. N Engl J Med 2010; 362: 416–26.
2FREEDOMS = FTY720 Research Evaluating Effects of Daily Oral therapy in Multiple Sclerosis.
N Engl J Med 2010; 362: 387–401.
3TRANSFORMS = TRial Assessing iNjectable interferon verSus FTY720 Oral in Relapsing-remitting Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2010; 362: 402–15.
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