MEDIZIN: Originalarbeit
Jugendgesundheitsuntersuchung J1
Auswertung von Daten aus der KiGGS-Umfrage
The J1 Adolescent Health Check-Up: Analysis of Data From the German KiGGS Survey
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Hintergrund: Anhand der KiGGS-Umfrage des Robert Koch-Instituts wurden Daten zur Jugendgesundheitsuntersuchung J1 ausgewertet mit dem Ziel, den Erkenntnisgewinn aus dieser Vorsorgeuntersuchung zu hinterfragen.
Methode: Die J1-Beteiligung wurde nach soziodemografischen und medizinisch-psychologischen Faktoren deskriptiv-statistisch ausgewertet. Das Risiko einer Nicht-Teilnahme wurde mit Hilfe eines logistischen Regressionsmodells bestimmt.
Ergebnisse: Mit einer Gesamtbeteiligung von 32,9 % der Jugendlichen in einem Alter zwischen 14 und 17 Jahren bei der Befragung bleibt die Teilnahmerate seit der Einführung der J1 unverändert gering. Vor allem Schilddrüsenerkrankungen (4,1 versus 2,9 %) und Skoliosen (14,8 versus 10,5 %) sind bei Jugendlichen, die an der J1 teilgenommen haben, häufiger dokumentiert als bei Nicht-Teilnehmern. Jugendliche, die von Allgemeinmedizinern statt von Kinderärzten betreut werden, haben nur halb so häufig an der J1 teilgenommen (Odds Ratio [OR]: 0,46; 95-%-Konfidenzintervall [95-%-KI]: 0,36–0,60). Zudem ist bei ausländischen gegenüber nichtausländischen Jugendlichen nur halb so häufig eine J1-Teilnahme protokolliert (OR 0,51, 95-%-KI 0,31–0,84).
Schlussfolgerung: Angesichts überzeugender Belege dafür, dass ohne die J1 insbesondere Skoliosen und Schilddrüsenerkrankungen nur lückenhaft erkannt werden, ist als Ziel eine deutlich höhere J1-Teilnahmerate anzustreben. Hierdurch lassen sich unerkannt schlummernde gesundheitliche Probleme der bisherigen Nicht-Teilnehmer – immerhin zwei Drittel aller Jugendlichen – frühzeitiger erkennen und behandeln.


Die Jugendgesundheitsuntersuchung J1 wurde 1998 für alle 13- bis 14-jährigen Jugendlichen (Alterstoleranzspanne plus/minus ein Jahr) bundesweit eingeführt (1). Sie umfasst eine anamnestische Erhebung der gesamten Lebenssituation der Jugendlichen und eine komplette körperliche Untersuchung. Die erhobenen Daten werden auf einem standardisierten, bundeseinheitlichen Fragebogen festgehalten (2–3). Angaben zu den Ergebnissen und dem Nutzen beruhen zum Teil auf Zahlen aus dem Jahr 2000 (4–5). Demnach nehmen circa 32 % aller Jugendlichen an der J1 teil. Aktuell werden 62 % der J1 von Kinderärzten, 36 % von Allgemeinmedizinern und 2 % von hausärztlich tätigen Internisten durchgeführt (Auswertung einzelner Fachgruppen, Zentralinstitut Berlin). Nur 30 % der Untersuchungen bleiben ohne therapierelevanten Befund.
Die Suche nach aktuellen Daten gestaltet sich schwierig, weil bedauerlicherweise nach der Einführungsphase der generellen J1 die Dokumentationsbögen nicht mehr systematisch gesammelt beziehungsweise ausgewertet wurden. Neuere Daten zur J1 enthält jedoch der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS, eine umfangreiche Untersuchung des Robert-Koch-Instituts (RKI) aus den Jahren 2003 bis 2006. Während zur Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9 eine Auswertung seitens des RKI vorliegt (6), wurde eine Analyse zur Wahrnehmung der J1 explizit ausgeklammert. Die hierzu publizierte Datei zur öffentlichen Nutzung erlaubt allerdings Auswertungen im Hinblick auf die J1-Beteiligung. Folgende Fragen wurden hierzu formuliert:
- Wie hoch ist die Beteiligungsrate an der J1 in den Jahren 2003 bis 2006?
- Bestehen Unterschiede bei der Teilnahme zwischen Mädchen und Jungen, zwischen verschiedenen Schularten und weiteren soziodemografischen Merkmalen?
- Unterscheiden sich die Diagnosehäufigkeiten spezifischer Erkrankungen bei J1-Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern?
- Unterscheiden sich die Diagnosehäufigkeiten bei 11- und 16-Jährigen?
Dieser Beitrag stellt einerseits den Zusammenhang zwischen soziodemografischen und medizinisch-psychologischen Faktoren und der J1-Teilnahme dar, wie er sich aus den KiGGS-Daten ergibt. Andererseits wird die Entwicklung einzelner Erkrankungen zwischen dem 11. und 16. Lebensjahr sowie die Häufigkeit ihres Auftretens bei Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern an der J1 verglichen. Hieraus werden Rückschlüsse auf die besondere Bedeutung der J1 für das rechtzeitige Erkennen spezifischer Erkrankungen gezogen.
Datengrundlage und Methoden
Die Auswertungen basieren auf der Datei zur öffentlichen Nutzung zum KiGGS 2003–2006, die 17 641 Fälle umfasst (7). Ausgewertet wurden alle validen Angaben (n = 3 482) zu dem Item „e08711“ (Teilnahme an der J1). Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt deskriptiv-statistisch. Zur statistischen Absicherung der Stärke des Zusammenhangs einzelner Variablen mit der J1-Teilnahme wurde ein logistisches Regressionsmodell unter Einschluss aller klinisch relevanten und quantitativ bedeutsamen Faktoren gebildet.
Ergebnisse
Bei 1 146 von 3 482 (32,9 %) befragten Kindern und Jugendlichen, die bei der Befragung im Alter zwischen 14 bis 17 Jahren waren, ist eine J1-Teilnahme in der Vergangenheit dokumentiert (Tabelle 1 gif ppt). Die Beteiligungsrate erweist sich erwartungsgemäß als altersabhängig. Während lediglich 21,7 % der befragten 14-Jährigen bereits an der J1 teilgenommen haben, sind dies 38,5 % der befragten 17-Jährigen. Gegenüber weiblichen nehmen männliche Jugendliche an der J1 geringfügig öfter teil.
Aus den KiGGS-Daten ist nicht ersichtlich, bei welchem Arzt die J1 erfolgte. Zu erkennen ist lediglich, welcher Arzt zum Zeitpunkt der Befragung die Jugendlichen betreut hat. Dies sind bei Teilnehmern an der J1 zu 38 % Kinderärzte, zu 30,5 % Allgemeinmediziner oder praktische Ärzte und zu 32,9 % sonstige Ärzte (Tabelle 2 gif ppt).
Die J1-Beteiligung zeigt nur schwach ausgeprägte Unterschiede zwischen den östlichen (32,2 %) und den westlichen Bundesländern (33,3 %). Es besteht jedoch ein Zusammenhang mit der Gemeindegröße. In ländlichen (36,3 %) und kleinstädtischen Gemeinden (34,1 %) ist die Beteiligung höher als in mittel- (30,4 %) oder großstädtischen Gemeinden (31,6 %).
In Regionen mit einem dreigliedrigen Schulsystem bestehen sehr ausgeprägte Unterschiede in Bezug auf die J1-Teilnahmerate. Unter Hauptschülern (28,4 %) ist sie erkennbar geringer als unter Realschülern (34,4 %) beziehungsweise Gymnasiasten (34,5 %). Gesamtschüler beteiligen sich ebenfalls eher häufiger (32,7 %) an der J1.
Weiterhin findet man Unterschiede hinsichtlich der Staatsangehörigkeit und des Sozialstatus. Ausländische Jugendliche beteiligen sich wesentlich seltener (15,9 %) als Nicht-Ausländer (34,2 %) an der J1. Ebenso weisen Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus eine geringere Beteiligungsrate (29,3 %) als solche aus Familien mit mittlerem (34,6 %) oder hohem Sozialstatus (33,9 %) auf.
Analysiert man die Gründe für einen Arztbesuch beziehungsweise die dabei festgestellten Befunde, so ergeben sich weitere Unterschiede zwischen J1-Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern (Tabelle 3 gif ppt). Gegenüber Nicht-Teilnehmern ist bei den J1-Teilnehmern häufiger ein Grund für den Arztbesuch eine medikamentöse Verordnung (20,2 versus 17,7 %) oder eine Vorsorgeuntersuchung beziehungsweise Impfung (28,7 versus 22,3 %), dagegen seltener eine akute Krankheit oder ein Unfall (48,2 versus 53,3 %). J1-Teilnehmer weisen gegenüber den Nicht-Teilnehmern öfter insbesondere die Befunde Lungenentzündung, Mittelohrentzündung oder Skoliose auf, auch weitere, nicht spezifizierte Krankheiten sind bei ihnen etwas häufiger dokumentiert. Seltener als bei Nicht-Teilnehmern werden dagegen unter den J1-Teilnehmern vor allem Krampfanfälle, eine schlechte subjektive Gesundheit oder Übergewicht beobachtet.
Treten die genannten Befunde oder Krankheiten bei 11-jährigen Kindern häufiger oder seltener auf als bei 16-Jährigen? Und wie unterscheiden sich hierbei 16-Jährige, die an der J1 teilgenommen haben von solchen, die nicht daran teilgenommen haben? Zur Beantwortung dieser Fragen wurden beide Altersgruppen im Hinblick auf die Dokumentationshäufigkeit einzelner Befunde untersucht.
Es zeigen sich meist keine oder nur sehr geringe Altersunterschiede, dies betrifft die Befunde
- Lungenentzündung
- Mittelohrentzündung
- Herzkrankheit
- Blutarmut
- Krampfanfall
- Diabetes mellitus (sehr kleine Fallzahl)
- Hypercholesterinämie (Tabelle 4 gif ppt).
Grundsätzlich ist also für beide Gruppen von gleicher Erkrankungshäufigkeit sowohl für akute als auch chronische Erkrankungen auszugehen. Umso mehr verdienen die nachfolgenden Unterschiede Beachtung. 11-Jährige leiden häufiger als 16-Jährige an Neurodermitis, Asthma bronchiale oder spastisch obstruktiver Bronchitis. Im Gegenzug leiden die 16-Jährigen im Vergleich zu den 11-Jährigen häufiger unter Heuschnupfen oder allergischer Bindehautentzündung, einer Schilddrüsenkrankheit, Skoliose, Migräne und weiteren, nicht spezifizierten Krankheiten. 16-Jährige sind etwas seltener als 11-Jährige übergewichtig, haben aber häufiger einen Bluthochdruck. 11-Jährige weisen häufiger als 16-Jährige emotionale oder Entwicklungs-/Verhaltensprobleme oder einen auffälligen Gesamtproblemwert im „Strengths and Difficulties Questionnaire“ (SDQ) auf.
Im Vergleich zu ihren Altersgenossen, die nicht an der J1 teilgenommen haben, sind bei 16-jährigen J1-Teilnehmern seltener eine Lungenentzündung, eine Mittelohrentzündung oder Krampfanfälle dokumentiert. Ebenso leiden die J1-Teilnehmer seltener unter Hypertonie und rauchen auch seltener. Häufiger als bei Nicht-Teilnehmern ist bei 16-jährigen J1-Teilnehmern dagegen vor allem eine Schilddrüsenkrankheit oder eine Skoliose nachgewiesen.
Mittels einer logistischen Regressionsanalyse soll die Bedeutung der unterschiedlichen Variablen für die J1-Teilnahme bewertet werden, da zwischen vielen der soziodemografischen und medizinisch-psychologischen Variablen Zusammenhänge zu vermuten sind. Die multivariate Auswertung zeigt, dass neben dem Alter bei der Befragung auch die Gruppe der betreuenden Ärzte am stärksten mit dem Risiko (Odds Ratio, OR) einer Nicht-Teilnahme korreliert (Tabelle 5 gif ppt).
Wie zu erwarten, ist gegenüber 14-Jährigen (Vergleichsgruppe beim Alter) bei älteren Jugendlichen zwischen 2,2- und 2,8-mal so häufig die Teilnahme dokumentiert. Wird dagegen zum Zeitpunkt der Befragung der Jugendliche statt von einem Kinderarzt von einem Allgemeinmediziner oder einem anderen Facharzt betreut, ist nur etwa in der Hälfte (OR 0,46 beziehungsweise 0,55) aller Fälle eine Teilnahme nachgewiesen. Wenn als Grund für den Arztbesuch eine Vorsorgeuntersuchung oder Impfung genannt wird, erhöht sich auch im multivariaten Modell die Häufigkeit einer J1-Teilnahme etwa um das 1,6-fache. Sie ist darüber hinaus deutlich höher, wenn als Grund eine medikamentöse Verordnung angegeben wurde, der Jugendliche männlich oder in den westlichen Bundesländern beheimatet ist (OR jeweils 1,45, 1,23, 1,26).
Die Häufigkeit einer Beteiligung an der J1 ist auch bei Jugendlichen mit den Befunden Lungenentzündung oder Skoliose höher. Deutlich geringer ist sie bei Jugendlichen, die in mittel- oder großstädtischen Gemeinden leben, bei Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit und bei Jugendlichen, die rauchen (OR jeweils 0,81, 0,51, 0,78). Ebenfalls mit geringerer Häufigkeit erfolgt eine J1 bei Jugendlichen, die an Krampfanfällen leiden (OR 0,50).
Diskussion
Vor einer Bewertung der Ergebnisse ist zu beachten, dass es sich bei der KiGGS-Erhebung um die Befragung und stichprobenartige Untersuchung von über 17 000 Kindern und Jugendlichen beziehungsweise deren Eltern handelt. Dies kann nicht die gleiche Aussagekraft haben wie eine systematische Auswertung der J1-Dokumentationsbögen. Auch liegt die Befragung mittlerweile bis zu sieben Jahre zurück. Gleichwohl können die KiGGS-Daten Repräsentativität für sich beanspruchen und werden deshalb von zahlreichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Institutionen als Grundlage zur Beurteilung der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland herangezogen. Somit erscheint es legitim, diese Daten auch bei der Bewertung der J1-Teilnahme und der hierauf Einfluss nehmenden Faktoren zu berücksichtigen.
Bei den 11- und den 16-Jährigen zeigen sich sowohl Übereinstimmungen als auch erhebliche Unterschiede in den verschiedenen Diagnosehäufigkeiten. Kaum Unterschiede bestehen bei akuten Erkrankungen wie Lungenentzündung oder Mittelohrentzündung. Diese Erkrankungen haben meist eine deutliche Symptomatik und werden typischerweise nicht (erstmalig) bei der J1 diagnostiziert. Auch die von ihrem Charakter her chronischen Erkrankungen Herzkrankheit, Blutarmut/Anämie, Diabetes mellitus sowie die Häufigkeit von Krampfanfällen weisen keine nennenswerten Unterschiede zwischen 11- und 16-Jährigen auf. So ist zunächst einmal festzustellen, dass eine Reihe akuter wie auch chronischer Erkrankungen unabhängig vom Alter gleich bis ähnlich häufig auftreten.
Die Diagnosen Heuschnupfen/allergische Bindehautentzündung und Migräne werden in der Gruppe der 16-Jährigen öfter gestellt. Noch deutlicher werden die Unterschiede für die Diagnosen Schilddrüsenerkrankung und Skoliose, die beide zudem auch bei J1-Teilnehmern häufiger festgestellt werden. Hier scheint die J1 durch eine genauere Anamnese und Ganzkörperuntersuchung eine höhere Trefferrate zu haben. Diesen Diagnosen ist gleichermaßen zueigen, dass sie oftmals nicht durch Beschwerden und Krankheitssymptome offenkundig und somit nur dem gründlichen Untersucher zugänglich sind. Bei Arztbesuchen außerhalb der J1 besteht normalerweise kein Anlass, routinemäßig die Wirbelsäule komplett zu untersuchen oder mögliche Schilddrüsenprobleme abzuklären. Die deutlich häufigere Erkennung dieser beiden Probleme darf als Erkenntnisgewinn der J1 zugeordnet werden.
Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass Skoliosen oder Schilddrüsenerkrankungen in den beiden Gruppen der J1-Teilnehmer und Nicht-Teilnehmer tatsächlich derart unterschiedlich häufig auftreten. In der Gruppe ohne J1 werden diese Probleme vermutlich in gleicher Häufigkeit bestehen, aber unerkannt bleiben. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ohne J1-Untersuchung von den nach dem 11. Lebensjahr manifest werdenden Skoliosen und Schilddrüsenerkrankungen bei weitem nicht alle Neuerkrankungen erkannt werden. Beide Erkrankungen nehmen in Wachstumsschub und Pubertät mitunter rasant zu. In der hier untersuchten Population erhöht sich zwischen dem vollendeten 11. und dem 16. Lebensjahr die Häufigkeit von Skoliosen um den Faktor 2,3 und die von Schilddrüsenerkrankungen um den Faktor 2,4. Umso bedrückender ist die Vorstellung, dass eine erhebliche Anzahl dieser Neuerkrankungen ohne die J1 verborgen bleibt. Für Heuschnupfen und Migräne ist – wenn auch mit weniger deutlich ausgeprägten Unterschieden – die gleiche Tendenz erkennbar.
Für ein starkes Übergewicht, einen Bluthochdruck und das Rauchen zeigt sich eine deutlich geringere Rate unter den J1-Teilnehmern. Darüber hinaus ist der Anteil derer, die eine gute subjektive Gesundheit zu Protokoll geben, unter den J1-Teilnehmern höher als unter den Nicht-Teilnehmern. So verlockend es wäre, diese Zahlen als Erfolg der J1 (Intervention und Ernährungsberatung) zu verstehen, es bleibt doch die Frage, ob das Gesundheitsbewusstsein von Jugendlichen und ihren Eltern nicht auch eine Erklärung für diese Unterschiede liefert. Höheres Gesundheitsbewusstsein führt vermutlich gleichermaßen zu vernünftigerer Ernährung und einer höheren Vorsorgefrequenz.
Die Abnahme emotionaler Störungen, von Entwicklungs- und Verhaltensproblemen sowie -auffälligkeiten bei den 16- gegenüber den 11-Jährigen wirft die Frage auf, ob die älteren Jugendlichen wirklich seltener solche Probleme haben oder ob derartige Probleme in dieser Altersgruppe entwicklungsbedingt schwieriger zu detektieren sind. Offensichtlich besteht allerdings kein Zusammenhang zwischen einer J1-Teilnahme und dem Auftreten dieser Beschwerden.
Aufschlussreich für die Bewertung der Unterschiede bei einzelnen, relevanten Diagnosen ist die multivariate Analyse. Für die häufigere Erkennung der Skoliose bei Teilnahme an der J1 besteht eine statistische Signifikanz. Ebenfalls signifikant häufiger ist auch die Erkrankung an einer Lungenentzündung, signifikant seltener sind Krampfanfälle unter den J1-Teilnehmern. Alle anderen aufgeführten Diagnosen stehen mit einer Teilnahme an der J1 bei gleichzeitiger Berücksichtung aller anderen Variablen in keinem statistisch bedeutsamen Zusammenhang. Rauchende Jugendliche gehen mit geringerer Wahrscheinlichkeit zur J1, für die meisten Kollegen vermutlich eine Bestätigung ihrer Erfahrungen im Praxisalltag.
Aus der multivariaten Analyse lassen sich zusätzlich einige grundlegende Aspekte der J1-Teilnahme ableiten. So wird diese eher von männlichen Jugendlichen wahrgenommen und findet im Westen Deutschlands und daneben im ländlich-kleinstädtischen Raum etwas größeren Zuspruch als im Osten beziehungsweise in Mittel- oder Großstädten. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulformen ebenso wie die zwischen den verschiedenen Sozialschichten verschwinden, stattdessen wird die sehr viel geringere Beteiligung unter ausländischen Jugendlichen augenfällig. Dies ist mit einer hohen Korrelation der Faktoren Schulform sowie Sozialstatus und ausländische Staatsangehörigkeit zu erklären. Ausländische Jugendliche sind dreimal so häufig Hauptschüler und gehören viermal so häufig der niedrigen Sozialschicht an wie ihre nichtausländischen Altersgefährten. Die in einer Reihe von Studien (8–12) nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen Migrationshintergrund sowie niedriger Sozialschicht und Gesundheitsverhalten beziehungsweise Gesundheit (zum Beispiel häufiger Übergewicht, aber seltener Asthma oder Neurodermitis) lassen sich beim Vergleich von J1-Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern nur teilweise wiedererkennen. Die insgesamt niedrige Teilnahmerate vermögen sie nicht zu erklären.
Bei der Interpretation der gesundheitlichen Unterschiede zwischen Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern an der Jugendgesundheitsuntersuchung muss berücksichtigt werden, dass als Ursachen eine Vielzahl von konfundierenden Variablen infrage kommen, die in dieser Untersuchung nicht analysiert wurden.
Resümee
Auf den ersten Blick erscheint vermutlich die Erkenntnis eher trivial, dass die Dokumentation einer J1-Teilnahme stark von der Fachgruppe des betreuenden Arztes abhängt: Kinder und Jugendliche, die (noch) von Kinderärzten betreut werden, haben in der Vergangenheit mehr als doppelt so häufig an der J1 teilgenommen. Einerseits bestätigt dies die oben aufgeführten Relationen aus der älteren Literatur. Andererseits zeigt es aber auch, dass das Zeitfenster der kinderärztlichen Betreuung sinnvoll für eine forcierte Propagierung der J1-Teilnahme genutzt werden kann.
Die Gesamt-Teilnahmerate für alle Jugendlichen von circa einem Drittel bis zu einem maximalen Wert von knapp vier von zehn unter den 16- und 17-Jährigen hat sich seit der Einführung der J1 vor mehr als zwölf Jahren nur unwesentlich verbessert. Die Situation in Deutschland entspricht nach neueren Übersichtsarbeiten vermutlich derjenigen in Europa beziehungsweise den Nachbarländern, wo man – soweit dies erfasst und veröffentlicht wurde – auch deutlich geringere Untersuchungsraten bei Jugendlichen gegenüber Kindern findet und gleichfalls die Intensivierung dieser Vorsorgebemühungen verlangt wird (13–16). Sie kann nur als Aufforderung an alle Beteiligten verstanden werden, die J1 konsequent in den Beratungsalltag einzubauen und Jugendliche und ihre Eltern immer wieder auf die Notwendigkeit und den Nutzen dieser Vorsorgeuntersuchung hinzuweisen.
Als besonders defizitär ist in diesem Zusammenhang die Beteiligung ausländischer Jugendlicher zu bewerten. Gerade gegenüber Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe bedarf es offensichtlich einer verstärkten und intensiveren Aufklärung über den Sinn und Nutzen der J1 für die gesundheitliche Entwicklung der Jugendlichen.
Auch wenn die vorliegende Arbeit keine Aussagen über durchgeführte Therapien und deren Erfolgsaussichten machen kann, weisen die hier vorgestellten Ergebnisse darauf hin, dass diese Früherkennungsmaßnahme dazu beitragen kann, gesundheitliche Probleme von Jugendlichen zu erkennen. Das Ziel muss sein, durch eine wesentlich höhere Teilnahmerate auch bei den verbleibenden zwei Dritteln der Nicht-Teilnehmer deren versteckte gesundheitliche Probleme frühzeitig zu erfassen und somit für alle Jugendlichen eine ergebnisorientierte Therapie und Beratung einzuleiten. Überaus wünschenswert wäre schließlich auch eine aktuelle vollständige Erfassung der J1-Teilnahme sowie eine systematische Auswertung aller dabei erhobenen Daten.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 18. 2. 2010, revidierte Fassung angenommen: 18. 5. 2010
Anschrift für die Verfasser
Dr. phil. Bernd Hagen
Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung
Sedanstraße 10–16
50668 Köln
E-Mail: bhagen@zi-berlin.de
Summary
The J1 Adolescent Health Check-Up: Analysis of Data From the German KiGGS Survey
Background: We analyzed data from the Robert Koch Institute’s KiGGS survey regarding the J1 adolescent health check-up in order to determine what information this check-up provides.
Methods: Descriptive statistical analysis of J1 participation with respect to social, demographic, medical and psychological factors, with logistic regression analysis of the risk associated with non-participation.
Results: 32.9% of all adolescents in Germany aged 14 to 17 had a J1 check-up. Thus, the J1 participation rate has remained low since the introduction of the J1 in Germany. The main conditions that were more commonly found in adolescents who had a J1 check-up were thyroid disorders (4.1% vs. 2.9%), and scoliosis (14.8% vs. 10.5%). Adolescents were only half as likely to have a J1 check-up if they were under the care of general practitioner, rather than a pediatrician (odds ratio [OR] 0.46, 95% confidence interval [CI] 0.36–0.60). Foreign adolescents were only half as likely to have a J1 check-up as German ones (OR 0.51, 95% CI 0.31–0.84).
Conclusion: There is compelling evidence that scoliosis and thyroid disorders, in particular, are underdiagnosed if a J1 check-up is not performed. Thus, elevating the J1 participation rate should be a priority. If a J1-check up were performed in the nearly two-thirds of all adolescents who currently do not undergo one, many latent health problems could be recognized and treated in timely fashion.
Zitierweise
Hagen B, Strauch S: The J1 adolescent health check-up: analysis of
data from the German KiGGS survey. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(11): 180–6 DOI: 10.3238/arztebl.2011.0180
@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Kinderarztpraxis, Münster: Dr. med. Strauch
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Lüder, Steffen
Hommer, Georg
Hagen, Bernd; Strauch, Stefan