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Deutsch-Russische Gesundheitskooperation: Eine neue Phase der Zusammenarbeit


In der sibirischen Hauptstadt Nowosibirsk füllten mehrere Hundert deutsche und russische Ärzte und Wissenschaftler das neue deutsch-russische Gesundheitsabkommen mit Leben.
Mehr als fünf Flugstunden vom Epizentrum der politischen Macht in Russland entfernt würde kaum jemand, der Nowosibirsk nicht kennt, eine größere Konferenz vermuten. Doch die Metropole der Oblast Nowosibirsk ist nicht nur die drittgrößte Stadt Russlands und die größte Stadt Sibiriens. Nowosibirsk und der dazugehörige Verwaltungsbezirk wurden als Modellregion für die bilaterale Zusammenarbeit im Gesundheitswesen zwischen der deutschen föderalen Ebene und den Regionen Russlands ausgewählt.
Nowosibirsk verfüge über großes wirtschaftliches Potenzial und intellektuell-wissenschaftliche Ressourcen, sagte Ministerialdirigent Dr. Ewold Seeba zum Auftakt des 9. Deutsch-Russischen Gesundheitsdialogs des Koch-Metschnikow-Forums (KMF). Hinzu komme eine Regierung, die wissenschaftlich-fachlichen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen sei. Seeba war gemeinsam mit weiteren Vertretern des Bundesgesundheitsministeriums sowie zahlreichen deutschen Wissenschaftlern und Ärzten in den schneebedeckten und eisig kalten Ort gereist, um das im Juli 2010 verabschiedete deutsch-russische Gesundheitsabkommen mit Leben zu füllen.
Das Abkommen war am 15. Juli 2010 von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler und seiner russischen Amtskollegin Tatjana Golikowa bei den deutsch-russischen Regierungskonsultationen in Jekaterinenburg unterzeichnet worden. Ziel ist die Gesundheitskooperation in den Bereichen der gesundheitlichen Prävention, beim Schutz der Gesundheit von Mutter und Kind, bei Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder HIV/Aids, bei E-Health-Themen in der Medizin, im Bereich Krankenversicherung und Systementwicklung sowie bei der medizinischen Ausbildung. Maßnahmen können Austauschprogramme für Wissenschaftler, Seminare, Symposien und Konferenzen sowie der Austausch von Informationen zum Gesundheitswesen und die Unterstützung des Aufbaus
einer Gesundheitsinfrastruktur sein. Das KMF – eine 2006 auf dem
Petersburger Dialog gegründete deutsch-russische Wissenschaftsorganisation zur Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnis im Gesundheitswesen in praktisches Handeln – gehört der Kommission an.
Das Spektrum der Konferenz in Nowosibirsk erstreckte sich auf Kernthemen des Abkommens wie die Tuberkulosebekämpfung, Gesundheit im Alter, sozialmedizinische Innovationen, Rehabilitationsmedizin, E-Health, die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Medizinalfachberufe sowie auf die Pflegewissenschaften. Parallel dazu ging es um Grundlagen der ärztlichen Selbstverwaltung in beiden Ländern.
Zahlreiche Vorträge veranschaulichten, welche große Lücke zwischen den Gesundheitssystemen klafft. In Sibirien sei durchschnittlich weniger als ein Arzt für 1 000 Patienten zuständig, berichtete Dr. Lybow Radschenko, Leiterin des Medizinzentrums des Sibirischen Föderalbezirks in Nowosibirsk. Der anhaltende Nachwuchsmangel führe dazu, dass 60-jährige Ärzte inzwischen zu den Jüngeren zählten. Viele Studierende hätten zwar die Möglichkeit, temporär auf dem Land zu praktizieren, die finanziellen Anreize durch den Staat dafür seien aber gering, erläuterte die Ärztin. Gleichzeitig strömen nach Angaben von Radschenko immer mehr Patienten in die Krankenhäuser. Lange Wartezeiten und Einbußen bei der Qualität der Behandlung sind die Folgen. Vielen Patienten mangele es zudem an Wissen zur Selbsthilfe, auch die medizinische Aufklärung an Schulen lasse zu wünschen übrig.
Auch Prof. Andrei Babenko von der Staatlichen Universität Tomsk kritisierte das Niveau der medizinischen Versorgung in Russland. „Wir müssen uns verstärkt an neuen Krankheitsbildern orientieren und Altlasten abbauen“, forderte er. Prof. Wladimir A. Krasnow, Direktor des Novosibirsk Research Tuberculosis Institute, verwies auf die hohe Tuberkuloserate in Russland, insbesondere in Sibirien. 2008 wurden russlandweit 120 835 Tuberkulosefälle gemeldet (85,1 je 100 000 Einwohner). Davon traten in der Föderalregion Sibirien 25 988 neue Fälle auf (132,9 je 100 000 Einwohner). Krasnow zufolge verschärfen das niedrige Lebensniveau und die Armut, gepaart mit vielen Flüchtlingen aus Zentralasien und China, die Situation.
Ministerialrat Ortwin Schulte hob die gesundheitspolitische Bedeutung der 9. KMF-Konferenz hervor und lobte das „schnelle Inkrafttreten“ des Gesundheitsabkommens. Für ein völkerrechtliches Abkommens sei dies eine rekordverdächtige Umsetzung. „Abkommen wie dieses können schneller zu Ergebnissen führen und sind besser zum Erarbeiten von Modellen für multilaterale Verträge“, betonte er. Als besonders wichtig bezeichnete Schulte die direkten Kontakte zwischen den Fachkreisen in den Regionen.
Auch von russischer Seite aus wurde die Bedeutung der Nowosibirsker Konferenz unterstrichen. „Wir begrüßen diese neue Phase der Zusammenarbeit, die mit dem Abkommen eingeläutet worden ist“, sagte Prof. Dr. Irina Son, Vertreterin des Föderalen Russischen Gesundheitsministeriums. In Kürze steht ein Besuch russischer Partner in Deutschland an; schon im März veranstaltet das KMF zusammen mit der Charité, dem Robert-Koch-Institut und dem Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose ein Symposium beim Welttuberkulosetag in Berlin.
Martina Merten