ArchivDeutsches Ärzteblatt13/2011„Euthanasie“: Alte Schuld

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„Euthanasie“: Alte Schuld

Jachertz, Norbert

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Gedenken in Schönbrunn. Die langen Listen mit den Namen der Opfer sind verlesen und liegen nun aus. Jeder Teilnehmer der Versöhnungsfeier in der Anstaltskirche stellt ein Lichtlein auf. Fotos: Franziskuswerk Schönbrunn Rommé, Krings
Gedenken in Schönbrunn. Die langen Listen mit den Namen der Opfer sind verlesen und liegen nun aus. Jeder Teilnehmer der Versöhnungsfeier in der Anstaltskirche stellt ein Lichtlein auf. Fotos: Franziskuswerk Schönbrunn Rommé, Krings

Die Franziskanerinnen von Schönbrunn bringen Licht in eine dunkle Vergangenheit. Ihre Pflegeanstalt kooperierte zwischen 1939 und 1945 mit der Stadt München und opferte mehr als 500 Pfleglinge.

Schönbrunn liegt im Dachauer Moos. Eine kleine, aufgeräumte Stadt für 800 Menschen, die allein nicht zurechtkommen. Im Zentrum die Kirche Sankt Josef,
die Prälat-Steininger-Straße führt zu Häusern, die nach heiligen Frauen und Männern benannt sind. Schließlich ist Schönbrunn eine katholische Pflegeeinrichtung, getragen von den Dienerinnen der göttlichen Vorsehung, einer vom Münchener Erzbischof approbierten Kongregation, die nach der Regel des heiligen Franziskus lebt. In diesem Jahr wird der Orden 100 Jahre alt. Ein verhalten zu begehendes Jubiläum. Nur noch 96 Schwestern leben in Schönbrunn. Die meisten alt, viele sehr alt und selbst hilfsbedürftig, kaum Nachwuchs, weltliche Kräfte rücken zunehmend nach. Karitative Orden haben es heute schwer. Und dann drückt die Schönbrunner Franziskanerinnen auch eine alte Schuld. Die alten Damen sind inzwischen mutig genug, sich ihr zu stellen. Und sie hoffen auf Versöhnung.

Verrat und Aufklärung

Am 20. März 1941 verließen 177 ängstliche, orientierungslose Männer und Frauen die Pflegeanstalt Schönbrunn. Sie wurden in eine andere Pflegeanstalt, nach Eglfing-Haar verlegt. Dort waren Betten frei geworden. Eglfing gehörte zum Netz der Aktion T4, dem Krankenmord mittels Gas. Daher die freien Betten. Die Verlegung sollte gemäß einer Anweisung des Landesfürsorgeverbandes Oberbayern unauffällig vonstattengehen: Von einer vorherigen Verständigung der Angehörigen der Kranken sei im Interesse eines geregelten Abtransports abzusehen. Denn „Berichte und Gerüchte hatten auch Betroffene und Angehörige erreicht und für das tödliche Risiko, das mit den ,Verlegungen‘ einherging, sensibilisiert“, vermerkt die Historikerin Annemone Christians. T4 endete im August 1941, danach wurde in Eglfing-Haar die Methode gewechselt: Hungerkost, Ruhigstellen durch Schlafmittel, Lungenentzündung, Tod.

Christians schreibt am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München ihre Doktorarbeit über die Kooperation der Kongregation von Schönbrunn mit dem Münchener Gesundheitsamt während der NS-Zeit. Zuvor hatte bereits der Journalist Markus Krischer vom „Focus“ dazu recherchiert („Kinderhaus“, 2006). Ein weiteres Forschungsprojekt läuft am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität (TU) München. Hier sichtet Tanja Kipfelsperger für ihre Dissertation mehr als 900 Pfleglingsakten, um Lebenswege zu rekonstruieren und die Opfer aus der Anonymität zu holen. Die den Pfleglingen aufgezwungenen Wege seien „komplex“ gewesen, „Mehrfachverlegungen“ habe es häufig gegeben, so Kipfelsperger, „und manchmal verliert sich die Spur“.

Die Schwestern sind selbst daran interessiert, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ein entscheidender Anstoß kam 1993 durch die sogenannte Sewering-Affäre. Prof. Dr. med. Hans Joachim Sewering (1916– 2010), über vier Jahrzehnte einer der maßgeblichen ärztlichen Standespolitiker der „alten“ Bundesrepublik, war als junger Arzt ab 1942 in Schönbrunn tätig, vorwiegend in einer Lungenklinik auf dem Anstaltsgelände, daneben aber auch als Anstaltsarzt. In dieser Funktion hatte er 1943 ein 14 Jahre altes Mädchen nach Eglfing-Haar überwiesen; das Kind kam dort um. Der Fall wurde 1978 erstmals publik und trat 1993 wieder zutage, als Sewerings Wahl für das Amt des Präsidenten des Weltärztebundes anstand. Er musste schließlich auf die bereits sicher gewähnte Krönung seines Lebenswerks verzichten. Seine Einlassung, er habe im Einvernehmen mit den Schwestern gehandelt und weder er noch diese hätten gewusst, was in Eglfing-Haar 1943 vor sich ging, führte zu einem schweren Konflikt mit den Schönbrunner Schwestern, insbesondere deren Generaloberin M. Benigna Sirl. Denn die Schwestern hätten, sagte Sirl 1993 dem Deutschen Ärzteblatt, durchaus Bescheid gewusst. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ präzisierte sie später (1997, online 27. Mai 2008), als der Konflikt mit Sewering eskalierte, die Schwestern hätten von sich aus nie eine Überweisung nach Haar veranlasst, es habe in der Verantwortung des Arztes gelegen, „wohin der Patient kommt“. Der Orden brach mit Sewering, der zuvor in Schönbrunn gern gesehen war.

Kernzelle von Schönbrunn, der in 150 Jahren gewachsenen kleinen Stadt für Behinderte, ist ein schlichtes, wohltätig gestiftetes Schloss.
Kernzelle von Schönbrunn, der in 150 Jahren gewachsenen kleinen Stadt für Behinderte, ist ein schlichtes, wohltätig gestiftetes Schloss.

Mit dessen geistlichem Leiter und Direktor, dem Prälaten Josef Steininger, war Sewering freundschaftlich verbunden. Steininger wirkte in Schönbrunn von 1917 ununterbrochen bis zu seinem Tod im Jahr 1962. Geschätzt, ja verehrt bis über den Tod hinaus, in den Augen der Schwestern ein begnadeter Organisator und eine Stütze in schwerer Zeit, nach eigenem Bekunden in seinen nach dem Krieg verfassten Erinnerungen ein Kämpfer gegen die Nationalsozialisten. Die Nachforschungen zunächst des Journalisten Krischer, dann der Historiker(innen) lassen Steiningers Rolle während der NS-Zeit hingegen in neuem Licht erscheinen. Der Prälat setzte alles daran, seine Anstalt zu retten – die Anstalt, nicht deren Insassen. Steininger bot der Stadt München von sich aus an, einzelne Häuser von Schönbrunn als Ausweichquartiere zu nutzen. Als Altenheim, später als Krankenhäuser, darunter 1941 das Tuberkulosekrankenhaus, in dem dann Sewering tätig wurde.

Schönbrunn wurde leer geräumt, die Pfleglinge geopfert. Das war der Preis, den Steininger zahlen musste, um „seine“ Anstalt zu retten. Ein Verrat an den Schutzbefohlenen, wenn die „Kooperation“ so ablief, wie es die Nachforschungen heute nahelegen – und daran scheint kein Zweifel mehr zu bestehen, wenn auch die ob der Erkenntnisse erschütterte Oberin Benigna zu bedenken gibt, Steininger sei jetzt der Wehrlose, er könne sich nicht mehr verteidigen.

Tödliche Transporte

Jener Transport vom 20. März 1941 war der erste von vier großen Transporten; allein 1943 kamen mehr als 580 Frauen und Männer nach Eglfing-Haar, „in die Zentrale der Euthanasie in Bayern“. 1944 schließlich „begann die vierte und letzte Etappe des Münchner Zugriffs auf Josef Steiningers Anstalt“ (jeweils zitiert nach Annemone Christians). Große Teile des Nymphenburger Krankenhauses des „Dritten Ordens“ der Franziskaner, das in München ausgebombt war, wurden im Juli 1944 nach Schönbrunn ausgelagert. Hinzu kam ein Lazarett. Beim letzten größeren Transport wurden 47 Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 16 Jahren nach Eglfing-Haar „verlegt“. Insgesamt wurden aus Schönbrunn zwischen 1939 und 1945 circa 900 Pfleglinge deportiert. Bis heute ist nicht genau bekannt, wie viele von ihnen der „Euthanasie“ zum Opfer fielen. Immerhin konnte Kipfelsperger aus den Akten 546 Schutzbefohlene namentlich ermitteln, die Schönbrunn zwangsweise verlassen mussten. Von ihnen seien mehr als zwei Drittel „mit großer Sicherheit umgebracht worden“, schätzt Oberin M. Benigna Sirl. Bei den übrigen sei es „sehr wahrscheinlich“.

Das vertrackte Ergebnis der „Kooperation“ für Steininger: Anstalt gerettet, Pfleglinge tot; für die Münchener und den „Dritten Orden“: die eigenen Patienten versorgt, die Schwächsten (damals: „Ballastexistenzen“) geopfert. Und die Schwestern? Sie blieben während all der Jahre und scheinen dem Prozess ausgeliefert gewesen zu sein. Zu einem Transport im Jahr 1943 vermerkt ihre Chronik: „Am 22. Dezember traf uns das große Leid zum zweiten Mal, dass wir unsere Pfleglinge fortgeben müssen. 180 kamen nach Eglfing.“ Beim Kindertransport 1944 fuhren Schwestern in den berüchtigten „grauen Bussen“ mit. Die Kinder hätten sich an sie geklammert, und sie hätten sie nicht weggeben wollen, erinnerten sich noch 1993 einige Nonnen, seitdem verfolge sie die Erinnerung. Heute lebt keine dieser Zeitzeuginnen mehr. Berichtet wird auch davon, dass Patientenakten geschönt wurden, um die Selektionskommandos der SS-Ärzte zu täuschen, oder dass Schützlinge versteckt wurden. Doch auch die Schwestern wurden getäuscht, indem eine Deportation gerade dann stattfand, wenn sie in der Kirche waren.

Von welcher Art die „Kooperation“ Schönbrunns mit der Stadt München war, haben viele gewusst, insbesondere das Münchener Gesundheitsamt und dessen Leiter, Dr. med. Josef Limmer, oder die Verhandlungsführer des „Dritten Ordens“ und natürlich Josef Steininger. Historikerin Christians schließt daraus: „Davon, dass alle Beteiligten die tödliche Konsequenz, die sich aus den Verlegungen ergeben konnte, in Kauf nahmen, können und müssen wir heute ausgehen.“ Ob Sewering, mit dem Steininger viele offene Gespräche geführt haben will, ein Beteiligter war, bleibt offen. Desgleichen, weshalb sich die Schwestern über Eglfing-Haar nichts vormachten, der überweisende Arzt aber nichts gewusst haben will. In die großen Transporte scheint Sewering jedenfalls nicht eingebunden gewesen zu sein. Doch weisen die Akten aus Eglfing-Haar aus, dass er nicht nur jenes 14-jährige Mädchen überwiesen hat, sondern acht weitere Pfleglinge (so der Medizinhistoriker Dr. med. Gerrit Hohendorf, TU München, 2008 bei einer Tagung in Gießen).

Stationen des Eingestehens

Oktober 1978, Bayerischer Ärztetag in Sankt Englmar im Bayerischen Wald. Im weiß-blauen Festzelt spricht Prälat Dr. med. Curt Genewein namens des Münchener Erzbischofs, Kardinal Joseph Ratzinger, ein sibyllinisches Grußwort, bestimmt für den Kammerpräsidenten, Professor Sewering. Genewein versichert, „die kirchlichen Anstalten und die damals dort tätigen Ärzte kann auch nicht der leiseste Vorwurf treffen, sich an den nationalsozialistischen Verbrechen gegen das menschliche Leben beteiligt zu haben“. Und zu den Gerüchten um Schönbrunn konstatiert er: „Es ist sicher, dass in Schönbrunn kein einziger Pflegling im Rahmen der Euthanasie-Aktion getötet worden ist.“ Der Kirchenmann räumt zu Schönbrunn hingegen ein, dass „dort wie anderswo nicht verhindert werden konnte, dass eine geringe Zahl von Pfleglingen von einer auswärtigen ,Selektionskommission‘ausgewählt und gegen den Willen der Schwestern abtransportiert worden ist“. Die Zuhörer haben gespannt zugehört, hatte sie doch wenige Monate zuvor ein Bericht im „Spiegel“ über die Überweisung einer 14-Jährigen im Jahr 1943 irritiert.

Januar 1993, die „Sewering-Affäre“ kocht hoch. Der Bistumssprecher, auf Geneweins Weißwäsche angesprochen, will sich dazu nicht äußern. Den Franziskanerinnen von Schönbrunn wird auferlegt, zur „Affäre“ nur mehr eine mit dem Generalvikariat ausgehandelte Erklärung abzugeben und Anfragen im Übrigen abzuwimmeln. Die Erklärung enthält immerhin die Botschaft, dass sich die Schwestern über Eglfing-Haar im Klaren gewesen sind.

In Schönbrunn lange gern gesehen und im Unfrieden mit den Schwestern geschieden: Hans Joachim Sewering (links, Foto: Archiv ), bis 1945 zeitweilig Anstaltsarzt, später hoher Ärztefunktionär, befreundet mit Schönbrunns Leiter, dem Prälaten Steininger (rechts, Foto:privat)
In Schönbrunn lange gern gesehen und im Unfrieden mit den Schwestern geschieden: Hans Joachim Sewering (links, Foto: Archiv ), bis 1945 zeitweilig Anstaltsarzt, später hoher Ärztefunktionär, befreundet mit Schönbrunns Leiter, dem Prälaten Steininger (rechts, Foto:privat)

Januar 2011, Versöhnungsfeier in Schönbrunn. In der Kirche des heiligen Joseph sind versammelt die Mühseligen und Beladenen der Anstalt, Angehörige, Pfleger, Schwestern. Ein Monsignore bittet um Kraft, sich der Geschichte zu stellen. Berichte von Zeitzeugen werden verlesen: „Ich habe so Angst gehabt“ (ein Pflegling), „Wir haben die Kinder doch geliebt“ (eine, inzwischen gestorbene, Schwester). Ratlose Anfrage des Monsignore an den Herrgott: „Dürfen wir glauben, dass du damals bei ihnen warst?“

Sodann, das Schrecklichste: Die 546 Pfleglinge, die Schönbrunn verlassen mussten und von denen die meisten ermordet wurden, werden mit Vornamen und Alter aufgerufen. Alle die Annas und Franziskas. Die Josephs und Antons. Kinder, Alte, Männer und Frauen „im besten Alter“. Auch Babette, 14 Jahre alt, ist darunter, das Mädchen von 1943. Oder Johann, 17 Jahre alt, dessen Schicksal Kipfelsperger nachgegangen ist. Johann, der unter einem Tic-Syndrom litt, öffentlich immer auffiel und deshalb nach Schönbrunn kam. Dort schickte er sich gut. Trotzdem kommt er mit dem ersten großen Transport, dem vom 20. März 1941, nach Eglfing-Haar. Dessen Direktor, der Neurologe Dr. med. Hermann Pfannmüller, schreibt das Todesurteil, indem er auf dem Meldebogen im schwarzen Kasten links unten ein rotes Kreuz malt. Johann wird in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz an der Donau umgebracht. Der Familie teilt man mit, der Junge sei an Ruhr gestorben, und schickt eine Urne mit Asche. Der Vater glaubt nicht, dass da sein Johann drin ist: „Unsern Buam hamma nimma zruckgriagt.“

Schwester Benigna, die Generaloberin, die viel dazu beigetragen hat, dass das Schweigen gebrochen wurde und heute sehr bewegt ist, bedauert, „dass wir die Opfer so lange warten ließen. Sie haben doch einmal zu uns gehört“. Sie kommt auf Steininger zu sprechen, den tatkräftigen Manager, „so haben wir ihn alle geschätzt“. Und den Steininger mit der dunklen Seite, der den Tod der Bewohner in Kauf genommen hat, um seine Anstalt zu retten. Doch als fromme Ordensfrau bittet sie auch für Steininger, den Sünder: „Möge Gott ihm verzeihen und ihm Barmherzigkeit zuteilwerden lassen.“

Von Sewering ist am Rande die Rede, nach der Gedenkandacht. Kein Groll, eher Ratlosigkeit. Die Praxis in Dachau, die Sewering auch als Kammerpräsident noch führte, existiere noch. Einige Schwestern gingen weiter dahin. Ja, und der Professor Sewering habe ein Enkelkind in Schönbrunn gehabt, einen behinderten Jungen. Keiner habe den besucht. Nur der Opa, der sei regelmäßig gekommen.

Norbert Jachertz

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