ArchivDeutsches Ärzteblatt13/2011Medizin in der NS-Zeit: Forschung kaum noch zu überblicken

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Medizin in der NS-Zeit: Forschung kaum noch zu überblicken

Gerst, Thomas

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Ein von der Bundesärztekammer initiierter Bericht ordnet und bewertet den aktuellen Forschungsstand zur Rolle der Ärzteschaft in den Jahren 1933 bis 1945.

Wir stehen erst am Anfang unseres Wissens“ – gar so extrem, wie dies Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler bei der Verleihung des gemeinsam von Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Bundesgesundheitsministerium gestifteten Preises für Forschungen zur Rolle der Ärzteschaft in der NS-Zeit formulierte, stellt sich der Sachverhalt inzwischen wohl nicht mehr dar. Zutreffend allerdings ist: „Ärzte waren mit an den schlimmsten Verbrechen beteiligt, sie haben die Arzt-Patienten-Beziehung missbraucht. Sie haben mit ihrem medizinischen Wissen geholfen, anderen Menschen Leid zuzufügen“ – so Rösler am 23. März bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer der während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen in der Neuen Synagoge in Berlin. Doch dass der Forschungsstand zur NS-Medizingeschichte insgesamt unbefriedigend sei, wurde im Grunde bei derselben Veranstaltung durch den von renommierten Medizinhistorikern vorgelegten Forschungsbericht „Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung“ widerlegt.

Dieser stellt einen ersten Überblick dar über die kaum noch überschaubare Literatur auf diesem Gebiet. Das Buch bietet Orientierung zum bisher erreichten Stand der Forschung und ist gleichzeitig ein Wegweiser für künftige Forschungsprojekte. Zentrale Themen sind die NS-Gesundheitspolitik und die ihr zugrundeliegende Weltanschauung, das Gesundheitswesen und die medizinische Forschung, die medizinische Praxis in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs sowie Brüche und Kontinuitäten nach 1945.

Foto: Norbert Michalke
Foto: Norbert Michalke

Dass es zu dieser Publikation kam, ist insbesondere dem Engagement des im Juni aus seinem Amt scheidenden Bundesärztekammerpräsidenten Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe zu verdanken. Er gab den Anstoß zu diesem Projekt und sorgte durch die Bereitstellung der finanziellen Mittel vonseiten der Bundesärztekammer für eine rasche und erfolgreiche Durchführung. „Wir wissen, dass Ärzte nicht nur weggesehen und geschwiegen, sondern aktiv an der systematischen Ermordung von Kranken und sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen mitgewirkt haben. Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus Tod und Leiden von Menschen herbeigeführt, angeordnet oder gnadenlos verwaltet“, sagte Hoppe bei der Vorstellung des Forschungsberichts in der Neuen Synagoge. Zu spät erst habe sich die deutsche Ärzteschaft nach dem Krieg zur Schuld der Ärzte im Nationalsozialismus bekannt. „Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den von Ärzten begangenen Verfehlungen und Verbrechen hat es in den Nachkriegsjahren bis weit in die 70er Jahre hinein nicht gegeben.“

Dies habe sich in den vergangenen Jahrzehnten doch sehr eindrücklich geändert, betonte Prof. Dr. phil. Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung, Stuttgart. „Man kann sogar sagen, dass es kein Thema in der Medizingeschichte gibt, das in den letzten 30 Jahren so intensiv erforscht worden ist wie die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus.“ Diese an sich zu begrüßende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rolle der Medizin in der NS-Zeit führt allerdings zu einem ganz neuen Problem. Jütte: „Kaum jemand übersieht noch die gesamte Bandbreite der Forschung auf diesem Gebiet. Selbst ausgewiesene Experten und Kenner der Materie tun sich deswegen gelegentlich schwer, den Stellenwert ihrer eigenen Arbeit in diesem sich dynamisch entwickelnden Forschungsfeld richtig einzuschätzen.“ Angesichts dieses inzwischen hochdifferenzierten Forschungsstands sei ein aktueller Forschungsbericht zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus seit vielen Jahren überfällig gewesen.

Der Untertitel des Buches – „Bilanz und Perspektiven der Forschung“ – weist auf die inhaltlichen Schwerpunkte hin. Erstmals würden hier, führte Jütte aus, die Wege der wissenschaftlichen Annäherung an diesen Themenkomplex bewertend in knappen Strichen nachgezeichnet („bibliographie raisonée“); darüber hinaus würden auch die Desiderate künftiger Forschung, die es durchaus noch gebe, benannt. So gebe es etwa in Bezug auf die medizinische Praxis in der Zeit des Nationalsozialismus noch viel Forschungsbedarf. Einige Leitthemen der Sozialgeschichte der Medizin, wie zum Beispiel Professionalisierung oder Medikalisierung, seien bisher unzureichend berücksichtigt worden.

Der Forschungsbericht gibt eine ordnende Struktur für die Vielzahl der vorliegenden Einzeldarstellungen zur NS-Medizin. Deutlich zeigt er damit aber auch, woran es mittlerweile bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vor allem mangelt: Es fehlt an Gesamtdarstellungen, die auf dem neuesten Stand der Forschung ein möglichst breites Spektrum abdecken.

Thomas Gerst

Forschungspreis verliehen

Ausgezeichnete Forschung: Preisträger, umgeben von Stiftern und Juroren (erste Reihe v.l.: Schwoch, von Villiez, Rueß; zweite Reihe, dritter v.l.: Ebell) Foto: Norbert Michalke
Ausgezeichnete Forschung: Preisträger, umgeben von Stiftern und Juroren (erste Reihe v.l.: Schwoch, von Villiez, Rueß; zweite Reihe, dritter v.l.: Ebell) Foto: Norbert Michalke

Im Rahmen der Gedenk­veranstaltung in der Neuen Synagoge wurden zum dritten Mal die mit insgesamt 10 000 Euro dotierten Forschungs­preise, gestiftet vom Bundes­gesund­heits­ministerium, der Bundes­ärzte­kammer und der Kassen­ärztlichen Bundes­ver­einigung, für die historische Auf­arbeitung der Rolle der Ärzte­schaft in der NS-Zeit verliehen.

Hauptpreisträgerin in diesem Jahr ist Dr. med. Susanne Rueß, die in ihrer Dissertation anhand von Einzelschicksalen das an jüdischen Ärzten begangene Unrecht in der NS-Diktatur – auch noch nach 1945 – beschreibt. Die Arbeit der Stuttgarter Ärztin ist für die Jury nicht nur ein herausragendes Gedenkbuch, das die Opfer aus der Anonymität heraushole. Es sensibilisiere auch die nachwachsende Ärztegeneration dafür, dass Zivilcourage möglich und ein bleibendes Thema ärztlicher Ethik sei.

Weitere Forschungspreise gingen an Dr. phil. Rebecca Schwoch, aus deren Forschungsprojekt zwei Monografien hervorgingen, in denen die Strukturen der Verfolgung jüdischer niedergelassener Ärzte sowie die Kontinuitäten und Brüche im Denken und Handeln der organisierten Ärzteschaft in Berlin vorbildlich dargestellt werden, und an Dr. phil. Anna von Villiez, die in ihrer Lokalstudie zum Schicksal jüdischer Ärzte in Hamburg während der NS-Zeit sowohl die niedergelassenen als auch die klinisch tätigen Ärzte berücksichtigt.

Mit einem Sonderpreis zeichneten die Juroren Dr. med. Hansjörg Ebell aus, der mit einem Ausstellungsprojekt an den 70. Jahrestag des Approbationsentzugs bei jüdischen Ärztinnen und Ärzte erinnert. Die Wanderausstellung ist vom 24. März bis zum 29. April im Haus der Bundesärztekammer in Berlin-Tiergarten zu besichtigen.

Susanne Rueß: Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus. Königshausen & Neumann, Würzburg 2009, broschiert, 49,80 Euro

Rebecca Schwoch, (Hrsg.): Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Hentrich & Hentrich, Berlin 2009, 973 Seiten, 38 Euro

Judith Hahn, Rebecca Schwoch: Anpassung und Ausschaltung. Die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus. Hentrich & Hentrich, Berlin 2009, 227 Seiten, 19,80 Euro

Anna von Villiez: Mit aller Kraft verdrängt. Entrechtung und Verfolgung „nicht arischer“ Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945. Galitz Verlag, Hamburg 2009, broschiert, 24,90 Euro

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