THEMEN DER ZEIT
Kinderchirurgie im Jemen: „Lehre zur Lehre“ oder Hilfe nach Bedarf


Die Hälfte der Jemeniten ist unter 14 Jahre alt. Dennoch gibt es kaum kinderchirurgische Kapazitäten in dem ärmsten Land auf der arabischen Halbinsel. Jemenitische und deutsche Ärzte wollen diese Lücke schließen.
Wenn Claus Petersen an seine Zeit als Entwicklungshelfer im afrikanischen Benin denkt, hat er immer den blau-weißen Traktor vor Augen. Die solide Maschine wurde den Bauern von der Volksrepublik China gekauft, um die Landarbeit zu vereinfachen. Doch schon nach 25 Betriebsstunden war Schluss: Als ein Problem auftrat, konnte niemand die Handbücher lesen – denn sie waren auf Chinesisch und Englisch geschrieben, im Benin spricht man jedoch Französisch. Also verrottete der Traktor seither am Wegesrand.
Für Petersen ist die Geschichte ein Symbol für Fehler in der Entwicklungshilfe: Häufig wird viel Geld ausgegeben, ohne die Be-dingungen vor Ort einzubeziehen. Der Kinderchirurgie-Professor, der für die Kinderklinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) arbeitet, kennt genug Kollegen, die ebenfalls hochmotiviert in Länder der Dritten Welt gegangen sind, um zu helfen, aber frustriert von der Willkür und Unsinnigkeit vieler Entwicklungshilfeprojekte zurückkamen.
„Nie wieder“, hat sich der Kinderchirurg danach geschworen. Seit fünf Jahren engagiert er sich dennoch erneut in einem Dritte-Welt-Land für ein Projekt, das aus einer Privatinitiative heraus entstanden ist. Ziel ist es, die Kinderchirurgie sowohl in der Klinik als auch in der universitären Ausbildung im Jemen zu verankern.
Aufschwung ist nicht in Sicht
Die erst im Mai 1990 aus der Vereinigung der zerstrittenen Teilstaaten Nord- und Südjemen hervorgegangene Demokratische Volksrepublik Jemen gehört zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt der KfW-Entwicklungsbank zufolge bei 450 US-Dollar, mehr als ein Drittel der circa 20 Millionen Jemeniten lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Eine Besserung ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Die kleinen Ölreserven, die dem Land einen kurzzeitigen Aufschwung verschaffen konnten, sind fast ausgeschöpft, und inzwischen wird auch das Grundwasser knapp.
Politisch wird der Jemen immer noch von den traditionellen Stämmen dominiert. Präsident Ali Abdullah Saleh, der seit 1978 regiert, hat daher außerhalb der Hauptstadt Sanaa kaum Kontrolle. Zeitgleich mit den Protesten in Ägypten, die zum Rücktritt von Präsident Husni Mubarak führten, begannen auch im Jemen Demonstrationen von Regierungsgegnern für eine Demokratisierung des Landes. Erstes Ergebnis ist Salehs Zusage, nicht noch einmal für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen.
Auch im medizinischen Bereich gibt es wenig Erfreuliches: Die Infrastruktur wurde in den 70er Jahren weitgehend mit Mitteln aus dem Ausland eingerichtet: staatliche Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Tageskliniken in den Städten. Doch nur circa 50 Prozent der Einwohner haben überhaupt Zugang zum Gesundheitssystem, viele können sich überdies nicht einmal die staatlichen Behandlungsgebühren leisten. Auf der anderen Seite boomen gut ausgestattete Privatkliniken. Wer es sich leisten kann, lässt sich dort fast auf westlichem Niveau behandeln.
Während Familienplanung und Geburtshilfe über Entwicklungshilfeprojekte kontinuierlich ausgebaut werden, fehlt eine öffentliche Kinderchirurgie fast gänzlich – obwohl mehr als die Hälfte der Jemeniten unter 14 Jahre alt ist. Die Folge: Viele Neugeborene sterben an Krankheiten, die man in den Industrieländern ganz selbstverständlich nach der Geburt korrigiert. Operiert wird in der Regel gar nicht oder von Erwachsenenchirurgen ohne Erfahrung im Umgang mit den zarten Geweben und Organen. Ungewöhnlich hoch ist im Jemen etwa die Inzidenz für die angeborene Analatresie. Wird diese zu spät oder nicht fachgerecht operiert, leiden die Kinder ihr Leben lang an Stuhlinkontinenz. Ohne ausgebildete Kinderchirurgen und eine entsprechende Ausstattung sind auch die Chancen für Kinder mit Ösophagusatresie schlecht: Gibt es keine Beatmungsmöglichkeit, sterben mehr als 90 Prozent der kleinen Patienten nach der Operation.
Der in Deutschland ausgebildete jemenitische Arzt Ali Al-Gamrah hat es sich daher zu seinem Anliegen gemacht, die Kinderchirurgie im Jemen zu etablieren. Als ersten Schritt hat der Chirurg im Al-Sabeen-Hospital in Sanaa eine erste öffentliche Station für Kinderchirurgie eingerichtet – mit bescheidenen Mitteln, unzureichender Ausstattung und nur einem in diesem Fachgebiet weitergebildeten Kollegen.
Der Bedarf ist jedoch weit größer, und Al-Gamrahs Ziel war es, Kinderchirurgen im eigenen Land auszubilden. In der MHH-Kinderklinik und deren Leitern Prof. Dr. med. Benno Ure und Prof. Dr. med. Claus Petersen fand der jemenitische Mediziner engagierte Mitstreiter. 2005 wurde das Projekt „Lehre zur Lehre“ geboren, das auf zwei Säulen basiert: einerseits einer Erweiterung des Medizinstudiums an der Universität Sanaa um den Bereich Kinderchirurgie, andererseits dem Ausbau der kinderchirurgischen Station im Al-Sabeen-Hospital zu einer kinderchirurgischen Referenzklinik für Ausbildung und medizinische Versorgung.
In den vergangenen fünf Jahren haben Petersen und Al-Gamrah das Projekt mit Hartnäckigkeit und langem Atem entscheidend vorangebracht. In einem von der Stadt Sanaa zur Verfügung gestellten Rohbau auf dem Klinikgelände ist die Kinderklinik entstanden. Das dreistöckige Gebäude bietet rund 2 400 Quadratmeter Platz für drei Operationssäle, Behandlungsräume, einen Endoskopiebereich, Ultraschall- und Röntgenräume, ein Labor, eine Ambulanz und eine Neugeborenenstation.
Es fehlen Spenden
Für die weitere Ausstattung hat Petersen in Deutschland so lange die Werbetrommel gerührt und Klinken geputzt, bis Ende 2010 ein 40-
Fuß-Container mit gespendeten Gebrauchtgeräten im Wert von mehr als 100 000 Euro aus Deutschland nach Sanaa geschickt werden konnte. Die Transportkosten hat die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit übernommen. Noch fehlen zwar Spenden für den laufenden Betrieb und weiteres Equipment, doch die Eröffnung der Klinik ist in greifbare Nähe gerückt. Im Herbst soll das Gebäude mit einem Kinderchirurgie-Workshop an der Universität Sanaa eröffnet werden.
Mit Hilfe des Deutschen Akademischen Austauschdienstes wurde zudem das Fach Kinderchirurgie unter der Leitung von Al-Gamrah an der Universität eingerichtet, ein Curriculum entwickelt, und es wurden Kooperationen mit der Arabischen Gesellschaft für Kinderchirurgie sowie Kinderchirurgen auf der arabischen Halbinsel etabliert, allen voran Prof. Alaa Al-Hamza aus Kairo und Prof. Aayed Al-Qahtani aus Riad. Im Frühjahr 2010 hat bereits mit großem Erfolg ein arabischer Kinderchirurgie-Workshop in Sanaa stattgefunden, ein internationaler Kongress ist geplant. „Das Projekt könnte ein Vorbild für andere Städte im Jemen, etwa Taiz oder Aden sein, wo ebenfalls kinderchirurgische Kapazitäten fehlen“, erklärt Petersen. Sowohl er als auch Al-Gamrah sind zuversichtlich, dass die Kinderchirurgie im Jemen durch die Initialzündung des Projekts in einigen Jahren aus eigener Kraft arbeiten kann.
Nicola Zellmer
Ein Spendenkonto für das Projekt hat die Medizinische Hochschule Hannover bei der Sparkasse Hannover eingerichtet: BLZ 250 501 80, Kontonummer 37 03 71, Stichwort „Kinderchirurgie für den Jemen“.