ArchivDeutsches Ärzteblatt14/2011US-Gesundheitswesen: Obamas Reform unter Druck

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US-Gesundheitswesen: Obamas Reform unter Druck

Schmitt-Sausen, Nora

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Vor einem Jahr hat US-Präsident Barack Obama die Reform des Gesundheitswesens auf den Weg gebracht. Doch die Republikaner möchten das Jahrhundertgesetz immer noch stoppen.

So gut wie nichts hat sich in den vergangenen zwölf Monaten verändert. Die Fronten zwischen Demokraten und Republikanern sind verhärtet. Während das linke Lager die Gesundheitsreform anlässlich des einjährigen Geburtstags als „Meilenstein in der Geschichte dieser Nation“ feiert, torpedieren die Konservativen Obamas Prestigeobjekt unermüdlich. Ihre Kernargumente gegen die Reform: Sie vernichte Jobs, sei ein teures, bürokratisches Monster und gebe der Regierung zu viel Einfluss auf das Alltagsleben der Amerikaner. Der Widerruf des Jahrhundertgesetzes ist eines der zentralen Ziele republikanischer Politik.

Dafür nutzen die Konservativen die neuen Kräfteverhältnisse in den USA. Seit der Kongresswahl im November 2010 haben sie die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Mit dieser Stärke im Rücken wollen sie das Gesetz stoppen und durch eine andere Reform ersetzen. Zum Jahresanfang stimmten die Republikaner für den Widerruf der Reform. Das war zwar ein Akt ohne Folgen, da der demokratisch dominierte Senat die Reform nicht zur Debatte stellte – doch einer von hohem symbolischem Wert.

Die Opposition blockiert die nötigen Finanzmittel

Jüngst blockierten die Konservativen Geldzuflüsse, die für die Umsetzung des Gesetzes notwendig sind. Der Republikaner John Boehner, Sprecher des Repräsentantenhauses, machte deutlich, dass diese Schritte erst der Auftakt für weitere Manöver sein sollen, die das Ziel hätten, das Gesetz zu Fall zu bringen: „Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um sicherzustellen, dass ObamaCare niemals vollständig umgesetzt wird.“ Für die kommenden Wochen kündigte Boehner weitere Abstimmungen und Anhörungen an, um das Gesetz „Schritt für Schritt zu zerlegen“. Argumente der Demokraten, die Reform mache Gesundheitsversorgung zu einem Recht für alle und nicht mehr nur zu einem Privileg für diejenigen, die es sich leisten könnten, stoßen bei den Republikanern auf taube Ohren.

Auch auf legislativer Ebene ist der Streit um das Gesetz in vollem Gange. Mehr als 20 Klagen wurden gegen die Reform eingereicht, viele darunter von republikanischen Gouverneuren. Landesweit sorgten zwei Entscheidungen für Aufsehen: Richter in Florida und Virginia erklärten, Teile von Obamas Reform verstießen gegen die Verfassung. Drei Richter stellten sich in ihren Urteilen dagegen hinter das Gesetz. Die konträren Urteile machen eines deutlich: Das juristische Tauziehen um die Reform wird wohl erst vor dem Supreme Court enden, dem höchsten US-Gericht. Rechtsexperten sagen eine knappe Entscheidung voraus, erwarten einen Urteilsspruch aber erst in zwei Jahren.

Die vergangenen Monate haben noch etwas offenbart: Die Reform ist nicht in Stein gemeißelt. Die Obama-Regierung räumte einigen Bundesstaaten Ausnahmeregelungen bei der Umsetzung ein. So erhält beispielsweise der Ostküstenstaat Maine einen dreijährigen Aufschub, um eine strikte Vorgabe der Reform umzusetzen: Laut Gesetz sind die Versicherer verpflichtet, 80 Prozent der Einnahmen für medizinische Leistungen auszugeben. Dieser neue Standard führte in Maine dazu, dass sich ein großer Versicherer vom Markt hätte zurückziehen müssen – und Tausende Menschen unversichert zurückgeblieben wären. Um das zu verhindern, setzte die Obama-Regierung diesen Standard für Maine herab. Fünf andere Bundesstaaten erwägen, sich um die Genehmigung von Sonderregelungen zu bemühen. Noch dazu wurde mehr als 1 000 Einzelanträgen von Unternehmen stattgegeben. Sie konnten darlegen, dass sie in der Kürze der Zeit nicht die Anforderungen an die Ausweitung des Versicherungsschutzes für ihre Angestellten erfüllen können.

Die Republikaner interpretieren die Befreiungen von der Regel als Indiz für die Schwäche des Gesetzes. Für die Obama-Regierung ist es eine „pragmatische Lösung“, um die Umsetzung der Reform zu gewährleisten. Es solle sichergestellt sein, dass niemand seinen Versicherungsschutz verliere oder die Kosten für die Policen stiegen.

Die US-amerikanische Bevölkerung betrachtet die Reform weiter skeptisch: 42 Prozent der US-Bürger befürworten einer Erhebung der gemeinnützigen Kaiser Family Foundation zufolge die Reform, 46 Prozent sind dagegen. Die parteipolitische Sichtweise ist auch hier offenkundig: 71 Prozent der demokratisch gesinnten Wähler stehen hinter dem Gesetz, 82 Prozent der konservativen lehnen es ab.

Lieber Strafe zahlen als die Versicherungsprämie

Das Kernelement der Reform – die Pflicht zur Krankenversicherung – tritt erst im Jahr 2014 in Kraft. Und deshalb droht weiteres Ungemach. Nach Berichten des Insider-Magazins „Politico“ macht in Washington die Befürchtung die Runde, dass der Versicherungspflicht das Scheitern drohe. Der Grund: Die per Gesetz vorgesehene Strafe für diejenigen, die sich nicht versichern wollten, sei zu niedrig angesetzt. Viele Amerikaner, vor allem junge und gesunde, könnten sich dazu entschließen, die günstigere Strafe statt der teureren Versicherungspolice zu zahlen, spekulieren Politexperten in der Hauptstadt.

Sollte dieses Szenario eintreten, wackelte das gesamte Reformgebilde. Wenn sich nicht genug gesunde Menschen krankenversichern, ist es nur schwer möglich, die Mehrkosten des ausgeweiteten Versicherungsschutzes für alle zu decken, ohne dass die Versicherungsprämien in die Höhe schnellen.

Nora Schmitt-Sausen

Die Eckpunkte der Reform

Die Reformversuche im Gesundheitswesen haben jahrzehntelang zu kontroversen Diskussionen in den USA geführt und Politik und Gesellschaft gespalten. Bevor Präsident Obama im März 2010 das Gesetz unterzeichnete, lieferten sich Befürworter und Gegner ein Jahr lang einen hitzigen Schlagabtausch. Die Reform ging ohne jede republikanische Stimme durch den US-Senat.

Durch das Gesetz soll für mehr als 30 Millionen Amerikaner der Zugang zur Gesundheitsversorgung möglich gemacht werden. Dazu soll vor allem das staatliche Hilfssystem „Medicaid“ für sozial Schwache ausgeweitet werden. Außerdem gibt es staatliche Unterstützung für Geringverdiener und Amerikaner aus der Mittelklasse, damit sich diese einen Krankenschutz kaufen können. Die Unternehmen werden ebenfalls in die Pflicht genommen: Sie müssen ihre Angestellten künftig versichern. Auch anderweitig stärkt das Gesetz den Versicherten den Rücken. So können beispielsweise junge Erwachsene bis zum Alter von 26 Jahren bei ihren Eltern mitversichert sein, die Versicherer dürfen Kinder mit Vorerkrankungen nicht mehr ablehnen, Senioren erhalten Zuschüsse bei Medikamenten.

Die Reform kostet in den ersten zehn Jahren etwa 940 Milliarden Dollar, soll aber gleichzeitig die Ausgaben im Gesundheitswesen senken. Nach unabhängigen Schätzungen wird das Gesetz das US-amerikanische Haushaltsdefizit im selben Zeitraum um 130 Milliarden Dollar verringern.

Obama geht mit der Reform in die Geschichtsbücher ein. Seit 1935 haben demokratische Präsidenten versucht, einen universellen Krankenversicherungsschutz für die Amerikaner durchzusetzen. Zuletzt scheiterte Bill Clinton spektakulär an der Einführung eines kollektiven Versicherungsschutzes.

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