ArchivDeutsches Ärzteblatt14/2011Risikokommunikation: Sterblichkeitsstatistik als valides Maß

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Risikokommunikation: Sterblichkeitsstatistik als valides Maß

Wegwarth, Odette; Gigerenzer, Gerd

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Fünfjahresüberlebensraten sind nicht geeignet für die Beurteilung der Wirksamkeit von Krebsfrüherkennung.

Häufig werden steigende Überlebensraten mit sinkenden Sterblichkeitsraten gleichgesetzt und als untrügliches Zeichen für den Erfolg von frühem Erkennen und Behandeln von Krebs gewertet (1). Im Kontext der Krebsfrüherkennung ist diese Annahme jedoch falsch. Der Zusammenhang zwischen Fünfjahresüberlebensraten und krankheitsspezifischen Sterblichkeitsraten ist für die 20 häufigsten Tumoren gleich null (2). Der nachfolgende Beitrag wird erklären, warum dies so ist.

Die Krebsfrüherkennung macht Zellabnormalitäten oft schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt sichtbar. Diese Eigenschaft führt zu zwei systematischen Verzerrungen in der Statistik der Überlebensraten (3): dem Vorlaufzeit(lead time)-Bias und dem Überdiagnose(overdiagnosis)-Bias.

Zum besseren Verständnis des Phänomens des Vorlaufzeit-Bias (Grafik 1) kann man sich eine Gruppe von Männern vorstellen, die derzeit nicht an der PSA-Früherkennung teilnehmen. Nimmt man nun an, dass bei allen im Alter von 67 Jahren anhand von Symptomen Prostatakrebs diagnostiziert und der Tod drei Jahre später eintreten würde, dann beträgt die Fünfjahresüberlebensrate dieser Gruppe null Prozent (Grafik 1, oben). Stellt man sich nun jedoch vor, dass dieselbe Gruppe von Männern an der PSA-Früherkennung teilnimmt und damit der Prostatakrebs deutlich früher, sagen wir im Alter von 60 Jahren, diagnostiziert würde, wobei wieder alle Männer im Alter von 70 Jahren gestorben wären, so betrüge hier die Fünfjahresüberlebensrate 100 Prozent (Grafik 1, unten). Obwohl sich die Fünfjahresüberlebensrate von null auf 100 Prozent verbessert hätte, hätte sich dennoch nichts am Zeitpunkt des Todes geändert: Unabhängig davon, ob die Diagnose bei Männern mit 60 oder 67 Jahren gestellt würde, im Alter von 70 Jahren wären sie an der Krebserkrankung gestorben.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie die Früherkennung durch die Vorverlegung des Diagnosezeitpunkts die Statistik der Überlebensraten deutlich verbessern kann, ohne dass dahinter ein tatsächlicher Zugewinn an Lebensjahren stehen muss.

Das zweite Phänomen, das zu einer systematisch-positiven Verzerrung der Überlebensrate im Zusammenhang mit der Früherkennung führt – der Überdiagnose-Bias –, ist in Grafik 2 dargestellt.

Als Überdiagnose bezeichnet man das Entdecken von Pseudoerkrankungen durch die Krebsfrüherkennung. Hierbei handelt es sich um Zellveränderungen, die der pathologischen Definition von Krebs entsprechen, aber derart langsam oder gar nicht fortschreiten, dass sie das Leben eines Patienten weder beeinträchtigen noch bedrohen (4).

Beispiel: In einer Population sind je 100 000 Männer 1 000 tatsächlich an progressivem Prostatakrebs erkrankt, und niemand in dieser Population nimmt an der PSA-Früherkennung teil. Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden alle der tatsächlich Erkrankten anhand von Symptomen diagnostiziert. Fünf Jahre nach Diagnosestellung leben noch 440 der Betroffenen (Grafik 2, oben). Die Fünfjahresüberlebensrate liegt in diesem Fall bei 44 Prozent. Nimmt im Vergleich dazu dieselbe Population mit derselben Krebsinzidenz an Früherkennungsmaßnahmen teil (Grafik 2, unten), so werden dadurch sowohl progressive als auch nichtprogressive Tumoren entdeckt. Wenn etwa in dieser Population neben den 1 000 progressiven Tumoren auch 2 000 nicht- oder langsam progressive Tumoren durch die Früherkennung entdeckt würden, die per Definition eine gute Überlebensprognose für die nächsten fünf Jahre haben, dann würden diese 2 000 in der Überlebensstatistik zu den 440 Überlebenden des progressiven Tumors dazu addiert. Dies führte dazu, dass sich die Fünfjahresüberlebensrate künstlich erhöhen würde – von 44 Prozent auf nun 81 Prozent –, ohne dass jedoch ein Menschenleben gerettet würde.

Wegen dieser systematischen Verzerrungen sind Fünfjahresüberlebensraten ungeeignet, um den Effekt von Früherkennungsmaßnahmen korrekt einzuschätzen. Institutionen wie das National Cancer Institute empfehlen deshalb bereits seit Jahrzehnten, stattdessen die krankheitsspezifische Sterblichkeit zugrunde zu legen (5). Diese Statistik ist aufgrund ihrer Berechnung unabhängig von der Art der Diagnosestellung und deshalb ein valides Maß, um den Effekt von Früherkennungen zu beurteilen.

Dr. rer. nat. Odette Wegwarth

Prof. Dr. phil. Gerd Gigerenzer

Harding-Zentrum für Risikokompetenz, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

1.
Wegwarth O, Gaissmaier W, Gigerenzer G: Deceiving numbers: Survival rates and their impact on doctors’ risk communication. Medical Decision Making. Im Druck. MEDLINE
2.
Welch HG, Schwartz LM, Woloshin S: Are increasing 5-year survival rates evidence of success against cancer? Journal of the American Medical Association. 2000; 283: 2975–8. MEDLINE
3.
Welch HG, Woloshin S, Schwartz LM, et al.: Overstating the evidence for lung cancer screening: The International Early Lung Cancer Action Program (I-ELCAP) Study. Archives of Internal Medicine. 2007; 167: 2289–95. MEDLINE
4.
Marcus PM, Bergstralh E, Zweig M, Harris A, Offord K, Fontana R: Extended lung cancer incidence follow-up in the Mayo Lung Project and overdiagnosis. Journal of the National Cancer Institute. 2006; 98: 748–56. MEDLINE
5.
Extramural Committee to Assess Measures of Progress Against Cancer: Measurement of progress against cancer. Journal of the National Cancer Institute. 1990; 82: 825–35. MEDLINE
1.Wegwarth O, Gaissmaier W, Gigerenzer G: Deceiving numbers: Survival rates and their impact on doctors’ risk communication. Medical Decision Making. Im Druck. MEDLINE
2.Welch HG, Schwartz LM, Woloshin S: Are increasing 5-year survival rates evidence of success against cancer? Journal of the American Medical Association. 2000; 283: 2975–8. MEDLINE
3.Welch HG, Woloshin S, Schwartz LM, et al.: Overstating the evidence for lung cancer screening: The International Early Lung Cancer Action Program (I-ELCAP) Study. Archives of Internal Medicine. 2007; 167: 2289–95. MEDLINE
4.Marcus PM, Bergstralh E, Zweig M, Harris A, Offord K, Fontana R: Extended lung cancer incidence follow-up in the Mayo Lung Project and overdiagnosis. Journal of the National Cancer Institute. 2006; 98: 748–56. MEDLINE
5.Extramural Committee to Assess Measures of Progress Against Cancer: Measurement of progress against cancer. Journal of the National Cancer Institute. 1990; 82: 825–35. MEDLINE

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