SUPPLEMENT: PRAXiS
EU-Forschungsprojekt REACTION: Sicheres elektronisches Glukosemanagement


Eine intelligente Plattform zum Datenmanagement physiologischer Parameter von Patienten mit Diabetes mellitus soll Diabetiker und Ärzte im Umgang mit der Krankheit unterstützen.
Diabetes mellitus ist eine der verbreitetsten chronischen Erkrankungen weltweit. Menschen mit Diabetes werden häufiger hospitalisiert, und ihre stationären Aufenthalte dauern im Durchschnitt länger als bei Patienten ohne Diabetes. Schätzungsweise 22 Prozent aller Krankenhaustage werden einer Diabeteserkrankung zugerechnet, und circa die Hälfte der in den USA für Diabetes aufgewendeten Kosten werden für Krankenhausaufenthalte aufgebracht (1). Prognosen zufolge wird sich diese Entwicklung aufgrund der Ausbreitung von Typ-2-Diabetes fortsetzen. Im Zusammenhang mit der beobachtbaren Steigerung der Diabetesfälle wird von der Europäischen Union (EU) das Projekt REACTION (Remote Accessibility to Diabetes Management and Therapy in Operational Healthcare Networks*; www.reaction-project.eu) seit März 2010 für vier Jahre gefördert.
Im Rahmen dieses Projekts arbeiten 16 medizinische und technische Institutionen aus Forschung und Industrie mit dem Ziel zusammen, die Behandlung von Diabetespatienten durch IT-Unterstützung zu verbessern und eine Kontrolle der Behandlung, insbesondere auch deren längerfristigen Erfolg, durch die betreuenden Ärzte zu erleichtern. Hierfür soll eine elektronische Dienstplattform geschaffen werden, die mittels drahtloser Sensoren physiologische Daten von Patienten, wie etwa den Blutzuckerspiegel oder die Herzfrequenz, entgegennimmt und verarbeitet. Ärzte und Betroffene sollen über die Plattform Auskunft über den aktuellen Gesundheitszustand des Patienten erhalten, aber auch konsolidierte Informationen von Messungen der Vergangenheit zur Verfügung gestellt bekommen, um beispielsweise langfristige Entwicklungen der Erkrankung erkennen zu können. Betroffene können dabei der Patient selbst oder auch eingebundene Angehörige des Patienten sein.
Akut-stationäre und ambulante Entwicklung
Die Plattform soll im Rahmen von REACTION sowohl innerhalb von akut-stationären klinischen Abteilungen als auch in der hausärztlichen Betreuung eingesetzt und klinisch erprobt werden. Als Partner für die Erprobung sowie für die Entwicklungsbegleitung nehmen die Klinische Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel des Universitätsklinikums Graz (MUG) sowie das Chorleywood Health Centre (CHC), ein auf Diabetes spezialisiertes Ärztehaus in der Nähe von London, an diesem Projekt teil.
REACTION setzt bei der Ermittlung der physiologischen Daten eines Diabetespatienten auf die sogenannte kontinuierliche Glukoseüberwachung (Continuous Glucose Monitoring). Im Gegensatz zu punktuellen Messungen mit Messstreifen erhofft man sich, dadurch ein vollständigeres Bild des Lebensstils eines Patienten zu erhalten und somit die Behandlung besser abstimmen zu können.
Für die medizinische Überwachung beziehungsweise Sammlung der aktuellen physiologischen Werte des Patienten kommt ein kleiner Sensor zum Einsatz, der für die Dauer des Beobachtungszeitraums vom Patienten am Körper getragen wird. Hierfür wird im Rahmen des Projekts ein elektronisches Pflaster – genannt ePatch – entwickelt. Das ePatch wird einen oder mehrere Sensoren aufnehmen können, um unterschiedliche Messungen zu ermöglichen, das heißt neben der Messung von Glukose etwa weitere Vitalparameter wie Herzfrequenz und EKG. Die gemessenen Daten sollen dann über ein ebenfalls mitgeführtes Empfangs- und Sendegerät, beispielsweise ein internetfähiges Smartphone oder ein anderes netzwerkfähiges Gerät, an die Dienstplattform von REACTON zur Speicherung und weiteren Verarbeitung übermittelt werden. Dies soll auch möglich sein, wenn der Patient unterwegs und nicht zu Hause oder im Krankenhaus ist.
Die Verarbeitung der medizinischen Daten an einer zentralen Stelle, der Dienstplattform, ermöglicht es, gegebenenfalls umfangreichere Informationen, etwa aus einem medizinischen Informationssystem oder einem Laborinformationssystem, zu verarbeiten und die Patientendaten damit zu erweitern. Zugriff auf die Plattformdienste und Informationen sollen autorisierte Ärzte und Pflegepersonal im ambulanten Bereich sowie die Betroffenen selbst haben, während in der Klinikumgebung eine ausschließliche Nutzung durch medizinisches Personal vorgesehen ist.
Weil sich die behandelten Anwendungsfälle und die organisatorische Einbettung der Patienten im akut-stationären und dem ambulanten Bereich stark unterscheiden, werden diese beiden Umgebungen im Projekt getrennt bearbeitet. Da der akut-stationäre im Vergleich zum hausärztlichen Bereich üblicherweise ein stärker kontrolliertes und reglementiertes Umfeld darstellt, wird im ersten Projektjahr zunächst ein Prototyp für Glukosekontrolle vor einem akut-stationären Hintergrund entwickelt, um erste technische Erkenntnisse zu gewinnen und diese im zweiten Projektjahr für Entwicklungen im hausärztlichen Umfeld nutzen zu können.
Sicherheit und Datenschutz
Da es sich bei den an die REACTION-Plattform übermittelten und verarbeiteten Daten um sehr sensible und normalerweise auch personenbezogene Daten handelt, liegt ein wesentliches Augenmerk des Projekts auf der Informationssicherheit der medizinischen Daten sowie auf dem Datenschutz. Das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie (SIT) ist in diesem Bereich schon lange tätig und im Projekt verantwortlich für die Konzeption und die Umsetzung der Sicherheits- und Datenschutzziele. Die Wahrung der Vertraulichkeit, vor allem der medizinischen Daten, ist hierfür oberstes Gebot. Dies schließt sowohl ein, dass persönliche Informationen auf dem Transportweg für Dritte nicht einsehbar sind, als auch dass diese beim Empfänger nur von dafür im Vorfeld autorisierten Personen eingesehen und genutzt werden können, in der Regel dem medizinischen Personal.
In puncto Datenschutz soll der Patient bei der Nutzung von Diensten der Plattform sein Mitspracherecht bei der Übermittlung und Verarbeitung seiner Daten wahrnehmen können. Daher gilt es, einerseits das Mitspracherecht des Patienten zu wahren und andererseits den für die Behandlung notwendigen Informationsfluss sicherzustellen. Darüber hinaus spielt bei der Sicherheit auch der elektronische Nachweis von medizinischen Entscheidungen, insbesondere in der Klinikumgebung, eine wichtige Rolle, etwa bei der Verordnung von Medikamenten oder Änderungen der Behandlung eines Diabetespatienten. Hierbei soll ähnlich dem „Papierfall“ nachprüfbar gemacht werden, wer wann welche Entscheidung getroffen hat. Die zentrale Speicherung soll auch hier helfen, dass aktuelle Informationen unmittelbar und jederzeit für alle Berechtigten zur Verfügung stehen und somit zum Beispiel beim Wechsel des behandelnden Personals keine relevanten Informationen verloren gehen.
Mobiles System für das Glukosemanagement
Eine innerhalb des EU-Projekts REACTION durchgeführte Studie im stationären Sektor ergab, dass sich an der glykämischen Einstellung von Patienten, die nicht primär wegen ihrer Hyperglykämie aufgenommen wurden, zwischen Aufnahme und Entlassung nichts geändert hat, obwohl die Glukoseseinstellungen über den internationalen Empfehlungen lagen. Ein kontrolliertes standardisiertes Glukosemanagement bei akut erkrankten Patienten wird im stationären Umfeld oft als zweitrangig erachtet. Studien zeigen jedoch, dass Hyperglykämie im Krankenhaus ein wichtiger Marker für eine schlechte klinische Prognose ist, zum Beispiel in Form erhöhter Mortalitätsraten. Die intensive Behandlung von Diabetes und Hyperglykämie zeigte positive Ergebnisse bezüglich verminderter Mortalitäts- und Morbiditätsraten (2). Aus diesem Grund benötigen stationär aufgenommene Patienten mit Diabetes ein gut funktionierendes Glukosemanagement mit engmaschiger Blutzuckerkontrolle und einer angemessenen Medikation.
Im Rahmen des Projekts wurde daher der Prototyp eines mobilen Glukosemanagementsystems konzipiert. Dieser bietet eine Entscheidungsunterstützung für die Insulindosierung in allgemeinklinischen Abteilungen und wurde bereits in weiten Teilen implementiert. Als Basis für diese Entscheidungsunterstützung dienen publizierte klinische Protokolle zur Insulindosierung im stationären Glukosemanagement (3, 4, 5). Gemeinsam mit Diabetesexperten wurden die Protokolle derart adaptiert, dass sie mittels eines deterministischen Verfahrens berechnet werden können und schließlich als elektronisches System realisiert werden können. Zurzeit wird eine klinische Studie vorbereitet, in welcher der adaptierte Algorithmus im klinischen Umfeld getestet wird. Die Abbildung zeigt den englischsprachigen Hauptbildschirm der mobilen Anwendung. Um Patienten direkt am Krankenbett zu betreuen, wird ein Tablet-PC als mobiles Gerät eingesetzt.
Auf der linken Seite des Hauptbildschirms werden die wichtigsten Stammdaten des Patienten angezeigt. Dazu zählen neben dem Aufenthaltsort und dem Einweisungsdatum ins Krankenhaus vor allem Informationen zum aktuellen Therapieregime und der verordneten Medikation. Im unteren linken Bereich sind die drei Hauptaktivitäten des Systems dargestellt: die Blutzuckermessung, die Insulingabe und die Therapieanpassung. Diese Aktivitäten decken die wichtigsten Funktionen des Systems ab. Die Glukose- und Insulindiagramme in der Mitte des Hauptbildschirms fassen die wichtigsten Mess- und Medikationsdaten grafisch zusammen, um einen raschen Überblick über den Therapiestatus der letzten Tage und Stunden zu geben. Das Aufgabenmanagement „Open Tasks“ unterstützt das Personal durch eine strukturierte Auflistung der ausstehenden Aktivitäten für die in das Glukosemanagementsystem eingeschriebenen Patienten. „DSS“ zeigt an, dass die Entscheidungsunterstützung zur Insulindosierung aktiviert ist und automatisch bei der Insulingabe ein Vorschlag für Basal- und Bolus-Insulin-einheiten bei diesem Patienten unterbreitet wird. Da es sich um eine Entscheidungsunterstützung handelt, sind eine Kontrolle des Dosierungsvorschlags und gegebenenfalls eine Korrektur der Werte durch qualifiziertes Personal erforderlich.
Weil Tablet-PCs drahtlos über Computernetzwerke (WLAN) oder auch über Mobilfunknetze an die REACTION-Plattform angebunden sind, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass die Betreiber des jeweiligen Netzwerks Kenntnis über darüber übermittelte vertrauliche Behandlungsinformationen erhalten. Daher werden schon während der Entwicklung der Anwendungen konsequent Sicherheitsmaßnahmen integriert, um einem Missbrauch von Patientendaten an dieser Stelle vorzubeugen. Zu den Maßnahmen zählen beispielsweise Datenverschlüsselung zum Vertraulichkeitsschutz oder digitale Signaturen zur Sicherstellung der Identitäten von Personen, die auf die Daten zugreifen oder diese ändern wollen. Letzteres wird dabei Hand in Hand gehen mit Maßnahmen zum elektronischen Nachweis von Veränderungen der Patienteninformationen wie etwa der Insulindosierung. Die Herausforderung besteht hierbei auch darin, die Benutzbarkeit der genannten Sicherheitsmaßnahmen für die Anwender sicherzustellen, und zwar derart, dass diese sich dabei der Maßnahmen bewusst sind, aber auch von technischen Details nicht überfordert werden.
Prototyp für das Hausarztszenario
Im zweiten Jahr des Projekts wird das stationäre Glukosemanagement funktional komplettiert und anhand von klinischen Studien validiert. Dieser Ansatz erlaubt es, noch innerhalb der Projektlaufzeit Erkenntnisse der Studien zu nutzen, um Verbesserungen an dem klinisch-stationären Prototyp vorzunehmen. Gleichzeitig wird im Hausarztszenario ein erster Prototyp entwickelt und im niedergelassen Bereich ausführlich getestet. Beide Prototypen sollen inhaltlich und technisch in der REACTION-Plattform gekoppelt werden, um eine sektorübergreifende transparente Versorgung sicherzustellen.
Durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien wird es in Zukunft möglich sein, Ärzten, Pflegepersonal und Patienten eine Vielzahl von relevanten Informationen bestmöglich aufbereitet zugänglich zu machen. Einerseits wird dadurch Patienten zu Hause dabei geholfen, auf der Basis von Schulung und Information ihr Selbstmanagement aktiv zu gestalten und Ziele zu erreichen. Andererseits werden Ärzte und Pflege dabei unterstützt, adäquate Maßnahmen zur Therapie und Beratung ihrer Patienten zeitgerecht einzuleiten und damit bessere Ergebnisse zu erzielen, ohne notwendigerweise die Behandlungskosten zu erhöhen. Dr. rer. nat. Matthias Enzmann1
Dipl.-Inform. Frederik Franke1
Dipl.-Ing. Stephan Spat2
Dipl.-Ing. Dr. techn. Peter Beck2
Dipl.-Ing. Dr. techn. Lukas Schaupp3
1 Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie (SIT), Darmstadt
2 Health – Institut für Biomedizin und Gesundheitswissenschaften, Joanneum Research Forschungsgesellschaft mbH, Graz, Österreich
3 Klinische Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Medizinische Universität Graz, Österreich
* Förderkennzeichen FP7 248590
1. | Moghissi E S, Korytikowski MT, Dinardo M, Einhorn D, Hellmann R, Hirsch IB, Inzucchi SE, Ismail-Beigi F, Kirkman MS, Umpierrez GE: American Association of Clinical Endocrinologists and American Diabetes Association Consensus Statement on Inpatient Glycemic Control. Endocrine Practice 2009; 15(4): 1–17. Volltext |
2. | Clement S, Braithwaite SS, Magee MF, Ahmann A, Smith EP, Schafer RG, Hirsch IB: Management of Diabetes and Hyperglycemia in Hospitals. Diabetes Care 2004; 27(2): 553–91. MEDLINE |
3. | Inzucchi SE: Management of Hyperglycemia in the Hospital Setting. New England Journal of Medicine 2006; 355(18): 1903–11. MEDLINE |
4. | Umpierrez GE, Smiley D, Zismann A, Prieto LM, Palacio A, Ceron M, Puig A, Mejia R: Randomized Study of Basal-Bolus Insulin Therapy in the Inpatient Management of Patients with Type 2 Diabetes (RABBIT 2 Trial). Diabetes Care 2007; 30(9): 2181–6. MEDLINE |
5. | Umpierrez GE, Smiley D, Jacobs S, Peng L, Temponi A, Mulligan P, Umpierrez D, Newton C, Olson D, Rizzo M: Randomized Study of Basal-Bolus Insulin Therapy in the Inpatient Management of Patients with Type 2 Diabetes Undergoing General Surgery (RABBIT 2 surgery). Diabetes Care 20011; 34(2): 256–61. MEDLINE |
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