THEMEN DER ZEIT: 50 Jahre Bundesärztekammer
1947/1997 – Bundesärztekammer im Wandel (XIX): Ärztliche Selbstverwaltung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert


Die Ambivalenz der berufsständischen Selbstverwaltung
Ähnlich zwiespältige Gefühle sind es, die der ärztlichen Selbstverwaltung entgegengebracht werden:
verlängerter Arm des Staates oder Instrument der kollegialen ärztlichen Selbstkontrolle - vorgesetzte Behörde
oder Mittel autonomer Entscheidungsteilhabe der unmittelbaren Betroffenen - altruistisch-paternalistische
Wahrnehmung der Interessen Außenstehender oder egoistisch-binnengerichtete Vertretung eigener
Standesinteressen?2 Da die Selbstverwaltung in der Übergangszone zwischen staatlich-bürokratischer und
gesellschaftlich-privater Aufgabenerfüllung steht, hängt ihre Einschätzung als freiheitliches Organisationsprinzip
nicht zuletzt davon ab, ob der Betrachter von seinem Vorverständnis her die Selbstverwaltung mehr als
Instrument zur Eindämmung von Verstaatlichungstendenzen oder mehr als Instrument zur Einschränkung
privatautonomer Räume ansieht3.
Die Rechtsordnung vertritt zur berufsständischen Selbstverwaltung die klare Position des Ja - Aber:
Ja: Das Grundgesetz erkennt die Selbstverwaltung, den mit ihr verknüpften Autonomiegedanken und den von ihr
ausgehenden Betroffenenschutz grundsätzlich an; in der vom Grundgesetz konstituierten Ordnung ist die
Selbstverwaltung kein strukturfremdes Prinzip, sondern letztlich eine der verschiedenen Ausprägungen der für
das demokratische Staatswesen existentiellen Aktivbürgerschaft4. Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch
zu Recht betont, daß sich der Autonomiegedanke sinnvoll in das System der grundgesetzlichen Ordnung
einfüge5.
Aber: Selbstverwaltung bedeutet Machtausübung, berührt also die Frage der Gewaltenteilung und verlangt nach
Machtkontrolle und Machtbegrenzung sowohl nach innen wie nach außen. Deshalb hat der parlamentarische
Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und die Aufgaben wie auch Befugnisse der
Kammern in den Grundzügen selbst zu regeln6; deshalb muß es die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle von
Kammerentscheidungen geben, auch wenn dies manchmal unbequem ist; und deshalb müssen auch im
Standesinneren demokratische Strukturen vorhanden und ein ausreichender Minderheitenschutz gewährleistet
sein7.
Ja: Selbstverwaltung durch Kammern ist keine bloße Veranstaltung des Staates und meint nicht Fortsetzung der
Staatsverwaltung nur unter formaler Auswechselung des Trägers, sondern bedeutet Wahrnehmung eigener
Aufgaben und Interessen des Standes, und zwar, das sei betont, auch gegenüber dem Staat8.
Aber: Selbstverwaltung ist auch keine private und rein interne Angelegenheit des Berufsstandes, nicht Ausfluß
der Privatautonomie mit ihrer Möglichkeit der einseitigen Verfolgung eigener Interessen, sondern ist eine auch
der Allgemeinheit und dem Gemeinwohl verpflichtete Institution9.
Ja: Berufsständische Selbstverwaltung bedeutet Stärkung der Demokratie von unten, vertikale Gewaltenteilung,
Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte und Grundrechtsverwirklichung durch Teilhabe an der
Entscheidungsfindung10.
Aber: Berufsständische Selbstverwaltung ist nur eine der denkbaren Ausprägungen von Demokratie, einer
ungehinderten Durchsetzung des demokratischen Mehrheitswillens des Gesamtvolkes sogar abträglich11 und
von daher keineswegs mit einem demokratischen Staatswesen untrennbar verbunden12.
Ja: Der berufsständischen Selbstverwaltung liegt das Subsidiaritätsprinzip zugrunde13, wonach jeder
untergeordneten und engeren Gemeinschaft dasjenige zur eigenen Erledigung überlassen wird, was in ihren
Fähigkeiten steht, während die weiteren und übergeordneten Gemeinschaften wie insbesondere der Staat sie
hierbei zu unterstützen und erst dann an ihre Stelle zu treten haben, wenn die untergeordnete Gemeinschaft die
Aufgabe nicht bewältigen kann; und noch einmal:
Ja: Gerade im europäischen Recht hat die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von Maastricht14
geradezu eine Subsidiaritätseuphorie hervorgerufen - Subsidiarität ist beinahe zu einem Synonym für die
moderne Verfassung der Europäischen Union geworden.
Aber: Subsidiarität ist gerade kein vom Grundgesetz durchgängig verfolgtes Organisations- und
Funktionsprinzip, das verbindliche rechtsnormative Direktiven liefern könnte und dessen Verwirklichung
kontrolliert und gegebenenfalls vor den Gerichten erzwungen werden könnte; Subsidiarität ist vielmehr eine
staats- und gesellschaftstheoretische Kategorie, die ein Postulat politischer Klugheit ausdrückt und sich allenfalls
ermessensleitend an die Legislative und Exekutive richtet15. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hat
das Subsidiaritätsprinzip denn auch trotz entsprechender Bestrebungen aus den eigenen Reihen gerade nicht in
den Verfassungstext aufgenommen16, und auch bezüglich des EG-Vertrages sind erhebliche Zweifel angebracht,
ob das Subsidiaritätsprinzip hier jemals konkret justitiabel sein wird und ob etwa der europäische Gerichtshof
jemals einen Rechtsakt der Gemeinschaft wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips kassieren oder auch nur
kritisieren wird.
Ärztliche Selbstverwaltung heute
Angesichts dieses zwiespältigen Befundes stellt sich natürlich um so dringlicher die Frage, wie es um die
ärztliche Selbstverwaltung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert steht. Wer auf die Allgemeingültigkeit und
Dauerhaftigkeit der Tagespolitik setzt, findet alles zum Besten bestellt: Da hat doch der deutsche Gesetzgeber
gerade erst im Juni dieses Jahres mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz17 ein flammendes Bekenntnis zur
"Vorfahrt für die Selbstverwaltung" abgegeben18. Und da hat der deutsche Gesetzgeber im gleichen Gesetz
sogar jene Institution, die wir heute feiern und der wir gleichwohl vorwerfen müssen, daß sie als
privatrechtlicher Verein mit ihrer Namensführung "Bundesärztekammer" gegen das Irreführungsverbot des § 3
UWG verstößt19, erstmals in den Adelsstand der gesetzlich beauftragten und ermächtigten Institutionen
erhoben20. Also besteht doch offenbar kein Anlaß zur Sorge, geht vielmehr die ärztliche Selbstverwaltung sogar
gestärkt aus den unruhigen Zeiten allgemeinen Gezerres und hektischen Herumbesserns am Gesundheitssystem
hervor.
Allerdings sollte es vielleicht doch zu denken geben, daß man sich der Selbstverwaltung gerade in einer Zeit
erinnert, in der es um Einsparungen und Kürzungen von Leistungen, um die Verantwortung für zusätzliche
Belastungen der Bürger, kurzum: um die Bewältigung riesiger Finanzprobleme geht. Damit liegt der Verdacht
nicht ganz fern, daß man sich seitens der Politik sehr gerne dann auf das Subsidiaritätsprinzip beruft, wenn man
selbst nur subsidiär mit unangenehmen Dingen in Verbindung gebracht werden möchte, daß man sehr gerne dort
der Selbstverwaltung die Vorfahrt einräumt, wo es um die Fahrt auf unsicherem Gelände und mit ungenauer
Zielrichtung geht, daß man die Eigenverantwortung der unmittelbar Betroffenen gerade dann betont, wenn man
selbst die Verantwortung von sich schieben möchte. Und es liegt dann der weitere Verdacht nicht ganz fern, daß
man ebenso schnell, wie man zuvor die Hände in Unschuld gewaschen hat, mit porentief reinen Händen die
Früchte der von anderen geleisteten Arbeit erntet und verteilt und mit sauberem Finger auf jene Schmutzfinken
zeigt, die sich die Hände bei ihrer Leistungserbringung schmutzig gemacht haben. Sehr schnell kann es dann in
guten Zeiten dazu kommen, daß man wieder die Höherrangigkeit und Höherwertigkeit des Gesamtstaates in den
Vordergrund stellt, eben weil man die Selbstverwaltung als Knecht und Sündenbock nicht mehr braucht.
Eine weitere Gefahr ist es, der die ärztliche Selbstverwaltung im besonderen und die freiberufliche
Selbstverwaltung im allgemeinen ausgesetzt ist. Diese Gefahr verbindet sich mit den Schlagworten Gleichheit
im Sinne von Gleichmacherei - Freiheit im Sinne von Zügellosigkeit - Kampf aller gegen alle statt
Brüderlichkeit und Solidarität. Der ungehemmte Konkurrenzkampf der Berufsangehörigen untereinander wie
auch gegenüber den Angehörigen benachbarter Berufe, die Beseitigung aller vermeintlichen Privilegien,
Sonderrechte und Sonderregeln, das Abschütteln jeglichen Unterworfenseins unter berufsregelnde Schranken
sind Ziele, die bei nicht wenigen hoch im Kurs stehen. Deregulierung lautet die Zauberformel, die man nicht
selten mit De-Solidarisierung und Destruktion gleichsetzen kann. Regelungsverantwortung eines Berufsstandes,
die auch ein gewisses Maß an Regelungsermessen beinhaltet, hat in diesem Weltbild keinen Platz. Beschlüssen,
die in einer berufsständischen Kammer gefaßt werden, wird schon deshalb tiefes Mißtrauen entgegengebracht,
weil in der Kammer nicht alle gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Anschauungen vertreten sind, sondern
"nur" unmittelbar Betroffene. Und berufsständische Selbstverwaltung ist schon deshalb ein Übel, weil sie mit
historischen Hypotheken belastet ist und ihre Vorfahren gar bis in das später verkrustete Zunftsystem des
Mittelalters hineinreichen. Wenn selbst im Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages zu hören ist, die
Kammern seien ein Relikt des Merkantilismus und hätten ständestaatlichen Charakter21, dann stehen die
Zeichen ganz offensichtlich auf Sturm.
Ärztliche Selbstverwaltung als Selbstverantwortung
Sieht also die Zukunft der ärztlichen Selbstverwaltung mehr als düster aus? Die Antwort kann nur die klassische
Antwort eines Juristen sein: Es kommt darauf an. Es kommt nämlich ganz wesentlich darauf an, was der
Berufsstand selbst aus seiner Selbstverwaltung macht. Selbstverwaltung ist nämlich kein Selbstläufer, keine
Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis von und Medium für Selbst-Verantwortung. Lassen Sie mich dies näher
erläutern.
Selbstverwaltung beruht - soziologisch gesehen - auf einem Vertrag zwischen der Gesellschaft und einem
Berufsstand, wonach die Gesellschaft dem Berufsstand Autonomie in der Berufsausübung und Schutz vor
unqualifiziertem Wettbewerb gegen das glaubwürdige Versprechen effektiver Selbstregulierung und
Selbstkontrolle gewährt22. Individuell und kollektiv durch seine Verbände sichert der Berufsstand den Patienten
und der Gesellschaft Fachkompetenz und Integrität zu. Ausbildung und sorgfältige Auswahl der Mitglieder
gehören ebenso dazu wie formelle und informelle Beziehungen zwischen den Kollegen, die Bindung an
bestimmte, vom Berufsstand selbst entwickelte berufsethische Standards und die Ahndung von Verstößen gegen
diese Normen durch selbst durchgeführte Ehrengerichtsverfahren23. Dabei existiert berufsständische Autonomie
bezeichnenderweise gerade bei jenen Berufen, die die freien Berufe genannt werden und deren auf komplexem
Fachwissen beruhende und formal nicht strukturierbare Dienstleistung sich weithin einer Laienvorgabe im
Detail, einer Laienkontrolle oder auch nur einer indirekten Qualitätskontrolle vom Ergebnis her entzieht. Die
Übertragung der Verantwortung auf den Berufsstand beruht denn auch nicht zuletzt auf der Erkenntnis, daß diese
Art der Steuerung die effektivste Steuerungsmöglichkeit darstellt. Zugleich ist aber offenkundig, daß eine
Steuerung und Kontrolle der fachlichen Leistung gerade bei den freien Berufen um so wichtiger ist. Denn ihre
Berufstätigkeit bezieht sich in besonderem Maße auf soziokulturelle Werte, die - wie zum Beispiel Gesundheit,
Freiheit, Gerechtigkeit, Moral oder humane Umwelt - von zentraler Bedeutung für das Wertesystem des
einzelnen und der Gesellschaft sind24. Gerade für den ärztlichen Bereich ist ein durchgängig hohes
Leistungsniveau denn auch seit jeher im wahrsten Sinne des Wortes "lebenswichtig" - auch wenn, wie am
Rande angemerkt sei, ein Blick in die berufsständischen Publikationen zur Zeit eher den Eindruck vermittelt,
"Qualitätssicherung" sei erst eine nobelpreisverdächtige Entdeckung der letzten Jahre. Die für unser Thema
wichtige Quintessenz läßt sich dahin zusammenfassen, daß die der Ärzteschaft von der Gesellschaft
zugestandene und zugleich auferlegte Selbstkontrolle die Aufgabe hat, das spezifische Dilemma der
Unkontrollierbarkeit kontrollbedürftiger Leistungserbringung zu lösen.
Führt man sich diese Mechanismen vor Augen, dann wird deutlich, in welchem Ausmaß der Fortbestand
berufsständischer Autonomie davon abhängt, inwieweit der Berufsstand das der Gesellschaft gewährte
Versprechen effektiver Selbstregulierung und -kontrolle tatsächlich einlöst. Die Möglichkeit der
Selbstverwaltung seitens des Berufsstandes ist eben kein ein für allemal erworbenes Recht, kein Besitzstand,
sondern die hart zu erarbeitende Gegenleistung für versprochene und wahrgenommene Selbstverantwortung. Da
die Gesellschaft im Rahmen des auf Gegenseitigkeit beruhenden Austauschverhältnisses einen erheblichen
Vertrauensvorschuß gewährt, sind die Gefahren enttäuschten Vertrauens um so größer: Enttäuschtes Vertrauen
ist nun einmal das Gefährlichste für eine Dauerbeziehung, und ist das Mißtrauen erst einmal gesät, erscheinen
selbst jene Handlungen, Maßnahmen und Erklärungen in einem schiefen Licht, die bei intakter Beziehung ohne
weiteres hingenommen oder gar als gute Tat und Zeichen des guten Willens gelobt würden.
Aus diesen Gründen muß die Ärzteschaft mehr als sensibel reagieren, wenn Mißstände im eigenen Bereich
sichtbar werden oder auch nur der Verdacht entsteht, die ärztliche Selbstkontrolle habe nicht funktioniert.
Deshalb müssen Vorwürfe von außen gerade auch dann mit gebührender Aufmerksamkeit aufgenommen und
damit ernst genommen werden, wenn man selbst der Auffassung ist, an den Vorwürfen sei nichts dran. Und
deshalb sollte ein Berufsstand peinlichst darauf bedacht sein, daß die berühmte "Krähentheorie" als Ausdruck
falsch verstandener Kollegialität jedenfalls mit ihm nicht assoziiert wird. Wenn einem Berufsstand dies nicht
gelingt, dann hat es zumindest Defizite in der Außendarstellung gegeben, in einigen Fällen aber wohl auch
Versäumnisse bei der notwendigen und ohne Ansehen der Person erforderlichen standesinternen Aufdeckung,
Sanktionierung und vor allem zukunftsgerichteten Verhinderung individuellen Fehlverhaltens. Wenn nach außen
der Eindruck entsteht, ein Berufsstand sehe seine vornehmste Aufgabe darin, millimetergenau die Größe der
Praxisschilder seiner Kollegen zu kontrollieren, anstatt die Leistungserbringung gegenüber dem Klienten ins
Visier zu nehmen, wenn man der Gesellschaft das Gefühl vermittelt, Forderungen zur finanziellen Ausstattung
des Gesundheitssystems hätten kein anderes Ziel als das des Erhalts der eigenen Einkommenspfründen, dann
unterminiert dies die Grundlagen der berufsständischen Selbstverwaltung. Und wenn man - rein hypothetisch
und lediglich als Warnung vor abstrakten Gefahren gedacht - den auszubildenden Arzt vor allem als
Konkurrenten und weniger als zukünftiges Mitglied der eigenen Gemeinschaft betrachtet, wenn neue Formen der
Zusammenarbeit - auch mit anderen und sogenannten niederen Berufen des Heilwesens - allein aus dem
Blickwinkel von Konkurrenzdenken und weniger vor dem Hintergrund umfassender, synergetischer
Leistungserbringung betrachtet werden25, wenn Pflichten gegenüber den Patienten von vornherein als
Zumutung gegeißelt werden, dann sind auch dies Umstände, die die Selbstverwaltung sehr schnell in Mißkredit
bringen. Dabei betone ich ausdrücklich, daß es nicht allein darauf ankommt, ob derartige Mängel tatsächlich in
großem Ausmaß vorhanden sind, ob entsprechende Vorwürfe in jedem Punkt stimmen, ob sich die Mehrheit der
Berufsangehörigen wirklich entsprechend verhält: Aufgabe der Selbstkontrolle ist es vielmehr, das Fehlverhalten
auch einzelner schwarzer Schafe zu verhindern; Aufgabe der Selbstverwaltung ist es, vorausschauend den sich
ändernden Erwartungen der Gesellschaft entsprechende Konzepte zu entwickeln26 und - zwar nicht jeder Laune
des Zeitgeistes folgend, aber doch die Zeichen der Zeit erkennend - einen eigenen konstruktiven Beitrag zur
Fortentwicklung des Gesundheitswesens zu leisten; und Aufgabe der Selbstverwaltung ist es vor allem, der
Gesellschaft das Vertrauen zu geben und zu erhalten, daß die Selbstkontrolle, zu der man sich verpflichtet hat,
tatsächlich im Interesse der Gesellschaft und nicht lediglich im Eigeninteresse des Standes funktioniert.
Vertrauensbildende Maßnahmen sind dabei auch offizielle Verlautbarungen und Regelwerke, die die
Zielrichtung und Grundhaltung eines Berufsstandes zum Ausdruck bringen. Gerade sie dürfen sich nicht auf jene
Dinge beschränken, die standesintern tatsächlich als regelungsbedürftig und defizitär angesehen werden27.
Vielmehr müssen sie als Teil der Außendarstellung auch solche Gesichtspunkte aufgreifen, die die
Allgemeinheit als wesentlich ansieht und als Teil des berufsständischen Versprechens gewissermaßen "schwarz
auf weiß" sehen möchte. Nicht zuletzt deshalb waren die Signale des diesjährigen Ärztetages in Eisenach so
wichtig, war die dort beschlossene Neufassung der Musterberufsordnung mit ihrer stärkeren Ausrichtung auf die
Patientenbelange sogar längst überfällig28.
Umweltbedingungen der ärztlichen Selbstverwaltung
Wenn ich bisher so ausführlich von der Verantwortung des Berufsstandes für den Fortbestand seiner eigenen
Selbstverwaltung gesprochen habe, dann deshalb, weil die in den eigenen Händen liegende Vorsorge nun einmal
die beste Vorsorge ist. Das bedeutet aber nicht, daß es allein in der Macht des Berufsstandes läge, die
Selbstverwaltung zu sichern, und daß umgekehrt alle Mißstände oder Unzulänglichkeiten im Standesinneren in
seine Verantwortung fielen. Ganz im Gegenteil ist die ärztliche Selbstverwaltung weithin von Bedingungen ihrer
Umwelt abhängig, ist sie gerade in letzter Zeit sogar nicht selten Spielball der Tagespolitik.
Wenn beispielsweise die Gesellschaft eine Vorauswahl der angehenden Ärzte trifft und dabei die Augen davor
verschließt, daß eine 1,0 im Abiturzeugnis keineswegs mit ausgeprägter Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft
einhergehen muß, dann darf sie sich nicht wundern, wenn nicht jeder der späteren Ärzte dem Idealbild eines
altruistisch motivierten, frei von Gewinnstreben agierenden Arztes entspricht. Aus diesem Blickwinkel müßte
die Ärzteschaft, meine ich, sehr viel stärker versuchen, Einfluß auf die Auswahl der angehenden Ärzte zu
gewinnen29. Universitäre Eingangstests, wie sie zum Teil ja bereits durchgeführt werden, können jedenfalls
dann hierzu beitragen, wenn sie nicht nur zum Abfragen angelernten Wissens, sondern zur Ermittlung echter
Motivation und Eignung für das entsprechende Studium und den späteren Beruf genutzt werden. Umgekehrt
stellt es aber auch - und das sei aus aktuellem Anlaß ausdrücklich betont - einen Mißbrauch des ärztlichen
Berufsethos durch die Gesellschaft dar, ärztliche Leistungen zum Nulltarif zu verlangen - ganz abgesehen
davon, daß in der Höhe des Entgelts für eine Leistung auch die Wertschätzung zum Ausdruck kommt, die man
dieser Leistung entgegenbringt.
Aber noch einmal zurück zum Einfluß des Berufsstandes auf die Auswahl und Ausbildung der eigenen
Mitglieder. Positives läßt sich für die Ärzteschaft nämlich insofern hervorheben, als gerade sie (die Ärzteschaft)
im Vergleich zu anderen freien Berufen und insbesondere zur Anwaltschaft den großen Vorteil hat, die
Ausbildung des eigenen Nachwuchses weitgehend (und ungeachtet einiger an der konkreten Durchführung zu
Recht erhobener Kritik) in eigener Verantwortung durchführen zu können. Während das juristische
Referendariat in den Händen des Staates liegt und auf die Ausbildung von Staatsdienern ausgerichtet ist, so daß
die Anwaltschaft auch - wenn auch zum Glück nicht nur - jene "Was-bleibt-mir-schon-übrig"-Kollegen in ihren
Reihen wiederfindet, die das Klassenziel "Staatsdienst" eben nicht erreicht haben, kann die Ärzteschaft schon in
der von ihr selbst verantworteten Ausbildung prägend auf die zukünftigen Kollegen wirken. Sie kann damit das
vorbereiten oder gar erreichen, was die Soziologen das "Internalisieren" gemeinsamer Einstellungen und
Verhaltensweisen nennen30 - mit anderen Worten: die Herbeiführung eines einheitlichen ärztlichen
Rollenverständnisses. Und insofern ist es sehr zu begrüßen, daß die Aus- und Fortbildung in ärztlicher Ethik
wieder stärker betont wird31 - und zwar nicht im Sinne verstaubter Gefühlsduselei, sondern im Sinne einer
Schärfung des Bewußtseins für die Verantwortung des ärztlichen Berufs und im ärztlichen Beruf, die sich gerade
in Zeiten leerer Kassen und verschärfter Konkurrenz zu bewähren hat.
Wenn ich von den Umweltbedingungen gesprochen habe, von denen die Effektivität und letztlich der
Fortbestand der ärztlichen Selbstverwaltung mit abhängt, dann gehört dazu auch die Frage, welchen
Aufgabenkreis die Rechtsordnung der Selbstverwaltung zuerkennt und welche Freiräume der Selbstverwaltung
hierbei zugestanden werden. Je stärker die Rechtsordnung den Berufsstand darauf beschränkt, nur rein interne
ärztliche Angelegenheiten regeln zu dürfen, je weniger ausgeprägt folglich die Außenwirkungen
berufsständischen Handelns und Regelns sein dürfen, um so weniger Verantwortung überträgt die
Rechtsordnung dem Berufsstand für die Belange der Patienten und des Gesundheitssystems insgesamt, und um
so weniger berechtigt ist dann der Vorwurf, daß die Belange der Patienten und des Gesundheitssystems nicht
ausreichend wahrgenommen worden seien. Und je stärker man den Berufsstand darauf beschränkt,
technokratisch die Befehle anderer auszuführen und als verlängerter Arm des Staates zu fungieren, um so
weniger kann man ihn anschließend dafür rügen, daß er sich nicht aktiv, gestalterisch und vorausschauend an der
Fortentwicklung des Gesundheitswesens beteiligt hat.
Allerdings stehen solche Gerechtigkeitsüberlegungen heute offenbar nicht mehr sehr hoch im Kurs; auch
scheinen die Funktionszusammenhänge zwischen Fähigkeit und Verantwortung sowie zwischen Aufgabe und
Pflicht allmählich in Vergessenheit zu geraten. Um so wichtiger ist es aber, darauf hinzuweisen, daß eine
funktionierende Selbstverwaltung unabdingbar eigenes Gestaltungsermessen voraussetzt. Entgegen
anderslautenden Stimmen sei dabei ausdrücklich betont, daß auch der Aufgabenkomplex "berufliche
Interessenvertretung" weit gefaßt sein muß. Die berufsständischen Kammern müssen über Ansprechpartner,
Ausdrucksmittel, Umfang und Intensität der Interessenvertretung grundsätzlich eigenverantwortlich entscheiden
können; vorbehaltlich spezialgesetzlicher Vorgaben stehen ihnen dabei alle als geeignet und erforderlich
erscheinenden Handlungsformen zur Verfügung32. Aus diesem Blickwinkel sollte den Kammern - entgegen der
Auffassung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung33 - etwa auch zugestanden werden, sich
berufsübergreifend mit Organisationen anderer freier Berufe für die gemeinsamen Belange der freien Berufe
schlechthin einzusetzen und sich zu diesem Zweck etwa im Bundesverband der Freien Berufe
zusammenzuschließen. Anerkannt ist immerhin nach zahlreichen Rechtsstreitigkeiten, daß die Kammern zu
Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit und der Mitgliederinformation Zeitschriften und Mitteilungsblätter
herausgeben dürfen, selbst wenn diese, was manche unerhört finden, mit unterhaltenden oder werbenden Teilen
angereichert sind; untersagt sind richtigerweise lediglich Stellungnahmen zu allgemeinen politischen Themen,
soweit ein Berufsbezug vollkommen fehlt34. Interessenvertretung kann, wie das OVG Nordrhein-Westfalen zu
Recht hervorgehoben hat, sogar so weit gehen, daß eine Kammer ihre Mitglieder dazu auffordert, für den Fall
eines bestimmten Gesetzesbeschlusses kollektiv die Kassenzulassung niederzulegen35. Allerdings muß eine so
weitgehende Interessenvertretung gegen den Staat den sachlich gebotenen Schutz anderer Rechtsgüter im Auge
behalten; eine nicht an der Verhältnismäßigkeit ausgerichtete rigorose Durchsetzung eigener finanzieller Belange
des Standes ohne Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung ist nicht
akzeptabel36. Hier zeigt sie sich wieder, die doppelte Mitverantwortung der ärztlichen Selbstverwaltung,
nämlich mit für die eigenen Mitglieder und mit für die berufsfremden - um im Wortspiel zu bleiben -
Mitmenschen und die Umwelt als Mit-Welt.
Auch aus dem Blickwinkel der Aufgaben, Befugnisse und Kompetenzen berufsständischer Selbstverwaltung ist
ein vergleichender Blick auf andere freie Berufe und insbesondere die Anwaltschaft mehr als aufschlußreich.
Gerade insoweit zeigt es sich nämlich, in welchem Ausmaß es lohnt, für die eigenen Belange zu kämpfen und
selbstbewußt an der Gestaltung der eigenen Selbstverwaltung mitzuwirken. Aus ärztlicher Sicht dürfte es sehr
überraschend sein, daß gerade der Berufsstand der Rechtsanwälte, der doch in besonderem Maße für sich in
Anspruch nimmt, an der Gestaltung der Rechtsordnung mitzuwirken, in den eigenen Belangen des Standesrechts
eine kaum glaubliche Lethargie an den Tag gelegt hat. Erst vor drei Jahren hat der Berufsstand der Anwälte die
Befugnis erhalten, das berufliche Verhalten der eigenen Mitglieder in Form einer Satzung, also in Form von
Rechtsnormen, regeln zu dürfen37. Und selbst diese Befugnis, Rechtsregeln zum Umgang mit Mandanten,
Gerichten, Behörden und Kollegen aufgrund eigenen Regelungsermessens erlassen zu dürfen, hat der
Berufsstand nicht einmal selbst erkämpft, sondern - mehr ungewollt - letztlich auf Initiative des
Bundesverfassungsgerichts in den Schoß gelegt bekommen38. Das Bundesverfassungsgericht hatte nämlich in
zwei - als Armutszeugnis für die Anwaltschaft betrachteten39 - Beschlüssen von 1987 die seinerzeit
existierenden anwaltlichen Standesrichtlinien wegen ihres Zustandekommens und ihrer Wirkung als
rechtsstaatswidrig gebrandmarkt40. Der Gesetzgeber hat daraufhin ein Regelungsvakuum befürchtet und der
Anwaltschaft dann endlich das zuerkannt, was für die Ärzteschaft schon seit dem letzten Jahrhundert unbestritten
und in zahlreichen Gesetzen zum Ausdruck gekommen ist: daß nämlich ein Berufsstand die Aufgabe hat, die
beruflichen Pflichten der eigenen Mitglieder in verbindlichen Rechtsnormen standesrechtlich zu regeln41.
Während in der Ärzteschaft das an den eigenen Stand gerichtete Motto "tua res agitur"42 auf fruchtbaren Boden
gefallen war und hier zu einer weitgehend geschlossenen Front gegen staatliches Hineinreden in ureigene
ärztliche Angelegenheiten geführt hatte, war die Haltung der Anwaltschaft bis in die jüngste Vergangenheit eher
reagierend statt agierend ausgerichtet und stärker vom Blick auf die Tätigkeit der Staatsgewalt denn auf die
eigenen Fähigkeiten geprägt43. Man hat angesichts des Fehlens jeglicher Diskussion innerhalb der Anwaltschaft
sogar den Eindruck, die Anwaltschaft habe das von den Ärzten erstrittene Machtmittel des Standesrechts über
100 Jahre nicht einmal zur Kenntnis genommen44. Ich glaube, daß sich deutlicher kaum zeigen kann, wie selbst
innerhalb der vermeintlich so einheitlichen Gruppe der verkammerten freien Berufe Unterschiede bei den
Mitgestaltungsmöglichkeiten gerade darauf zurückzuführen sind, inwieweit ein Berufsstand Gestaltungswillen,
Durchsetzungskraft und politisches Gespür gezeigt hat. Bereitschaft zur Mitverantwortung lohnt sich also doch
noch - und das gilt nicht zuletzt für die berufsständische Selbstverwaltung.
Europarechtliche Rahmenbedingungen der ärztlichen Selbstverwaltung
Angesichts dieses doch wieder ein wenig optimistischer stimmenden Befundes sei der Blick auf die
europarechtlichen Rahmenbedingungen der ärztlichen Selbstverwaltung geworfen. Auch insoweit dürfte die
Stimmung zwischen Skepsis und Optimismus schwanken, fürchtet man doch einerseits den europäischen
Kahlschlag gewachsener nationaler Strukturen, erhofft man sich andererseits aber auch "Brüsseler Spitzen"
gegen binnenstaatliche Planierungsversuche. Zwar läßt sich keine ausdrückliche europarechtliche Bekräftigung
oder gar institutionelle Sicherung der freiberuflichen Selbstverwaltung nachweisen. Jedoch ist es schon mehr als
beruhigend, daß in den weitaus meisten europäischen Ländern vergleichbare Institutionen mit
Pflichtmitgliedschaft bestehen, wie sie die deutschen Ärztekammern darstellen45. Auch ist ein Trend zur
Entkammerung weder allgemein bezüglich der freien Berufe noch speziell bezüglich der Ärzte in Europa
festzustellen46. Mit besonderer Deutlichkeit ist zudem durch den erst kürzlich geänderten Art. 129 des EGVertrages in der Fassung der Regierungskonferenz von Amsterdam bekräftigt worden, daß die Organisation der
Gesundheitsdienste und die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen in die Verantwortung der Mitgliedsstaaten
fallen47. Und schließlich sind unabhängig hiervon auf EG-Ebene (insbesondere bei der Kommission) auch keine
Bestrebungen bekannt geworden, die nationalen standesrechtlichen Bestimmungen für Ärzte und andere freie
Berufe zu harmonisieren oder zu koordinieren und damit der mitgliedsstaatlichen Verantwortung zu
entziehen48; auch zielen die bereits bestehenden europäischen Regelungen, wie jene zur gegenseitigen
Anerkennung von Diplomen, nicht auf eine Änderung der die Berufsausübung einschließlich der Berufsethik
betreffenden mitgliedstaatlichen Bestimmungen49. Beruhigend ist ferner, daß der Europäische Gerichtshof
ausdrücklich betont hat, daß die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Pflichtmitgliedschaft in einer
berufsständischen Kammer vorschreiben, als solche nicht unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht sind50. Auch
hat der EuGH zumindest implizit anerkannt, daß das Europarecht den standesrechtlichen, also den eigenen,
Berufsausübungsregeln freiberuflicher Selbstverwaltungskörperschaften nicht per se entgegensteht51. Worauf
sich die Kammern allerdings stärker als früher einstellen müssen, das ist die inhaltliche Ausrichtung ihres
Standesrechts an den Vorgaben des EG-Vertrages, insbesondere an den Grundsätzen der Niederlassungfreiheit,
der Dienstleistungsfreiheit, der Warenverkehrsfreiheit und des Diskriminierungsverbots52. Allerdings dürfte dies
ebenso leicht gelingen, wie man es ja auch aus binnenstaatlicher Sicht geschafft hat, die "präzisen" Vorgaben der
grundgesetzlichen Berufsfreiheit und des verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts der
Kammerangehörigen angemessen in den standesrechtlichen Normen zu berücksichtigen, wenn auch gelegentlich
erst aufgrund - wie man zurückhaltend formulieren könnte - "leisen" Drucks der Gerichte. Daß diese
Problematik eines der Dauerthemen berufsständischer Arbeit auch in den nächsten Jahren sein wird, das braucht
in diesem Kreis sicher nicht besonders betont zu werden. Allerdings sollte dabei die Zusammenarbeit mit den
Berufsvertretungen anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union doch sehr intensiviert werden und
vielleicht - dem guten Vorbild der Anwaltschaft folgend53 - ein europäischer Kodex der ärztlichen
Standesregeln geschaffen werden54.
Rückenwind dürfte die Idee berufsständischer Selbstverwaltung zudem auf europäischer Ebene vom
Subsidiaritätsprinzip erhalten, auch wenn dieses, wie bereits angesprochen, eher als soft-law denn als
verbindliche Anspruchsgrundlage in Erscheinung tritt. Politisch-ermessensleitend wirkt ferner das Versprechen
in Art. A Abs. 2 des EU-Vertrages, wonach Entscheidungen in Europa möglichst bürgernah getroffen werden
sollen. Und daß die europäischen Bürger auch nach Ansicht der Verfasser des EG-Vertrages berufsspezifischer
Interessenvertretung bedürfen, das zeigt nicht zuletzt der Wirtschafts- und Sozialausschuß der EG, der nach Art.
193 des EG-Vertrages ausdrücklich Vertreter der freien Berufe umfaßt. Eine EG-rechtlich initiierte Abschaffung
der ärztlichen Selbstverwaltung ist damit mehr als unwahrscheinlich - wobei ich noch nicht einmal darauf
hinweisen muß, daß sich der Ständige Ausschuß der Europäischen Ärzte als anerkannte Vertretung der Ärzte
Europas55 eine so hohe Achtung bei den europäischen Institutionen erworben hat, daß schon das Gewicht seiner
Stimme entsprechende Versuche im Keim ersticken dürfte.
Ärztliche Selbstverwaltung morgen
Erwähnenswert bleiben allerdings einige internationale Trends, die die ärztliche Selbstverwaltung auch in
Deutschland voraussichtlich beeinflussen und möglicherweise sogar in erheblichem Ausmaß prägen werden.
Zu nennen ist hier vor allem die Stärkung berufsexterner Einflüsse auf den Berufsstand56. Diese zunehmende
Ausweitung berufsfremder Einflüsse zeigt sich zum Beispiel daran, daß immer mehr Fragen des Berufsrechts als
dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten erklärt und damit den Kammern entzogen werden. In
Deutschland ist diese Entwicklung bekanntlich schon durch die Facharztentscheidung des
Bundesverfassungsgerichts von 1972 geprägt worden57. Im internationalen Vergleich zeigt sich aber noch
stärker als bei uns, daß auch die externen Einflüsse unmittelbar auf die interne Kammerarbeit zunehmen58. Dies
geschieht zum einen dadurch, daß mehr oder weniger fachnahe Mitglieder anderer Berufe oder gar Laien an den
organisationsrechtlich erheblichen Entscheidungsverfahren der Kammern, etwa der kammerinternen
Beschlußfassung über das Stand esrecht, beteiligt werden. Es geschieht zum anderen aber auch in Form einer
stärkeren Einbeziehung externer Personen in die disziplinierende und sanktionierende Ehrengerichtsbarkeit, eine
der klassischen Institutionen berufsständischer Selbstkontrolle. Verbraucherschutz, Interessenausgleich und
Einbeziehung der Fachkunde benachbarter Berufe sind einige der Gesichtspunkte, die in sehr unterschiedlicher
Ausprägung hinter dieser Tendenz stehen. So ganz neu ist diese extraprofessionelle Ko-Organisation aber auch
in Deutschland nicht, erkennen wir sie doch letztlich in den interdisziplinär zusammengesetzten
Ethikkommissionen wieder - ganz abgesehen von zahlreichen Kommissionen und Gremien, durch die die
ärztlichen Organisationen auf freiwilliger Basis den Sachverstand externer Personen für ihre Arbeit fruchtbar
machen. In der Tat ist es auch bezogen auf die berufsständische Regulierung und Kontrolle nicht abwegig, den
bisher doch sehr stark betonten Gegensatz zwischen innen (gleich abgeschotteter Berufsstand) und außen (gleich
Allgemeinheit, Patienten und benachbarte Berufe) ebenso zu entschärfen wie den Konflikt zwischen unten
(gleich partikulare Standesinteressen) und oben (gleich vom Staat wahrgenommenes Allgemeininteresse). Daß
eine solche Entwicklung die Aufgaben und Funktionen der Selbstverwaltung nachhaltig beeinflussen wird59,
dürfte offenkundig sein. Schon dies allein sollte Grund genug sein, diese Entwicklung auch aus dem Blickwinkel
der damit sich für den eigenen Berufsstand ergebenden Chancen aktiv gestalterisch zu begleiten.
Marktzutritt statt Marktabschottung
Eine weitere Herausforderung der nächsten Jahre wird darin bestehen, den Übergang von der Marktabschottung
zur interprofessionellen Qualitätssicherung zu bewältigen. Eine vergleichende Analyse der Berufsrechte in
Europa hat nämlich ergeben, daß der Marktzutritt für die Angehörigen benachbarter Berufe zunehmend
erleichert und durch Mechanismen der Kooperation und gegenseitigen Kontrolle flankiert wird60. Insgesamt ist
die internationale berufsständische Entwicklung von Flexibilisierung, Verzahnung und Kooperation anstelle von
Marktabschottung und Konfrontation gekennzeichnet. Und spannt man den Bogen weiter, dann kann man die
Entwicklung von den Zünften über die Berufsstände hin zu aufgabenbezogenen Funktionseinheiten ausmachen.
Die Zünfte waren noch Lebensgemeinschaften, die die Mitglieder in ihrer Totalität erfaßten, für ihre Mitglieder
weit über den Beruf hinaus statusbestimmend waren und die gesamte Gesellschaft fein säuberlich in
verschiedene Segmente zerteilten61. Demgegenüber sind die heutigen Berufsstände tätigkeitsbezogene Gruppen,
die durch formale Berufszulassung und einheitliche Berufsbezeichnung geschaffen und auch zusammengehalten
werden62. An ihre Stelle werden in Zukunft voraussichtlich mehr auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtete
Funktionseinheiten treten, die sich aus Mitgliedern verschiedener, heute noch je für sich definierter Berufe
zusammensetzen63.
Wenn es auch heute noch als Unding erscheint - ich wage es denn auch kaum auszusprechen -, daß
Heilpraktiker, Masseure und Psychologen zusammen mit Ärzten in einer Berufsorganisation
zusammengeschlossen sind, so sei doch daran erinnert, daß auch heute schon nichtanwaltliche Rechtsberater
Mitglieder einer Rechtsanwaltskammer sein können64. Eine homogene Mitgliederstruktur wird bei den
zukünftigen Funktionseinheiten also nicht mehr ohne weiteres vorauszusetzen sein. Wohl ist aber auch bei ihnen
ein Grundbestand an einheitlichen Wertvorstellungen und übereinstimmenden Idealen unabdingbar. Hieran zu
arbeiten, dabei auch prägend auf Nachbarberufe zu wirken und nicht zuletzt die so wesentliche
Übereinstimmung zwischen dem eigenen Leistungsvermögen des Berufsstandes und den von außen an ihn
herangetragenen Leistungserwartungen zu erhalten oder wiederzugewinnen65, wird wesentliche Aufgabe der
ärztlichen und zukünftig vielleicht medizinischen Selbstverwaltung sein. Und um diese medizinische
Selbstverwaltung ist es im 21. Jahrhundert dann gut bestellt, wenn sowohl die Ärzteschaft als auch die
Gesellschaft unter Einschluß der Rechtsordnung ihrer Verantwortung für das Gesundheitswesen gerecht werden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-3078-3090
[Heft 46]
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz
Richter am OLG Karlsruhe
Universität Mannheim,
Fakultät für Rechtswirtschaft
Schloß - Westflügel W 213
68131 Mannheim
Bisher sind in dieser Serie erschienen:
Thomas Gerst: Föderal oder zentral? - Der kurze Traum von einer bundeseinheitlichen ärztlichen Selbstverwaltung (Heft
38/1996)
Gerhard Vogt: Arzt im Krankenhaus (Heft 45/1996)
Hedda Heuser-Schreiber: Ärztinnen in Deutschland - Fakten, Beobachtungen, Perspektiven (Heft 1-2/1997)
J. F. Volrad Deneke: Körperschaften und Verbände - streitbare Verwandte (Heft 4/1997)
Klaus-Ditmar Bachmann, Brigitte Heerklotz: Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer (Heft 10/1997)
Marilene Schleicher: Die ärztliche Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland (Heft 14/1997)
Jürgen W. Bösche: Die Reichsärztekammer im Lichte von Gesetzgebung und Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland
(Heft 21/1997)
Horst Dieter Schirmer: Ärzte und Sozialversicherung (I) - Der Weg zum Kassenarztrecht (Heft 26/1997)
Horst Dieter Schirmer: Ärzte und Sozialversicherung (II) - Der Weg zum Kassenarztrecht (Heft 27/1997)
Franz Carl Loch, P. Erwin Odenbach: Fortbildung in Freiheit - Gestern und heute: Eine Hauptaufgabe der ärztlichen
Selbstverwaltung (Heft 33/1997)
Franz Carl Loch, Wolfgang Loris: Der saarländische Sonderweg (Heft 38/1997)
Jörg-Dietrich Hoppe: Die Weiterbildungsordnung - Von der Schilderordnung zum integralen Bestandteil der Bildung im
Arztberuf (Heft 39/1997)
Bruno Müller-Oerlinghausen, Karl-Heinz Munter: Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft -
Qualitätssicherung in der Arzneitherapie (Heft 40/1997)
Rolf Bialas, Michael Jung: Alterssicherung in eigener Verantwortung - Ärztliche Versorgungswerke (Heft 41/1997)
Walter Burkart: Die Auslandsbeziehungen der Bundesärztekammer (Heft 42/1997)
Christoph Fuchs, Thomas Gerst: Medizinethik in der Berufsordnung - Entwicklungen der Muster-Berufsordnung (Heft
43/1997)
Karsten Vilmar: Die ärztliche Selbstverwaltung und ihr Beitrag zur Gestaltung des Gesundheitswesens (Heft 44/1997)
Walter Brandstädter: "Welten trennen uns vom real existierenden Sozialismus" (Heft 45/1997)
1 Taupitz, NJW 1986, 2851
2 Näher zur Ambivalenz der Selbstverwaltung Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984; Kleine-Cosack,
Berufsständische Autonomie und Grundgesetz, 1986, 54 ff.; Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991, S. 653
f.
3 Hendler, S. 354
4 Hendler, S. 317 f.; Kleine-Cosack, S. 117 ff.; Taupitz, S. 617
5 BVerfGE 33, 125, 157
6 BVerfGE 33, 125, 158 ff.; Taupitz, S. 804 ff.
7 Kleine-Cosack, S. 181 ff. und öfter; Tettinger, Kammerrecht, 1997, S. 96 ff.
8 Siehe besonders deutlich OVG Nordrhein-Westfalen, OVGE 35, 32, 34 f.: Tettinger, S. 144; Taupitz, S. 653
9 Hierzu und zur Problematik des Gemeinwohlbegriffs Taupitz, S. 844 ff.
10 Kleine-Cosack, S. 95 ff.; Taupitz, S. 617, 622, 654
11 Hendler, S. 168
12 Auch enthält das Grundgesetz - anders als bezüglich der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 II - keine
institutionelle Garantie der berufsständischen Selbstverwaltung; aus diesem Blickwinkel kann nicht davon gesprochen
werden, daß die berufsständische Selbstverwaltung "gleichberechtigt" neben der kommunalen Selbstverwaltung steht, s.
aber (allg.) Klitzsch, Rhein. Ärztebl. 2/1997, 9
13 Hendler, S. 340 ff.; Taupitz, S. 520 ff., 622
14 Präambel des EU-Vertrages und Art. 3b des EG-Vertrages
15 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 218 ff., 281 ff., 313; Taupitz, S. 523
16 R. Herzog, Der Staat 2 (1963), 399, 412; Isensee, S. 143 ff.
17 Zweites Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der Gesetzlichen Krankenversicherung
vom 23. Juni 1997, BGBl. I, S. 1520
18 So ausdrücklich die Gesetzesmaterialien, s. BT-Drucks. 13/6087, S. 16 f.; BT-Drucks. 13/7264, S. 49
19 Taupitz, S. 748 f.
20 §§ 137a, 137b, 2. GKV-Neuordnungsgesetz betreffend Qualitätssicherungsmaßnahmen; s. dazu die Beschlußempfehlung und
den Bericht des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages, BT-Drucks. 13/7264, S. 49 ff., 69; s. ferner § 17
KHG i. d. F. des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes, wonach der Bundesärztekammer die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben
ist, soweit medizinische Fragen der Entgelte und der zugrundliegenden Leistungsabgrenzung betroffen sind. - Zuvor war
die Bundesärztekammer zwar bereits in verschiedenen Fassungen der Eichordnung genannt (s. etwa § 4 EO vom 12. 8. 1988
und vom 21. 6. 1994); jedoch lag insoweit lediglich eine statische Verweisung auf bestimmte (genau benannte)
Richtlinien und Beschlüsse des Vorstandes der Bundesärztekammer vor, ohne daß der Bundesärztekammer dadurch eine
irgendwie geartete Regelungskompetenz zuerkannt worden wäre. Zudem war der Bundesärztekammer bereits 1994 (§ 100a SGB X
i. d. F. v. 13. 6. 1994) bzw. 1996 (§ 206 SGB VII i. d. F. v. 7. 8. 1996) ein Anhörungsrecht in bestimmten
datenschutzrechtlichen Fragen eingeräumt worden
21 Nachweis bei Tettinger (S. 240) zu einer Sitzung vom 31. 1. 1996
22 Zum Verhältnis von Recht auf berufliche Autonomie und Verpflichtung zu berufsständischer Selbstkontrolle s. sehr
deutlich auch die Deklaration des Weltärztebundes "Berufliche Autonomie und Selbstverwaltung", verabschiedet im Oktober
1987 in Madrid
23 Taupitz, S. 72 m. w. Nwen.
24 Taupitz, S. 65
25 Zur immer wichtiger werdenden Kooperation bei den freien Berufen s. hier nur
Wasilewski, Deutsches Architektenblatt 1996, S. 1435 f.
26 Siehe auch Hoppe, Rhein. Ärztebl. 8/1997, 3: "Es bringt mehr, am Arztbild der Zukunft zu arbeiten, als sich über die
aktuell nicht immer faire Behandlung der Ärzteschaft in den Medien aufzuregen"
27 Taupitz, S. 497 f.
28 Abdruck der Neufassung der Musterberufsordnung im DÄBl. 1997, A-2354 ff.
29 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, daß es einen gegenläufigen internationalen Trend zur Trennung von KammerBerufsaufsicht und staatlicher Marktzugangskontrolle gibt, s. dazu H. Herrmann, Recht der Kammern und Verbände Freier
Berufe, 1996,
S. 472 f.
30 Ben-David, KZfSS, Sonderheft 5 (1961), 114 ff.; R. Bucher/Stelling, Becoming Professional, 1977; Coombs, Mastering
Medicine, 1978; Taupitz, S. 77 f. m. w. Nwen.
31 Siehe insbesondere die Entschließung zum Tagesordnungspunkt II des Ärztetages in Eisenach 1997, DÄBl. 1997, A-1655
f.
32 Tettinger, S. 239
33 BVerwG, NJW 1987, 337; OVG Bremen, NJW 1994, 1606; Vorinstanz: VG Bremen, MedR 1992, 171; anders dagegen BGH, BRAKMitt. 1996, 126; ausführliche Darstellung der Problematik bei Tettinger,
S. 152 ff.
34 Näher Tettinger, S. 159 ff.
35 OVG Münster, Urteil vom 6. 6. 1980,
OVGE 35, 32
36 OVG Münster, OVGE 35, 32, 35 ff.;
Tettinger, S. 145
37 §§ 191a ff. BRAO i. d. F. v. 2. 9. 1994, BGBl. I, S. 2278
38 Dazu, daß das BVerfG die Anwaltschaft zu ihrem Glück gezwungen hat, Zuck, NJW 1988, 175
39 Vgl. die Nachweise bei Henssler/
Prütting/Eylmann, Bundesrechtsanwaltsordnung, 1997, Vorb. § 43 Rdnr. 3
40 BVerfGE 76, 171 ff. und 196 ff.; näher dazu Taupitz, DVBl. 1988, 209 ff.
41 Ausführlich zur Entwicklung der ärztlichen Standesordnungen (gerade auch in Konfrontation zum Staat) Taupitz, S. 248
ff.
42 Mettenheimer, Die Einführung einer ärztlichen Standesordnung, 1878, S. 13
43 Ausführlich Taupitz, S. 352 ff., die "defensive" Haltung der Anwaltschaft wurde denn auch gerade nach den
Richtlinien-Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts (oben Fn. 40) beklagt, s. etwa Zuck, JZ 1988, 558, 559. KleineCosack (NJW 1994, 2249) spricht gar von "unverständliche[r] neurotische[r] Betriebsblindheit im eigenen Berufsrecht"
44 Taupitz, S. 365 f.
45 Institut für Freie Berufe an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Hsrg.), Freie Berufe in Europa,
1993, S. 71 ff.; Herrmann, S. 470 f. und die jeweiligen Länderberichte
46 Herrmann, S. 470 f.
47 Draft Treaty of Amsterdam, Document CONF/4001/97 vom 19. 6. 1997, Art. 129 Abs. 5: "Community action in the field of
publik health shall fully respect the responsibilities of the Member States for the organization and delivery of health
services and medical care . . .”. Der Vertrag ist am 2. 10. 1997 unterzeichnet worden und bedarf jetzt der
Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten
48 Carl, Beratende Berufe im Europäischen Binnenmarkt, 1995, S. 81
49 So ausdrücklich die Erwägungen zur Hochschuldiplomanerkennungsrichtlinie (89/48/EWG) vom 21. 12. 1988, ABl. EG Nr. L
19/16 vom 24. 1. 1989
50 EuGH NJW 1984, 2022, 2023
51 EuGH NJW 1990, 2305 f.; NJW 1994, 781 f.
52 Siehe dazu hier nur Carl, S. 27 ff.; Mulas, Freizügigkeit freier Berufe im europäischen Binnenmarkt, jur. Diss.
Tübingen 1995; aus anwaltlichem Blickwinkel
Henssler/Nerlich (Hrsg.), Anwaltliche Tätigkeit in Europa, 1994; Geiger, Der Wandel im Berufsrecht des deutschen
Rechtsanwalts unter dem Einfluß des Europäischen Integrationsprozesses, 1995
53 Standesregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Gemeinschaft (CCBE), angenommen am 28. 10. 1988, AnwBl. 1989, 647
54 Eine Zusammenarbeit in dieser Richtung wird von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften ausdrücklich begrüßt,
s. Carl, S. 81
55 Dazu Eckel, Nds. Ärztebl. 8/1997, 2, 4 ff.; Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer ’97, S. 413 ff.
56 Zur Zunahme heteronomer Einflüsse auf die ärztlichen Standesordnungen s. schon Taupitz, S. 305 ff.
57 BVerfGE 33, 125 ff.
Bei dem Artikel handelt es sich um die geringfügig veränderte und lediglich mit weiterführenden Fußnoten
versehene Fassung eines Vortrags auf der Festveranstaltung aus Anlaß des 50jährigen Bestehens der
Bundesärztekammer am 17. Oktober 1997 in Köln
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