ArchivDeutsches Ärzteblatt47/1997Die Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen: Neurodegenerative Krankheiten des Kindesalters auf dem Weg zur Aufklärung

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Die Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen: Neurodegenerative Krankheiten des Kindesalters auf dem Weg zur Aufklärung

Kohlschütter, Alfried; Goebel, Hans H.

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LNSLNS Die Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL) stellen wahrscheinlich die häufigste Gruppe progredienter neurodegenerativer Krankheiten des Kindesalters dar. Nach dem Erkrankungsalter werden sie in infantile, spätinfantile und juvenile Formen eingeteilt. Sie sind allgemein gekennzeichnet durch ein Syndrom der "amaurotischen Demenz" mit Visusverlust, Abbau psychomotorischer Fähigkeiten und Epilepsie. Sie werden autosomal rezessiv vererbt. Daneben gibt es adulte Formen. Die klinische Diagnostik dieser Krankheiten, teilweise auch die pränatale Diagnostik, beruht trotz großer Fortschritte der Genetik auf morphologischelektronenmikroskopischer Untersuchung geeigneter Gewebe. Für den diagnostischen Nachweis der krankheitsspezifischen Lipopigmente eignen sich besonders Blutlymphozyten und Hautbiopsien. Trotz Fehlens kausaler Therapien ist die Frühdiagnostik wichtig. Die weitgehend unbekannte Ätiologie und die Pathogenese werden intensiv erforscht.


Die Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL) sind progrediente neurodegenerative Krankheiten des Kindesalters, die wahrscheinlich die häufigste Gruppe von neurodegenerativen Krankheiten dieser Altersperiode darstellen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sie bereits seit 170 Jahren bekannt sind, als der Landarzt Christian Stengel erstmals in einer mittelnorwegischen Bergarbeiterstadt 1826 die juvenile Form dieses Krankheitsbildes bei vier betroffenen Kindern eines gesunden Ehepaares beschrieben hat. Über Jahrzehnte wurden die NCL unter dem Oberbegriff der amaurotischen Idiotie klassifiziert, bis der Nachweis der Autofluoreszenz ubiquitär gespeicherter Lipopigmente die Abtrennung von anderen Formen der amaurotischen Idiotie, also von lysosomalen Krankheiten, besonders der GM2-Gangliosidose oder Tay-Sachsschen Krankheit, erlaubte (25). Seit zirka 25 Jahren ist daher diese Gruppe von neurodegenerativen Krankheiten - zu denen auch eine seltene adulte Form, der Morbus Kufs, gehört - unter der Bezeichnung Neuronale Ceroid-Lipofuszinosen (NCL) bekannt. Im angloamerikanischen und besonders im englischen Sprachraum wird auch die Bezeichnung Morbus Batten verwendet.
Trotz erheblicher neuer molekulargenetischer Erkenntnisse und damit eines deutlichen Fortschritts in der Aufklärung der NCL in den letzten Jahren wird das Krankheitsbild bioptisch, postmortal und pränatal heute noch fast ausschließlich durch morphologisch-elektronenmikroskopische Untersuchungen zum Nachweis krankheitsspezifischer Lipopigmente diagnostiziert.
Die NCL sind gekennzeichnet durch einen fortschreitenden Verlust von zerebrokortikalen und retinalen Nervenzellen, der wahrscheinlich verantwortlich ist für die klinische Symptomatik, sowie eine ubiquitär stattfindende Bildung und Ablagerung von exzessiven Mengen von Lipopigmenten, die vielfach eine spezifische Ultrastruktur aufweisen. Der Nachweis dieser Lipopigmente und ihrer krankheitsspezifischen Feinstruktur ist für die Diagnostik von entscheidender Bedeutung.
Die respektablen molekulargenetischen Resultate der letzten Jahre, die zu einer Neuklassifizierung der NCL führen werden, haben sich bereits in einer neuen Nomenklatur bemerkbar gemacht. Die infantile NCL wird auch als CLN 1, die spätinfantile NCL als CLN 2, die juvenile NCL als CLN 3, die adulte NCL als CNL 4 und außerdem die finnische Variante der spätinfantilen NCL als CLN 5 bezeichnet (Tabelle 1).


Klinisches Bild der verschiedenen NCL-Formen
Klinisch sind die NCL summarisch gekennzeichnet durch den Begriff der amaurotischen Demenz (früher "amaurotische Idiotie", ein nicht nur unschöner, sondern wegen der Prozeßhaftigkeit der Symptomatik auch unpräziser Ausdruck). Sie sind damit anderen genetischen Speicherkrankheiten verwandt. Zu Erblindung und geistigem Abbau gesellen sich Epilepsie und Bewegungsstörungen in einem für die einzelne Erkrankung charakteristischen zeitlichen Ablauf. Das unterschiediche Erkrankungsalter ist die Basis der traditionellen klinischen Klassifikation (Tabelle 1). Praktisch alle intra vitam diagnostizierbaren Formen beginnen im Kindes- und Jugendalter. Das klinische Bild der drei wichtigsten Formen wird hier besprochen.


Juvenile NCL
Die juvenile NCL (M. Spielmeyer-Vogt) ist in Deutschland mit mindestens 0,7 pro 100 000 Lebendgeborene am häufigsten (3). Typischerweise sind die Kinder anfangs völlig gesund und psychomotorisch normal entwickelt. Meist in der ersten Schulklasse wird eine Sehschwäche entdeckt. Die Verordnung von Brillen bessert allerdings nichts, vielmehr nimmt der Visus rasant weiter ab bis zur Erblindung mit durchschnittlich zehn Jahren (11). Der Fundus ist schwer verändert mit atrophischer Retina und Pigmentverschiebungen (Abbildung 1).
Augenärzte diagnostizieren aufgrund von Fundoskopie und ausgelöschtem Elektroretinogramm häufig fälschlich eine "Retinitis pigmentosa", die sich in Wirklichkeit kaum in dieser Altersgruppe manifestiert. Es fällt oft offenbar schwer, ein über die Retinopathie hinausgehendes tödliches Leiden zu vermuten (Tabelle 2). Der Verzicht auf weitere Klärung führt zu mitunter vieljähriger Verzögerung der Diagnose, mit leidvollen Folgen für die Erziehung eines zunehmend lernunfähigen Jugendlichen und der Geburt weiterer befallener Geschwister (6). Die Kinder werden in Blindenschulen unterrichtet, wo erfahrene Pädagogen im Alter von acht bis zehn Jahren die abnehmende geistige Kapazität (besonders in Mathematik) bemerken und auf weitere medizinische Untersuchungen drängen. Plötzlich auftretende epileptische Anfälle führen zwar zu ärztlichen Maßnahmen, aber keineswegs immer zur Erkenntnis der einheitlichen Ursache von Amaurose, Demenz und Epilepsie.
Die Verdachtsdiagnose ergibt sich leicht aus progredienter Amaurose und Demenz und wird gestützt durch schon im üblichen Blutausstrich erkennbare Lymphozytenvakuolen. Zur entscheidenden elektronenmikroskopischen Bestätigung siehe unten. Weitere klinische Befunde bestehen in den Anfangsjahren nicht, und Hilfsuntersuchungen (bildgebende Verfahren, Lumbalpunktion, biochemische Untersuchungen) tragen nicht zur Diagnose bei. Das EEG läßt oft multifokale oder generalisierte Krampfaktivität erkennen.
Der weitere Verlauf ist aus Tabelle 1 zu ersehen. Das Leiden führt über viele Jahre fortschreitend zum Verlust von schließlich allen mentalen und motorischen Fähigkeiten bis zur Schwerpflegebedürftigkeit und zum Tod im jungen Erwachsenenalter. Trotz des Fehlens kausaler Therapieansätze ist die langjährige, präzise und einfühlsame Auseinandersetzung mit allen Problemen medizinischer, pädagogischer, psychosozialer und genetischer Art eine wichtige Aufgabe der entsprechenden Fachleute. Eine Interessenvereinigung betroffener Familien sucht hier zu vermitteln (Anschrift über den Verfasser A. K.).


Spätinfantile NCL
Die spätinfantile NCL (M. Jansky-Bielschowsky) ist kaum weniger häufig. Auch hier sind die Kinder anfangs unauffällig. Die Krankheit beginnt im Alter von zwei bis vier Jahren als schwere, medikamentös kaum beherrschbare Epilepsie. Wenn das Kind zuvor gut entwickelt war und für solch schwere Krämpfe keine plausible Ursache gefunden wird, ist an diese Form der NCL zu denken und die entsprechende elektronenmikroskopische Diagnostik einzuleiten. Lichtmikroskopisch ist das Blutbild hier unauffällig. Im Frühstadium kann das EEG spezifische Hinweise geben durch Polyspikes, die durch langsame photische Stimulation ausgelöst werden (13, 15). Kortikal abgeleitete somatosensorisch evozierte Potentiale können erhöht sein (20). Andere Hilfsuntersuchungen führen nicht weiter. Bemerkenswert ist, daß die Kinder lange Zeit nicht blind erscheinen, obwohl dieRetina erkrankt und das ERG pathologisch verändert ist. Die Erkennung eines Syndroms der amaurotischen Demenz wird dadurch erschwert. Die Verantwortung für das rechtzeitige Vermuten der Diagnose liegt häufig beim pädiatrischen Epileptologen (Tabelle 2).
Der weitere Verlauf ist ähnlich auf allen Gebieten abwärts führend wie bei der juvenilen NCL, doch ist er rascher und führt meist vor der Pubertät zum Tode (Tabelle 1).


Infantile NCL
Die infantile ("finnische") NCL wurde in Deutschland nur vereinzelt beobachtet. Die Kinder sind im ersten Lebensjahr vollkommen gesund und erleiden im zweiten Jahr einen dramatischen Verlust bereits erworbener Fähigkeiten. Innerhalb von zwei bis drei Jahren werden die Kinder vollkommen hilflos, steif und reglos. Sehr kennzeichnend ist die Abflachung des EEG, die rasch zu einem "Null-Linien-EEG" wie bei Hirntod führt und damit dieVermutungsdiagnose stellen läßt. Bildgebende Verfahren zeigen eine sehr starke Hirnatrophie. Die elektronenmikroskopische Untersuchung bestätigt die Diagnose. Bei guter Pflege überleben die Kinder mehrere Jahre (Tabelle 1).


Genetik der NCL
Jüngste genetische Untersuchungen haben gezeigt, daß die NCL nicht nur klinisch, sondern auch genetisch und damit nosologisch heterogene Krankheitsbilder darstellen. Hierauf hatten in der Vergangenheit schon unterschiedliche Ultrastrukturbefunde der pathologischen Lipopigmente hingewiesen. Alle in der Kindheit auftretenden NCL-Formen werden autosomal rezessiv vererbt.
Der Genlokus für die infantile NCL (INCL), die vor allem in Finnland recht häufig ist (17) und zur Gruppe der typischen "finnischen" hereditären Krankheiten gehört, liegt auf Chromosom 1p32 (7). Das physiologische Allel kodiert das Protein der Palmitoyl-Protein-Thioesterase, eines lysosomalen Enzyms, dessen Funktion bisher unbekannt ist (24). Dieses Enzym zeigt in Geweben von Patienten mit infantiler NCL keine Aktivität. Finnische Patienten mit infantiler NCL zeigen eine Mutation des Gens mit einer Substitution der Aminosäure Arginin durch Tryptophan, die in 40 von 42 Familien als "common mutation" vorherrscht (24). Daneben wurden jeweils in einer Familie eine weitere Mutation und ein "compound-"Allel-Defekt beobachtet (24). Die präzise Charakterisierung des INCL-Gens und seiner entsprechenden Defekte erlaubt heute eine pränatale Diagnose (4, 16) und eine Erkennung von Überträgern der INCL. Bisher sind entsprechende familiär-genetische Untersuchungen bei der infantilen NCL nur in Finnland (Helsinki) möglich.
Für die klassische spätinfantile NCL, CLN 2, konnte bisher ein Genort nur für einzelne Familien auf Chromosom 11 nachgewiesen werden. Die Krankheit ist daher wahrscheinlich genetisch und nosologisch heterogen. Für die meisten Fälle einer Variante der spätinfantilen NCL wurde ein Gen auf Chromosom 15 lokalisiert (21). Bei der klassischen spätinfantilen NCL ist die morphologische Erkennung von Heterozygoten nicht möglich, während die pränatale Diagnostik elektronenmikroskopisch an unkultivierten Amnionzellen durchgeführt werden kann. Biochemisch wurden im Speichermaterial der Zellen große Mengen eines Enzymproteins nachgewiesen, das einen Bestandteil eines Enzyms aus dem mitochondrialen Energiestoffwechsel darstellt, der Untereinheit C der mitochondrialen ATP-Synthase (5). Die pathophysiologische Bedeutung der Speicherung dieses Enzymproteins, die in geringerer Ausprägung auch bei der juvenilen und adulten CL, nicht aber bei der infantilen NCL, gefunden wird, ist ungeklärt.
Nachdem der Genort für die juvenile NCL, CLN 3, auf dem Chromosom 16p11.2 lokalisiert wurde, ist es jüngst gelungen (22), dieses Gen genau zu charakterisieren. Es enthält 15 Kilobasenpaare mit 15 Exonen und ist ein bisher nicht bekanntes Gen. Das normale Allel kodiert ein in seiner Funktion unbekanntes, ubiquitär vorkommendes Protein. Bisher wurden für das CLN-3-Gen 14 Mutationen bei Familien mit juveniler NCL beschrieben; darunter eine häufige ("common") Mutation mit einer Deletion von 217 Basenpaaren im Zentrum des Gens, woraus ein verkürztes Protein resultiert (22). Nach der exakten Identifizierung des CLN-3-Gens sind jetzt eine Erkennung von Überträgern und eine pränatale Diagnostik auf genetischer Grundlage möglich (14).
Der Genort für die adulte NCL, CLN 4, ist noch unbekannt. Die Zahl verfügbarer Familien als Ausgangspunkt für eine Identifizierung des Gens durch Koppelungs-Studien ist bisher gering. Es wurden sowohl autosomal dominante wie autosomal rezessive Erbgänge beschrieben.
Die finnische Variante der spätinfantilen NCL, CLN 5 (18), ebenfalls zur Gruppe der typischen finnischen hereditären Krankheiten gehörig und auf einem "Gründereffekt" beruhend (23), ist genetisch auf dem Chromosom 13q21.1-32 lokalisiert (19). Ein Genprodukt des normalen Allels ist bisher nicht identifiziert.
Zu weiteren, in den letzten Jahren herausgestellten klinischen NCL-Varianten gehört auch die durch osmiophile Granula gekennzeichnete morphologische Variante, die klinisch der klassischen juvenilen NCL entspricht. Diese Formen sind bisher genetisch nicht analysiert worden.


Diagnostik der NCL
Leitsymptome der beiden in Deutschland am häufigsten vorkommenden NCL-Formen sind im Falle der juvenilen NCL die initiale Retinopathie, im Falle der spätinfantilen NCL die im Kleinkindalter ohne erkennbares Korrelat auftretende schwere Epilepsie (Tabelle 2).
Trotz des typischen klinischen Bildes und den Möglichkeiten der molekulargenetischen Analyse wird die Diagnose einer NCL im Kindesalter heute noch weitestgehend morphologisch mit Hilfe des Elektronenmikroskops gestellt. Während der Verlust von Nervenzellen in der Großhirnrinde für klinische und elektrophysiologische Charakteristika verantwortlich sein dürfte, sind die ubiquitär, das heißt zerebral und extrazerebral vermehrt gebildeten Lipopigmente für die Diagnostik bedeutsam. Diese Lipopigmente sind lysosomale Residualkörperchen, vergleichbar den lysosomalen Residualkörperchen anderer lysosomaler Krankheiten, so daß die NCL auch zur Gruppe der lysosomalen Krankheiten zu rechnen sind. Die Bedeutung der Lipopigmente für die Pathogenese der Krankheiten, insbesondere für den fortschreitenden Verlust von Nervenzellen, gilt als bisher ungeklärt. Ob ihre Bildung für klinische und elektrophysiologische Befunde verantwortlich oder mitverantwortlich ist, ist ebenfalls bisher weitgehend unbekannt. In extrazerebralen Zellen und Organen, anders als in zerebro-kortikalen Nervenzellen, führt die Bildung pathologischer Lipopigmente bei den NCL, soweit klinisch, biochemisch und morphologisch erfaßbar, nicht zu Schädigung und Verlust der entsprechenden Zellen.
Da ein enzymhistochemischer Defekt, anders als bei zahlreichen lysosomalen Krankheiten, bisher diagnostisch nicht nachgewiesen werden kann, sind diagnostische biochemische Untersuchungen bei Patienten mit NCL derzeit nutzlos und nicht indiziert. Auch das oben erwähnte Fehlen der Palmitoyl-Protein-Thioesterase bei der infantilen NCL hat noch nicht zu einem verbreiteten diagnostischen Einsatz eines Enzymtests geführt.


Hautbiopsie
Andererseits erlaubt die ubiquitäre extrazerebrale Bildung NCL-spezifischer Lipopigmente die diagnostische Biopsie verschiedener Organe und Gewebe. Nachdem die Ära der Hirnbiopsie durch diese letzten Ergebnisse überholt erscheint und die Rektumbiopsie angesichts leichter und ungefährlicher zugänglicher Organe ebenfalls weitgehend aufgegeben worden ist, steht heute die Hautbiospie im Vordergrund der Diagnostik. Hierbei lassen sich krankheitsspezifische Lipopigmente in Schweißdrüsenepithelien, in glatten Haarbalgmuskeln und in Gefäßwandzellen mit diagnostischer Zuverlässigkeit nachweisen. Allerdings müssen diese Hautanhangsgebilde im zu untersuchenden Biopsie-Präparat auch vorliegen, da die Epidermis nur extrem spärlich, wenn überhaupt, NCL-typische Lipopigmente bildet (9). Eine morphologisch-klinische Korrelation entsprechender klinischer Subtypen gelingt jedoch mit der Hautbiopsie nicht immer. Hierzu haben sich für uns Untersuchungen an zirkulierenden Lymphozyten als hilfreich erwiesen. Lymphozyten können hierzu in einfacher Weise aus kleinen Volumina EDTA-Blut durch Dichtegradientenzentrifugation isoliert werden (1), wonach sie adäquat fixiert und dann elektronenmikroskopisch untersucht werden. Hierbei finden sich typischerweise (Abbildung 1) für die infantile NCL granuläre kompakte Lipopigmente, für die spätinfantile NCL kompakte curviliniäre Einschlußkörperchen, für die klassische juvenile NCL membranbegrenzte Vakuolen mit Fingerabdruckprofilen (8), letztere allerdings in geringer Zahl, und für die frühjuvenile Form kompakte avakuoläre Lipopigmente mit Fingerabdruckprofilen (11). Hierbei ist allerdings nicht klar, ob die finnische Variante der spätinfantilen NCL ebenfalls Lymphozyten-Einschlüsse aufweist. Die Bildung von spezifischen Lipopigmenten in Lymphozyten bei der adulten NCL ist bisher nicht beschrieben worden, aber Fingerabdruckprofile finden sich in Schweißdrüsenepithelien und glatten Muskel- sowie anderen Gefäßwandzellen einiger Patienten mit adulter NCL. Bei den klassischen Formen der NCL im Kindesalter erbringt daher die Untersuchung zirkulierender Lymphozyten eine unseres Erachtens recht gute klinisch-morphologische und damit diagnostische Korrelation.
Neben Haut und zirkulierenden Lymphozyten werden gelegentlich auch Konjunktiva und quergestreifte Muskulatur bioptisch erfolgreich analysiert, seltener biopsierte Organe sind Leber, Niere, Lymphknoten, Tonsillen, Appendix.


Pränatale Diagnostik
Auch die pränatale Diagnostik ist bei den verschiedenen Formen der NCL im Kindesalter durch elektronenmikroskopische Untersuchungen möglich, die zum Teil die genetische Analyse untermauern, bei der spätinfantilen NCL sogar ausschließlich notwendig sind. Krankheitsspezifische Lipopigmente finden sich in Gefäßwandzellen des Chorionstroma bereits ab der neunten Schwangerschaftswoche und erlauben damit elektronenmikroskopisch die Erkennung der infantilen NCL, während epitheliale Zytotrophoblasten und Synzytiotrophoblasten keine Lipopigmente aufweisen. Die spätinfantile NCL zeigt curviliniäre Einschlüsse in unkultivierten Amnionzellen. Die spätinfantile NCL ist bisher nur in unkultivierten Amnionzellen, nicht jedoch im Chorion nachzuweisen, und zwar etwa ab der 16. Schwangerschaftswoche. Jüngst sind auch NCL-spezifische Lipopigmente in Gefäßwandzellen des Chorionstroma bei juveniler NCL in der 15. Schwangerschaftswoche dokumentiert worden (14). Bei der elektronenmikroskopischen pränatalen Diagnostik ist jedoch darauf zu achten, daß tatsächlich Choriongewebe im Präparat vorliegt oder daß Amnionzellen unkultiviert bleiben, da kultivierte Zellen keine NCL-Lipopigmente exprimieren. Außerdem muß der Untersucher das ultrastrukturelle Spektrum der NCL-Lipopigmente genau kennen, weil zum Beispiel in Hofbauer-Zellen des Chorionstroma, die Makrophagen darstellen, ein vielfältiges Spektrum unspezifischer lysosomaler Residualkörperchen vorkommen kann, die nicht Anlaß zur Verwechslung mit NCL-spezifischen Lipopigmenten geben dürfen.
Inzwischen ist auch bekannt, daß bereits pränatal in der Haut und anderen Organen NCL-spezifische Lipopigmente gebildet werden, so daß die pränatale Untersuchung von Haut (auch Muskel?) und von Lymphozyten möglich (12) und gegebenenfalls indiziert ist (2). Sollte die pränatale Diagnostik zweifelsfrei eine NCL des Kindesalters erbringen und zu einem Schwangerschaftsabbruch führen, ist es dringend angeraten, den Fetus post partum morphologisch, inklusive elektronenmikroskopisch, zu untersuchen, um die pränatale Diagnose zu bestätigen. Zur adulten NCL sowie zu frühjuvenilen und finnischen Varianten der spätinfantilenNCL liegen bisher keine pränatalen elektronenmikroskopischen Befunde vor.


Resümee
Infolge der Häufigkeit von NCL im Gesamtspektrum progredienter letaler neurodegenerativer Krankheiten des Kindesalters ist ihre Kenntnis für Pädiater, Neuropädiater, Allgemeinärzte und Ophthalmologen heute unbedingt notwendig (Tabelle 2). Trotz fehlender kausaler Therapien ist eine frühe Erkennung dringlich wegen der weitreichenden Folgen für die Lebensplanung der Familie sowie für eine genetische Beratung einschließlich der Möglichkeit pränataler Diagnostik.
Die Diagnose sollte nicht allein auf klinische, elektrophysiologische und radiologische Befunde beschränkt bleiben, sondern auch eine adäquate, das heißt elektronenmikroskopische, Diagnostik leicht zugänglicher Zellpopulationen wie zirkulierender Lymphozyten oder Hautanhangsgebilde gesichert werden. Eine lichtmikroskopische Untersuchung reicht nicht aus. Bei der elektronenmikroskopischen Diagnostik bedarf es einer gewissen Erfahrung, zumal sie in der Präparation und in der unmittelbaren elektronenmikroskopischen Untersuchung zeit- und personalaufwendig und dadurch kostenintensiv ist. Hierbei ist im Spektrum elektronenmikroskopischer Diagnostik die feinstrukturelle Untersuchung zirkulierender Lymphozyten am schnellsten und leichtesten durchzuführen. Die adäquate Präparation entsprechender Zellen und Gewebe, auch für die pränatale Diagnostik, beginnend mit entsprechender Fixierung in Glutaraldehyd, ist essentiell, um eine zuverlässige elektronenmikroskopische Untersuchung zu gewährleisten. Diese kann auch entfernt vom Ort der Biopsie durchgeführt werden, da adäquat fixierte Zellen und Gewebe auf dem regulären Postweg dem elektronenmikroskopischen Untersuchungsort zugestellt werden können.
Während die molekulargenetische Forschung in der letzten Zeit beachtliche Fortschritte erzielt hat, bedürfen Ätiologie und Pathogenese intensiver Studien, die auch im Rahmen einer konzertierten Aktion innerhalb der Europäischen Union stattfinden (Biomed 2 BMH 4-CT 95-0563).


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-3183-3188
[Heft 47]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.


Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Alfried Kohlschütter, Universitätskinderklinik Hamburg, Neurochemie und Stoffwechsel, Martinistraße 52, 20251 Hamburg

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