ArchivDeutsches Ärzteblatt47/1997Franz Schubert: Tödliche Krankheit,unsterbliche Musik

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Franz Schubert: Tödliche Krankheit,unsterbliche Musik

Ludwig, Timm

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LNSLNS Am 31. Januar 1797 in Wien geboren, in Wien gestorben am 19. November 1828, hat Franz Schubert sein Lebenswerk in 31 Jahren vollenden müssen, davon die letzten sechs unter einer grausigen Krankheit, die auf vielfache Weise hineinwirkte in sein Leben und auch in seine Kunst. Der Kontrast zwischen ereignisarmem Lebenslauf und kurzfristigem, intensivem, unvorstellbar inspiriertem Schaffensprozeß irritiert. Schuberts einzigartige Existenz innerhalb seiner Musik ging bis zum Unvermögen, ein konventionell-soziales Leben zu führen.


Werk
Schuberts Produktivität ist absolut unfaßbar. Er hat wohl 30 000 Stunden mit Komponieren zugebracht, selbst beim Schlafen seine Brille getragen, um Einfälle sofort notieren zu können. Wie mancher vor und nach ihm, sollte auch er nach seiner neunten Sinfonie sterben. Seine Kammermusik umfaßt so glänzende Werke wie das Forellenquintett, das strahlende Oktett für Bläser und Streicher, rund 15 Streichquartetts und ein wundervolles Streichquintett aus seinem letzten Lebensjahr. In der Biedermeierzeit, als Hausmusik populär wurde, ist er einer der ersten, der gute Musik für Piano zu vier Händen schreibt. Einschließlich der drei großen Lieder-Zyklen komponiert Schubert rund 700 Lieder. Weithin verläßt er das "Strophenlied"; er entdeckt und entwickelt die Möglichkeiten des Klaviers über das Begleiterische hinaus zu dramatischer Gestaltung der künstlerischen Aussage.
Schubert entstammte dürftigsten Verhältnissen. Im damaligen Wiener Vorort Himmelpfortgrund lebten in 86 Häusern über 3 000 Leute. In der Anderthalbzimmerwohnung der Schubert-Familie wurden 14 Kinder gezeugt, hier wurden sie zur Welt gebracht und aufgezogen, hier starben sie im zartesten Alter; nur fünf überlebten, und von diesen war Franz der vierte. In der Rauchküche brachte ihn die Mutter Elisabeth zur Welt. Ihr ist er in innigster Liebe verbunden über ihren frühen Tod hinaus sein Lebtag lang. Der Vater, Franz Theodor Schubert, war Lehrer, fromm, selbstgerecht und despotisch.


Leben und Gesundheit
Der junge Franz, allgemein und musikalisch sehr begabt, lernt Klavierspiel beim ältesten Bruder Ignaz, den er bald überflügelt trotz seiner kurzen Wurstfinger. Überstandene Pocken, gute Zeugnisse und Stimme sind die Aufnahmebedingungen für das k. u. k. Stadtkonvikt, wo der Elfjährige für sechs Jahre interniert wird. Liturgiesingen ist Pflicht, Hauptfach Religion. Kirchenleute, ihre Erziehungsmethodik und geistige Welt werden ihm unsympathisch; nach innen gekehrt, lebt er ganz seiner Musik. Kreativität blüht auf; persönlich gefördert vom Hofkapellmeister Antonio Salieri, beginnt sein Weg als Komponist mit 14 Jahren.
"Vernachlässigung aller Disziplinen" laut Innocenz Lang, Androhung der Relegierung, Komponierverbot, Hausverbot des Vaters: Der 15jährige Franz sieht seine sterbende Mutter nicht mehr lebend.
Mit 16 entkommt er dem "Gefängnis" Konvikt und dem Militärdienst, wird Hilfslehrer in des Vaters Schule, und vor allem: er komponiert. Sein Schaffen im Alter von 16 bis 19 Jahren ist fantastisch: die ersten fünf Sinfonien, vier Messen, sechs Opern, vier Streichquartette, neben einer Vielzahl kleinerer Stücke und etwa 270 Liedern.
Er erlebt die einzige tiefe Liebesbeziehung seines Lebens, zu der Sängerin Therese Grob; für ihre Sopranstimme komponiert er seine erste Messe. Die Verbindung zu Therese endet unglücklich; Schubert wird definitiv bindungsunfähig.
1814, mit "Gretchen am Spinnrade", zeigt der 17jährige seine geniale Fähigkeit, tiefste Inhalte musikalisch auszudrücken. 1815 schon im "Liederfrühling" sind es 150 Lieder, im August "Heideröslein", im Herbst "Erlkönig": ein neues Kapitel der Musikgeschichte ist eröffnet.
Schubert soll den "Erlkönig" in die Hand bekommen, sofort "mit glitzenden Augen" komponiert und noch am selben Abend aufgeführt haben. Er soll auch, nach einem langen Abend mit Freunden, etlichen Flaschen Wein und Zigarren, sich ans Pult gesetzt und "die Forelle" geschrieben haben. Wahr an den Anekdoten könnte sein, daß Schubert (wie Mozart) im Kopf komponierte und es dann nur noch niederzuschreiben brauchte. Er hatte ja meist auch kein Piano zur Verfügung.


Erste Anzeichen der Syphilis
1818, mit 21 Jahren, will Schubert sein Leben ganz der Musik widmen, zunächst als Musiklehrer beim Grafen Esterházy in Zseliz (heute Ungarn). Während der ihm noch verbleibenden zehn Jahre lebt Schubert bei verschiedenen Freunden, zuletzt bei seinem Bruder Ferdinand. Schubert wird Zentrum und Magnet kunstliebender Zirkel: "Schubertiaden".
1822/23, im Alter von 25 Jahren, trifft Schubert eine gesundheitliche und soziale Katastrophe. Er muß an sich Symptome entdecken, die typisch sind für Syphilis. Er dürfte ein lockeres promiskuöses Leben geführt haben. Als er an seiner Symphonie Nr. 8 arbeitete, erlebte Schubert die ersten Anzeichen seiner erschreckenden Krankheit: ein denkbarer Grund, warum sie die "Unvollendete" blieb. Schon die zwei vorhandenen Sätze sind von eindringlicher emotionaler Spannung: Musik strahlenden inneren Lichts, gefangen in Traurigkeit und Einsamkeit.


Liederzyklen
Schubert kommt in das modernste Krankenhaus Europas damals, das A.K. Wien mit 2 000 Betten, ein Werk des kaiserlichen Reformers Josef II., 1784 eröffnet nach nur dreijähriger Bauzeit. Arme werden unentgeltlich behandelt in 20-Betten-Sälen; für Geschlechtskranke gibt es zwei separate 90-Betten-Säle. Diskretionshalber wohl nicht bei den Geschlechtskranken, sondern im "Ausschlagszimmer" dieses A.K. Wien hat Schubert gelegen. In ekel- und angsterregender Umgebung von Geschwürskranken (Lupus!) schreibt er die schönsten Müllerin-Lieder.
Schubert-Werke aus den letzten sechs Jahren wie die zwei Liederzyklen "Winterreise" und "Schwanengesang" sind leicht in Beziehung zu seiner Krankheit zu sehen. Zeitlebens hat er eine Neigung gehabt zur Thematik von Sehnsucht, Liebe, Schmerz, Verlassensein, Einsamkeit, Tod und, alles umfassend, Wanderschaft: schicksalhafte Unstetigkeit, von der es Erlösung durch Liebe vielleicht, gewiß aber nur durch den Tod gibt.
1823 entsteht die beliebte "Rosamunde"-Musik, 1824 "Der Tod und das Mädchen", das sonnige Oktett für Streicher und Bläser, dann einige "Moments musicaux", die mit den "Impromptus" einen Standard setzen für die Musikliteratur des 19. Jahrhunderts.
1825, bei verbesserter Kondition, unternimmt er mit dem Sänger Michael Vogl eine lange Reise durch Oberösterreich. Wieder in Wien, zu Gast bei seinen Gönnern, hat er abwesend gewirkt, angeödet von Trivialunterhaltung und Lobhudelei, und sich gern mehr Rotwein bringen lassen, als ihm guttat. Seine pantheistische Ehrfurcht entzweit ihn mit der Kirche, seine Sehnsucht nach Frieden und Verbrüderung mit dem Staat, Freunden wird er zum Sicherheitsrisiko: weniger Einladungen, ständig gesundheitliche und finanzielle Probleme: Alles geht miserabel, schreibt er.
Aus der Bewerbung um die 2. Hofkapellmeisterstelle wird nichts, nichts aus Opernplänen, selbst mit Bauernfeld als Librettist scheitern sie. Einen Gulden pro Lied bekommt er von Verlegern, die seine Not um Geld für Medikamente schamlos ausnutzen; Schubert, verbittert und stolz: "Mich soll der Staat erhalten, ich bin für nichts als das Componieren auf die Welt gekommen." 1827, wieder im Krankenhaus, beginnt er mit seiner "Winterreise".


Schuberts Tod
Ahnt er es? Er selbst wird es sein - noch 20 Monate. In seinem letzten Lebensjahr schreibt Schubert, wie Mozart, tief inspirierte Kompositionen. Sein Tagebuch wird spärlicher: Isolation, Kälte, Lebensverneinung. "Eine Straße muß ich gehen, die noch keiner ging zurück."
Im Kontrast zu Schuberts Melancholie ist 1828 beruflich ein gutes Jahr: Einladungen, beachtliche Privatkonzerte, Veröffentlichungen. Die C-Dur-Sinfonie schreibt er (Nr. 9, die Große, 1838 von Robert Schumann entdeckt), im Mai die letzten drei Impromptus - die dann 30 Jahre lang verschollen bleiben.
Für seine Kopfschmerzen wird Landluft verordnet, so zieht er im Juni in den Vorort Wieden zum Bruder Ferdinand. Die große Messe Es-Dur, die Klaviersonaten in c-Moll und A-Dur sind aus diesem letzten Sommer, das Streichquintett in C-Dur.
Unter Schwindel und unerträglichen Kopfschmerzen leidend, die ihn hindern, Einladungen nach Pest und Graz, ja selbst in Wien zu folgen, hat er doch nicht ernstlich mit seinem baldigen Tode gerechnet. Noch Anfang Oktober wandert Schubert mit Bruder Ferdinand und zwei Freunden nach Eisenstadt, am Grabe des verehrten Haydn zu weilen, und zurück, 70 Kilometer zu Fuß. Schuberts Tod meldet sich gespenstisch beim Abendessen mit den Brüdern im "Roten Kreuz". "Da er nun am letzten Oktober abends einen Fisch speisen wollte", schreibt Ferdinand, warf er, nachdem er das erste Stückchen gegessen, plötzlich Messer und Gabel auf den Teller und gab vor, es ekle ihn gewaltig vor dieser Speise, und es sei ihm gerade, als habe er Gift genommen. Von diesem Augenblick an hat Schubert fast nichts mehr gegessen und getrunken, bloß Arzneien geschluckt."
Die ärztliche Behandlung ist unschädlich, bis man bei "fortschreitender Blutentmischung" einen Aderlaß macht. Schubert soll dem Arzt starr ins Auge gesehen, an die Wand gegriffen und gesagt haben: "Hier, hier ist mein Ende."
Franz Schubert stirbt an der gleichen Krankheit wie seine Mutter, nachmittags um drei an ihrem Namenstag, dem 19. November 1828.


Diagnose
Eine Diagnose nach 170 Jahren? "Nervenfieber" besagt nur, daß Bewußtseinsstörungen dem Tode vorausgingen. "Alkoholismus" war nie konsistent mit Schuberts hellem Kopf und intensivem Schaffen bis in seine letzten Tage. Gesichert ist, daß Schubert sechs Jahre an Syphilis litt, zuletzt im 3. Stadium. Bei den katastrophalen Wiener hygienischen Verhältnissen war eine Infektion mit Abdominaltyphus leicht möglich; sie überforderte die Abwehrkräfte des untrainierten, fehlernährten, korpulenten, infolge der chronischen Infektion immuninkompetenten Mannes. Fatal war die aus heutiger Sicht absurde Therapie (Phlebotomie "Broussaismus").


Schlußwort
Der tiefreligiöse Pazifist Schubert hatte die Courage, seine Verachtung für Metternichs Polizeistaat und die damit kollaborierende katholische Kirche offen zu zeigen. Das hat ihm Verhaftung, Bespitzelung, berufliche Chancenlosigkeit eingetragen und, über seinen frühen Tod hinaus, bis heute, perfide Verkitschung zum weinseligen Liedermacher. Nicht zur Perpetuierung dieser Tragik beizutragen, sollte die redliche Absicht sein, sondern die Ehre wiederzugeben dem wahren Franz Schubert.


Literatur beim Verfasser
Dr. med. Timm Ludwig
Hamburgisches Krankenhaus Bevensen
29549 Bad Bevensen

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