

Irren ist menschlich. Das erfahren wir immer wieder. Wenn die Zahlungsaufforderung ins Haus flattert und belegt, dass die Radarfalle doch scharf gestellt war. Wenn bei der Reparatur der Steckdose einem blitzartig klarwird, dass der Schaltkreis doch unter Spannung steht. Wenn das verschwundene Auto nahelegt, dass der letzte freie Parkplatz doch eine Feuerwehrausfahrt war. Oder dass es in der Gesundheitsversorgung an nichts fehlt. Das müssen unsere Patienten denken, wenn sie immer und immer wieder hören, dass jederzeit und überall medizinische Leistungen auf höchstem Niveau vorgehalten werden, Ärzte alles verschreiben können, was es gibt, fürsorgliche Mediziner sich an den Krankenbetten drängeln, kurz: Sorgt euch nicht, die medizinische Versorgung ist sicher! In Deutschland bekommt jeder, was er braucht! Dass dies nicht ganz richtig sein kann und offenbar ein Irrtum ist, erleben unsere Patienten täglich am eigenen Leib. Um dies wissenschaftlich zu belegen, habe ich anhand einer kleinen, weder randomisierten noch doppelblinden Studie durchleuchtet, wie es tatsächlich um die Gesundheitsversorgung bestellt ist.
In meiner näheren Umgebung wartet ein GKV-Versicherter 2,6 Monate auf einen Termin beim Facharzt (n = 8, sechs verschiedene Fachgebiete, p-Werte lassen wir mal weg, danke), es sei denn, es liegt ein Notfall vor. In kleineren Krankenhäusern nehmen Ober- und Chefärzte am Vordergrunddienst teil, weil es keine Assistenzärzte mehr gibt (n = 3, Kurkliniken nicht enthalten). Die meisten Kollegen leiden stark unter dem Budgetzwang, können längst nicht mehr das verschreiben, was sie für optimal halten. Sie empfinden dies als eine Form der Rationierung, die man nicht zu verantworten, wohl aber umzusetzen habe (n = 17, alle Fachrichtungen).
Die Daten aus dieser Studie sprechen ein klares Wort: Eine signifikante Korrelation zwischen den öffentlichen Verlautbarungen und der Realität vor Ort ist für keine der genannten Parameter nachweisbar. Daher sind weitere Fragen zu klären: Warum verkünden die Verantwortlichen das Paradies, wenn unsere Patienten nur Dürre vorfinden? Warum wird Überfluss versprochen, wenn in Wirklichkeit streng rationiert wird? Und warum sind wir diejenigen, die gesundheitspolitische Restriktionen dem Patienten beibringen müssen? Warum müssen wir sogar die Realität rationieren? Der Grund hierfür lautet: Wir Ärzte müssen für den geschilderten Versorgungsspagat geradestehen, weil andere meinen, dass wir dafür die optimale Ausbildung erworben haben. Welche Berufsgruppe ist denn jahrelang darin geübt, den leidenden Menschen bittere Pillen zu verschreiben? Wer beherrscht die Kunst, einen Aderlass als gesundheitsfördernde Maßnahme durchzuführen? Kein Wunder, dass die Verantwortlichen im Gesundheitswesen sich sagen: Wir sind weder in der Lage noch willens, den Menschen die Misere klarzumachen. Lassen wir es also von den Medizinern richten, den Profis, die einschneidende Maßnahmen bestens beherrschen!
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, ich glaube, dass ich für viele von uns spreche: Das ist ein fundamentaler Irrtum! Wir stellen die Heilkunst in den Dienst unserer Patienten und nicht in den Dienst eines siechen Gesundheitssystems! Anders ausgedrückt: Wir haben keine Lust mehr, für die mentalen Kurzschlüsse anderer immer in die Steckdose greifen zu müssen.
Dr. med. Thomas Böhmeke
ist niedergelassener Kardiologe in Gladbeck.