ArchivDeutsches Ärzteblatt18/2011Patientenverfügungen: Angst trifft auf Angst

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Patientenverfügungen: Angst trifft auf Angst

Schlitt, Reinhold

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Kranke wie Ärzte tun sich nach wie vor schwer mit der Umsetzung von Patientenverfügungen – auch, weil viele Probleme nicht juristischer, sondern organisatorischer oder kommunikativer Natur sind.

Wenn man den Leiter der Palliativstation im Helios-Klinikum Berlin-Buch, Dr. med. Matthias Gockel, nach seinen Erfahrungen mit dem jüngsten Betreuungsrechtsänderungsgesetz fragt, fällt seine Bilanz eher gemischt aus: „Ich habe keine Veränderung in der Praxis mit Patientenverfügungen wahrgenommen.“ Viele sind aus seiner Sicht für die jeweilige Entscheidungssituation nicht relevant oder mit Formulierungen wie „nicht an Schläuche und Apparate hängen“ passiv abgefasst. Auch Formularverfügungen kann Gockel nichts abgewinnen: „Sie sagen nichts über das Warum einer konkreten Entscheidung aus.“ Gockel, seit etwa zehn Jahren palliativmedizinisch tätig, berichtete im Rahmen eines Symposiums, dass er sich selbst bislang nur auf eine einzige Patientenverfügung habe beziehen können.

Zwischen Wille und Wohl

Dabei hat die neue gesetzliche Vorschrift nach Ansicht des Palliativmediziners durchaus mehr Rechtssicherheit gebracht. Doch die eigentlichen Probleme im Umgang mit dem Patientenwillen sind für Gockel nicht juristischer, sondern organisatorischer, psychischer und kommunikativer Natur: „Angst trifft auf Angst. Ein Arzt hat durchaus Angst davor, einem Patienten sagen zu müssen, dass er ihn nicht mehr heilen kann.“ Die Angst könne schon darin bestehen, nicht zu wissen, was einen als Arzt in einem solchen Patientengespräch erwartet und wie lange dieses dauert.

Für Rechtsanwalt Oliver Tolmein stellt sich generell die Frage, woher der Arzt weiß, was der Patient will: „Der Arzt muss nach Feststellung der medizinischen Indikation und der möglichen Behandlungsmaßnahmen auch an der Ermittlung des Patientenwillens mitwirken: Machen wir das, was medizinisch indiziert ist, oder machen wir das nicht? Im Zweifelsfall ist er darauf angewiesen, was ihm die Angehörigen oder ein Betreuer sagen. Entweder kann er sich eine eigene Meinung bilden oder er ist der Beurteiler einer solchen Äußerung.“

Verglichen mit dem früheren Betreuungsgesetz, hat es nach den Ausführungen Tolmeins mit dem neuen Gesetz eine Verschiebung gegeben. Früher habe sich der Betreuer eher bemüht, dem Wohl des Patienten gemäß zu entscheiden, möglicherweise in der Annahme, dass der Tod seinem Wohl nicht entspreche. Heute aber sei der tatsächliche oder mutmaßliche Wille das absolute Leitbild. „Der Wille ist auch dann zu berücksichtigen, wenn er ausdrücklich nicht dem Wohl des Patienten entspricht“, behauptet der Jurist.

Regelungslücken sieht er unter anderem beim Widerruf einer einmal getroffenen Entscheidung: „Wie widerrufe ich als Wachkomapatient oder als Mensch, der sich aktuell in einer psychischen Extremsituation befindet?“ Ein Problem ist es für Tolmein auch, dass es keine Regelung für Kinder und Jugendliche gibt. Schließlich seien auch sie unter Umständen einwilligungsfähig. Dem Gesetz nach können aber nur Volljährige eine Patientenverfügung hinterlegen.

Fürsorge vor Verbindlichkeit

Die christlichen Religionsgemeinschaften haben sich nach Angaben von Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl, Präsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, von Anfang an für klare rechtliche Regelungen zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen starkgemacht. Dahinter steht nach seinen Worten die Überzeugung, dass Menschen, die eine solche Verfügung abfassen, sich stärker mit Sterben und Tod auseinandersetzen. Deshalb sehen die Kirchen in Patientenverfügungen durchaus ein geeignetes Instrument der Entscheidungshilfe für Ärzte, Pfleger, Angehörige oder Betreuer.

Lob-Hüdepohl mahnte allerdings die Verantwortlichen in christlichen Krankenhäusern und Altenheimen, die Patientenautonomie ernst zu nehmen und sich nicht hinter einem christlichen Fürsorgeauftrag zu verstecken, der gelegentlich in Opposition zum Patientenwillen gebracht werde. „Ich stelle nicht die Lauterkeit eines solchen Motivs infrage. Aber wer sich darauf stützt, kann sich nicht dezidiert auf ein christliches oder theologisches Argument berufen“, betonte der Theologe.

Es gebe zudem kein spezifisch christliches Beratungskonzept für solche Entscheidungen. Wohl aber stellen die Kirchen nach Aussagen Lob-Hüdepohls die Frage nach der Reichweite einer Patientenverfügung. Eine Bindungswirkung solcher Verfügungen kann es aus ihrer Sicht dann nicht geben, „wenn Ärzte oder Pfleger beim Suizid assistieren sollen“. Die Kirchen akzeptierten lediglich eine Hilfe im Sterben, „also dann, wenn der Sterbeprozess irreversibel eingesetzt hat“.

Reinhold Schlitt

WENIG WIRKUNG VOR ORT

Im September 2009 ist das 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz in Kraft getreten. Es regelt den Umgang mit dem mutmaßlichen oder tatsächlichen Behandlungswillen eines einwilligungsunfähigen Patienten und hat Einfluss auf Patientenverfügungen.

Die neue Vorschrift sollte mehr Rechtssicherheit bringen. Doch Juristen sehen Regelungslücken. Ärzte wiederum meinen, dass sich dadurch in der Praxis nichts verändert hat; höchstens zehn Prozent aller Patientenverfügungen seien überhaupt valide formuliert. Das war bei einem Symposium zum Thema zu vernehmen, welches die Katholische Akademie Berlin Ende März veranstaltete.

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