ArchivDeutsches Ärzteblatt19/2011Stadtporträt: Kiel im Aufwind

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Stadtporträt: Kiel im Aufwind

Jachertz, Norbert

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Die Stadt an der Förde hat ihren Strukturwandel gut verarbeitet. Der 114. Deutsche Ärztetag tritt Ende Mai in einer jungen, maritim geprägten mittleren Großstadt zusammen.

Foto: Fotolia
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Das Schönste an Kiel ist immer noch die Förde. Und die schönste Promenade führt entlang dem Westufer und heißt zunächst Kiellinie, dann Hindenburgufer. Beginnen wir mit einer Fördepromenade. Linker Hand eine Abfolge prominenter Bauten im sanfthügeligen Gelände, hinter uns die Innenstadt, die wir später besuchen, rechts das Wasser. Start bei der Seeburg, unweit des Ostseekais, wo die Kreuzfahrtschiffe anlegen. Endend in Wik, am Tirpitzhafen der Bundesmarine mit ihren grauen gepanzerten Schiffen und dem einen Windjammer, der Gorch Fock, wenn sie denn mal in Kiel liegt. Seit dem 6. Mai ist es wieder so weit.

Die Seeburg beherbergt neben einem Restaurant mit Fördeblick die Mensa der Mediziner. Denn landeinwärts liegt das Areal des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Kiel. Der zweite Campus befindet sich in Lübeck. Die beiden Standorte zusammen ergeben das größte Uniklinikum Deutschlands.

Sommersemester bevorzugt

An der Kiellinie folgen der Akademische Ruderverein und der Akademische Seglerverein, die den legendären Ruf unter Studierenden begründeten, Kiel sei was für die Sommersemester. Doch heute wird in Kiel das ganze Jahr über studiert. Die Medizin hat einen guten Ruf. Kiel entwickelt sich auch sonst zu einem Forschungs- und Technologiestandort, alte Rüstungsbetriebe, die ihre Funktion verloren hatten, leisten da gute Dienste.

An der Kiellinie treffen wir auf das Institut für Meereswissenschaften Geomar – eines seiner Forschungsschiffe, die Littorina, liegt gerade vor Anker – und das Weltwirtschaftinstitut. Beide sind „An“-Institute der Universität und weltbekannt. Die Uni selbst zog nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in eine ehemalige Rüstungsfabrik am nordöstlichen Stadtrand. Sie expandiert seitdem ständig und zählt inzwischen 22 000 Studierende. Nimmt man die Fachhochschulen hinzu, dann studieren in Kiel insgesamt circa 30 000 junge Leute. Und das bei 358 000 Einwohnern. Die Einwohnerzahl lag mal bei 370 000, steigt aber wieder.

Eindrucksvoll und Fernweh weckend: Jeden Vormittag liegen Oslo- und Göteborgfähre für einige Stunden gleichzeitig an ihren Terminals. Foto: Kiel-Marketing
Eindrucksvoll und Fernweh weckend: Jeden Vormittag liegen Oslo- und Göteborgfähre für einige Stunden gleichzeitig an ihren Terminals. Foto: Kiel-Marketing

Der Trend könnte anhalten, denn Kiel liegt wegen des Zuzugs der Jungen, die auch nach Studium oder Ausbildung hier einen Arbeitsplatz finden, im Aufwind. Die Stadtverwaltung gibt sich jedenfalls optimistisch und wirbt weiter mit der Lebensqualität der Stadt. In den Vierteln rund um die Holtenauer Straße, zwischen Uni und Klinikum, und rund um den Blücherplatz mit den prächtigen Wohnhäusern aus der Jahrhundertwende treffen Studenten auf aufstrebende Akademiker und Jungfamilien. Das erinnert an den Prenzlauer Berg, Sachsenhausen oder das Belgische Viertel in Köln. Na ja, auf die zurückhaltende norddeutsche Art.

An der Kiellinie liegen auch Landtag und Ministerien, Kiel ist ja Landeshauptstadt, kasernenartige Bauten aus rotem Ziegel und weißen Fensterrahmen, mit Glas und Kunst aufgefrischt. Natürlich befindet sich auch der KYC an der Promenade, der Kieler (vormals Kaiserliche) Yacht-Club, Hort der besseren und konservativen Kreise, zu Kaiser Wilhelms Zeiten auch des Offizierscorps. Hier liegt auch das Revier der Segler-Olympiade von 1936, die von 1972 fand weit draußen in Schilksee an der Kieler Bucht statt.

Eine stolze Werftentradition

Der Kiellinie gegenüber, auf der Ostseite der Förde, ragen die hohen blauen Portalkräne von HDW in den Himmel, Wahrzeichen des anderen Kiel, das der Arbeiter, der Schiffbau- und Rüstungsindustrie. Die Ostseite macht seit Jahrzehnten einen Strukturwandel durch. HDW steht für Howaldtwerke-Deutsche Werft, gehört nach vier Eigentümerwechseln zu Thyssen-Krupp und knüpft an eine stolze Werftentradition an. In den 60er Jahren beschäftigte „Howaldt“ 12 000 Arbeiter, heute 2 500.

Die Ostseite zwischen HDW und dem Ende der Förde beim Hauptbahnhof wird als Sanierungsgebiet gefördert. Mit einigem Erfolg, augenfällig vor allem am Norwegenkai. Der hat mit landläufigen Vorstellungen eines „Kais“ nichts mehr zu tun, handelt es sich doch um ein gläsernes Hochhaus. Hier legen die 15-Deck-hohen Oslofähren an. In deren Abfertigungsgebäude steigt am 2. Juni der maritime Gesellschaftsabend des 114. Deutschen Ärztetages. Das Fährschiff ist dann zwar schon seit sechs Stunden auf See. Beim Tanz kann man sich aber schon mal mit dem Terminal vertraut machen und vielleicht zu einer Seefahrt verlocken lassen. Die könnte auch nach Göteborg führen, ab Schwedenkai, der gegenüber am Westufer liegt. Dessen Terminal fällt durch seine Form auf: ein zwölfgeschossiges Parallelogramm. Jeden Vormittag liegen Oslo- wie Göteborgfähre für einige Stunden gleichzeitig an ihren Terminals. Eindrucksvoll und Fernweh weckend. Den besten Blick hat man von der kleinen Fähre, die die Anleger an der Förde bedient und in Laboe bei dem bekannten Marineehrenmal endet. Das kleine Schiff wieselt zwischen den großen hindurch, begegnet Seglern, den Fähren ins Baltikum und Containerschiffen, die aus dem Nord-Ostsee-Kanal geschleust werden. Wer nicht so weit raus will, geht zur Klappbrücke, die bei der Kaisertreppe des Hauptbahnhofs über die Förde führt. Kaisertreppe deshalb, weil Kaiser Wilhelm II. über sie zu seiner Yacht Germania gelangte und auf Nordlandfahrt ging.

Kaiser und Tirpitz, Blücher und Hindenburg – die Namen deuten auf die bedeutende wie auch verhängnisvolle jüngere Geschichte Kiels hin. 1865 kam Kiel, das zuvor dänisch war, zu Preußen, das seine Kriegsflotte sogleich von Danzig nach Kiel verlegte. Nach der Reichsgründung 1871 wurde Kiel zum „Reichskriegshafen“ befördert. Die Funktion blieb bis 1945. Auch heute spielt die Bundesmarine, die neben jenen grauen Schiffen im Tirpitzhafen ein Marinefliegergeschwader unterhält, in Kiel eine beachtliche Rolle. Die Marine bescherte der Stadt nach 1871 einen gewaltigen Aufschwung und 1918, mehr noch nach 1945 gewaltige Krisen. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg rächte sich die auf die Kriegsmarine und die marinenahe Rüstung ausgerichtete Monostruktur. Hinzu kam die Bombardierungen. Die Kernstadt wurde zu 90 Prozent zerstört. Der Neubeginn dauerte, der Strukturwandel hält bis heute an.

Eröffnung im Schlossgarten

Im Stadtbild spiegelt sich die Geschichte wider. Kiel erhielt zwar schon 1242 Stadtrecht, doch Zeugnisse aus dem Mittelalter entdeckt der Besucher nur mit einem Reiseführer, der auch kleinste Relikte aufspürt. Was die Bomben nicht erledigten, besorgte der schnelle Wiederaufbau der 50er und 60er. Zu sehen oder besser nicht mehr zu sehen etwa am Kieler Schloss: Vom alten Schloss blieb kaum etwas übrig.

Mit dem Neubau von 1960 wissen die Stadtväter (oder das Land?) sichtlich nichts Rechtes anzufangen. Immerhin wird hier jetzt der Deutsche Ärztetag eröffnet, und die Gäste können sich an der Lage oberhalb der Förde und am prächtigen Schlossgarten erfreuen. Im Schloss fand 1974 ein gesundheitspolitischer Kongress der CDU statt. Prof. Dr. med. Fritz Beske, damals als Staatssekretär im Sozialministerium, hatte ihn mit einer Handvoll fähiger junger Leute organisiert. Die Parteioberen haben Vergleichbares seitdem nicht mehr auf die Beine gestellt. Beske wird beim 114. Deutschen Ärztetag Alterspräsident sein, die jungen Leute von einst leben im Ruhestand.

Der Marinezeit nach 1871 hat Kiel die großzügige Stadtplanung (kleinräumig ist nur noch die vormalige Altstadt) und eine Reihe eindrucksvoller gründerzeitlicher Bauten zu verdanken. Hervorgehoben sei das Rathaus im Jugendstil mit seinem venezianischen Turm und die Oper (mit elegantem Interieur aus den 50ern). Sie umfassen einen weiten Platz, der sich zu einem See, dem Kleinen Kiel, öffnet – ein hervorragendes städtebauliches Ensemble.

Die erste Fußgängerzone

Architektonisch eher langweilig wirkt die Holstenstraße, und doch gilt sie städtebaulich als Pionierleistung, denn 1955 wurde sie zur ersten Fußgängerzone Deutschlands. Seitdem fungiert sie als die Kieler Einkaufsmeile. Auf halbem Weg öffnet die Holstenstraße sich zum Europaplatz, der nicht plan wie sonst ein Platz daliegt, sondern in hohen Wellen gepflastert ist. An seinem Ende thront die Ostseehalle. Sie entstand aus einem Flugzeughangar. Der aber ist hinter einer modernen Fassade gut verborgen und im Inneren zu einer perfekten Veranstaltungshalle umgebaut. Die Ostseehalle heißt leider nicht mehr so, sondern zeitgemäß und unübersehbar nach dem Sponsor „Sparkassen-Arena“. Der 114. Deutsche Ärztetag, dessen Arbeitssitzungen hier stattfinden, tagt somit in der Sparkasse.

Norbert Jachertz

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