ArchivDeutsches Ärzteblatt3/1998Multiple Chemical Sensitivity: Schädigung durch Chemikalien oder Nozeboeffekt

MEDIZIN: Zur Fortbildung

Multiple Chemical Sensitivity: Schädigung durch Chemikalien oder Nozeboeffekt

Birbaumer, Niels; Bock, Karl Walter

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS Stichwörter: Multiple Chemical Sensitivity, Nozeboeffekt, klassische Konditionierung, toxikologische Abklärung
Ärzte werden gelegentlich mit Patienten konfrontiert, die an Symptomen der sogenannten Multiple Chemical Sensitivity (MCS) leiden. Diese Patienten klagen über die Exposition durch Chemikalien, welche in den nachgewiesenen Konzentrationen normalerweise keine negativen Effekte hervorrufen. Die toxikologische Analyse der Körperflüssigkeiten ergibt Meßwerte, die weit unter denen liegen, die normalerweise solche Symptome auslösen. In Analogie zu dem bekannten Plazeboeffekt wird dieses Phänomen Nozeboeffekt oder negativer Plazeboeffekt genannt. Experimentalpsychologische Studien zeigten, daß starke Erwartungshaltungen, die mit Beeinflußbarkeit und Angst gekoppelt sind, die Basis des Nozeboeffektes darstellen. Neben dem positiven und negativen Verstärkungseffekt der Nozeboreaktion durch das soziale Umfeld diskutieren die Autoren die Mechanismen der klassischen Konditionierung durch Geruchs- und Geschmackswahrnehmung. In der Therapie sollte das Verhalten, das zur MCS führt und die entsprechenden physiologischen, psychologischen und motorischen Reaktionen berücksichtigt werden. Behandlungsstrategien können die Konfrontation mit der vermeintlichen Noxe und entsprechende Aufklärung des sozialen Umfeldes umfassen.
Key words: multiple chemical sensitivity, nocebo effect, classical conditioning, toxicological evaluations
Occasionally, we are confronted with multiple chemical sensitivity (MCS) patients, who complain of symptoms from exposure to chemicals in concentrations which do not cause harmful effects in the general population. The chemical analysis of body fluids reveals concentrations far below levels likely to be responsible for the symptoms. By analogy with the well known placebo effect the subjective impression of harm is termed the nocebo effect or negative placebo effect. Experimental psychology reveals that strong expectations based on suggestibility and anxiety are the basis of the nocebo effect. The authors discuss the effects of positive and negative reinforcement for the nocebo reaction through the social environment as well as the paradigm of classical conditioning of odour and taste sensations. Therapeutic considerations should include behavioural analysis of the stimuli leading to MCS and the respective physiological, psychological and motor responses. The effects of reinforcement should also be considered. Treatment strategies may include extensive confrontation with the potential noxious stimulus and encouraging the social environment to respond appropriately.


Umweltmediziner und Toxikologen diskutieren über ein Krankheitsbild, das als "MCS" (multiple Chemikaliensensitivität), "Umweltkrankheit" oder "Krankheit des 20. Jahrhunderts" bezeichnet wurde (1, 3, 8, 10). MCS-Patienten konnten in ihrer Persönlichkeitsstruktur nicht von Personen unterschieden werden, die an chronic fatigue syndrome leiden (3). Das MCS-Krankheitsbild ähnelt demjenigen, das im 19. Jahrhundert als Neurasthenie beschrieben wurde. MCS ist eine Ausschlußdiagnose; es müssen beispielsweise toxische oder immunologische Ätiologien und psychiatrische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Die MCS zeigt starke Überlappung, ist aber nicht identisch mit dem "sick-building-Syndrom". Unter letzterem Syndrom werden multiple Krankheitsbilder zusammengefaßt, die unter anderem durch Bestandteile der Innenraumluft hervorgerufen werden, beispielsweise Asthmaanfälle durch Allergien gegen Milbenkot. In vielen Fällen ist aber auch eine psychische Ätiologie wahrscheinlich. Es soll ausdrücklich betont werden, daß die Definition der MCS, ihre Überlappung und Abgrenzung von anderen diskutierten Krankheitsbildern nicht die Intention des vorliegenden Beitrags ist. Das Verständnis der MCS ist für die toxikologische Risikobewertung von Chemikalienwirkungen im Niedrigdosisbereich und für den Arzt in Bezug auf differenzialdiagnostische Überlegungen und therapeutische Konsequenzen wichtig.
Diagnose und Ätiologie
In den USA wurde von "Klinischen Ökologen" über das MCS-Syndrom berichtet. Hervorzuheben ist, daß MCS nur in reichen Industrieländern beschrieben wird. Es wurde meistens bei Einzelpersonen beobachtet, die in Innenräumen toxikologisch unbedenklichen Konzentrationen von Insektiziden (beispielsweise Pyrethroiden) ausgesetzt waren (1), bei Anwohnern von Feldern, auf denen Biozide versprüht wurden (7) und bei Anwohnern von Mülldeponien oder Müllverbrennungsanlagen. Häufig sind olfaktorische Reize die Auslösemechanismen, die die Nähe einer vermuteten Gefahrenquelle übermitteln.
Für die Diagnose von MCS wurden folgende Voraussetzungen angegeben:
! dokumentierte chemische Exposition,
! multiple Symptome in mehr als einem Organsystem,
! Rezidiv und Exazerbation bei Exposition gegenüber Chemikalien verschiedenster Struktur und verschiedenster Wirkmechanismen,
! normaler körperlicher Befund am Beginn der Erkrankung,
! Symptome bei niedrigsten Expositionen, bei denen die Allgemeinbevölkerung keine Reaktion zeigt
Die Ätiologie des Krankheitsbildes wird kontrovers diskutiert (10). Eine neuronale "Chemiehypothese" geht davon aus, daß über olfaktorische Reize ein Reizzustand im hypothalamisch-limbischen System erzeugt wird. Die zugrunde liegende Überempfindlichkeit könnte durch verschiedene Ursachen wie psychosozialen Streß hervorgerufen werden. Es wurde auch eine Störung des Immunsystems diskutiert. Dabei ist anzumerken, daß bisher primär keine Veränderungen immunologischer Parameter bei MCS-Patienten beobachtet wurden (8). Andere Autoren beobachteten, daß unter MCS auch klinische Fehldiagnosen subsummiert werden, das heißt, daß es sich zum Teil um Frühformen psychiatrischer Erkrankungen handelt. Weiterhin wird auch ein Glaubenssystem (belief system) als Ursache diskutiert, das von Ärzten, Medien oder anderen Institutionen etabliert wurde.
Das Krankheitsbild könnte von dem festen Glauben der Patienten ausgehen, vergiftet zu sein. Die Bedeutung des Glaubens bei Arzneimittelwirkungen ist dem Pharmakologen und Psychologen schon lange als "Plazeboeffekt" bekannt. Der Bedeutung psychologischer Einflüsse wird in der klinisch-pharmakologischen Prüfung durch den Doppelblindversuch Rechnung getragen. In Analogie zur Plazebowirkung könnte man die auf dem Glauben beruhende Vergiftung als "Nozeboeffekt" bezeichnen (5).
Da bei der MCS im oben beschriebenen Sinne toxikologisch und immunologisch keine Befunde zu erheben sind, hoffen Toxikologen, daß der medizinische Psychologe weiterhelfen kann; konkret: Gibt es eine definierbare Bevölkerungsgruppe, die auf Chemikalien mit der Auslösung von MCS-Symptomen reagiert?
Plazebo- und
Nozeboeffekt
Analog zur Forschung über den Plazeboeffekt kann man davon ausgehen, daß dem Nozeboeffekt starke kognitive Erwartungshaltungen zugrunde liegen, die zu Änderungen im Verhalten, Denken von emotionalen Reaktionen und vor allem auch zu realen endokrinen Effekten und Änderungen des autonomen Nervensystems führen. Für den Plazeboeffekt konnte man zeigen, daß erhöhte Suggestibilität und Angst - entweder konstitutionell bedingt oder ausgelöst durch externe Faktoren - zu einer Verstärkung der Glaubens- und Erwartungshaltung führen. Entsprechend würde man beim Nozeboeffekt davon ausgehen, daß besonders suggestive und ängstliche Personen und jene, die unter psychischer Belastung stehen, eher zu Nozeboreaktionen neigen. Der zweite psychologische Faktor, der bei Plazebo- und Nozeboreaktionen eine entscheidende Rolle spielt, ist die positive oder negative Verstärkung der Nozeboreaktionen durch die Umwelt, vor allem durch Familie, Freunde, Ärzte und andere Personenkreise. Nozeboreaktionen - sowohl auf Verhaltensebene wie auch auf endokriner Ebene - können durch unmittelbare Zuwendung für die Äußerungen dieser Reaktionen aufrecht erhalten und dauerhaft verstärkt werden. Eine ähnliche Situation wurde auch für chronische Schmerzzustände gefunden (4). Das Nozeboverhalten wird weiterhin durch die Vermeidung unerwünschter oder unangenehmer Tätigkeiten und die Aufnahme von Schonverhalten (Krankheitsverhalten und Krankschreibungen) aufrecht erhalten. Diese als instrumentelle Lern- oder Konditionierungsfaktoren bezeichneten Einflüsse stellen vermutlich den wesentlichen Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Nozebofaktoren dar. Methoden zu ihrer Diagnose und Behandlung wurden im Rahmen der Verhaltenstherapie von chronischen Schmerzen und anderen pathophysiologischen und pathopsychologischen Reaktionen entwickelt (4).
Ein dritter Faktor, der ebenfalls im Rahmen von Verhaltensanalyse, Befragungen und psychophysiologischen Messungen objektiviert werden müßte, stellt die klassische Geruchs- und Geschmackskonditionierung dar. Es konnte in einer Vielzahl von Studien gezeigt werden (2), daß klassisches Pawlowsches Konditionieren vor allem bei Geruchs- und Geschmacksreizen zu dauerhaften konditionierten Reaktionen (zum Beispiel Geschmacks- und Geruchsaversionen) führen kann, die auch ohne Bestehen eines objektiven Geruchs- oder Geschmacksreizes über Monate bis Jahre aufrecht erhalten werden können. Geschmacksvorlieben und Geruchsvorlieben sind ein gutes Beispiel dafür. Auch die Konditionierung immunologischer Reaktionen (9) kann erklären, warum gelernte immunologische Reaktionen als Folge starker Glaubenshaltungen auftreten. Es genügt die einmalige zeitliche Paarung eines völlig neutralen Reizes (zum Beispiel der Anblick einer Wiese oder einer Speise) mit einem zufällig auftretenden scharfen Geruch oder Geschmack, der von einer umstehenden Person auf einen toxischen Einfluß zurückgeführt wird, um über Monate und manchmal auch lebenslang anhaltende Aversionen auf den Anblick dieser völlig neutralen Objekte zu konditionieren. Auch für solche Geruchs- und Geschmackskonditionierungen liegen Behandlungsverfahren aus dem verhaltenstherapeutischen Bereich vor, die erlauben, diese wieder zu beseitigen, wenngleich erheblicher Aufwand dafür notwendig ist.
Toxikologische Abklärung erforderlich
Der Toxikologe denkt in Dosis-Wirkungsbeziehungen. Da sich die stoffliche Grundlage bei MCS - wenn überhaupt vorhanden - unter Umständen auf wenige Odorantien-Moleküle als Signalvermittler reduzieren läßt, ist kein Vergleich mit einer toxikologischen Dosis-Wirkungsbeziehung möglich. Aus der Darstellung des Psychologen ergibt sich, daß MCS "ansteckend" sein kann, das heißt, daß die Zahl der Betroffenen durch zwar gutgemeintes aber falsches Verhalten von Ärzten, Angehörigen und Wissenschaftlern zunehmen kann. Wie können Fehler vermieden werden?
Die häufig beobachtete psychologische Ätiologie der MCS enthebt den Umweltmediziner und den Toxikologen nicht der Pflicht zu prüfen, ob beim Patienten eine toxische Schädigung für die beklagten organischen Beschwerden vorliegt. Ebenso muß ein Allergologe eine immunologische Ursache ausschließen. Wenn eine psychologische oder psychiatrische Ursache wahrscheinlich ist, ergibt sich die Frage, welche Laborbefunde für die Diagnose nützlich sind. Blutanalysen ubiquitärer Umweltschadstoffe werden oft nur Meßwerte im toxikologisch irrelevanten Bereich erbringen. Dieser Befund kann einerseits einen Patienten von der Unbegründetheit der Assoziation seiner Beschwerden mit der Chemikalie überzeugen. Bei anderen Patienten kann er jedoch die psychosomatische Fixierung verstärken, da ein Schadstoff nachgewiesen wurde und dessen Unwirksamkeit in der gemessenen Konzentration vom Patienten in Zweifel gezogen wird. Diese negative Wirkung auf den Patienten sollte Konsequenzen für das Verhalten von Toxikologen haben.
Der Toxikologe ist aufgerufen, wissenschaftlich gesicherte und klare Aussagen über den Dosisbereich toxischer Wirkungsschwellen zu machen. Für den Bereich der Arbeitsmedizin werden solche Aussagen bei der Begründung der MAK-Werte (Maximale Arbeitsplatz-Konzentrationen) und in der Umwelttoxikologie durch die Begründung von MIK-Werten (Maximale Immissionskonzentrationen) gemacht. Die Aussagen sollten Verweise auf Gruppen mit Idiosynkrasien enthalten, also auf genetisch determinierte Überempfindlichkeiten aufgrund von Polymorphismen in der Bevölkerung. Mit diesen Aussagen kann möglicherweise eine klassisch toxische Wirkung ausgeschlossen werden.
Nach der weltweiten Erfahrung von Ärzten in Umweltpraxen sind bei der Mehrzahl der MCS-Patienten psychologische und psychiatrische Ursachen vorherrschend (8, 10). Die Übertragung psychischer Probleme auf Umweltchemikalien ist keine Eigenheit des 20. Jahrhunderts. Das Problem wird wahrscheinlich im 21. Jahrhundert fortbestehen. Solange jedoch die Übertragung auf Chemikalien erfolgt, ist die MCS auch ein Problem der Toxikologie. Differentialdiagnostische Überlegungen im Zusammenhang mit MCS sind therapeutisch von großer Bedeutung. Die häufige therapeutische Empfehlung einer konsequenten Vermeidungsstrategie von Umweltschadstoffen wird dem Patienten auf Dauer nicht helfen und oft zur sozialen Isolation oder Verstärkung des Syndroms führen. Der Arzt wird den Glauben des Patienten ernst nehmen und zunächst versuchen, nach toxischen und allergischen Ursachen zu fahnden. In den Fällen, bei denen psychologische oder psychiatrische Ätiologien wahrscheinlich sind (und diese sollten immer nach Ausschluß toxischer und primär immunologischer Ursachen angenommen werden), möchte ich die Frage nach den therapeutischen Implikationen an den Psychologen weitergeben.
Verhaltensanalyse
Es sollen Auslösereize und -situationen, physiologische, psychische und motorische Reaktionen im Rahmen des MCS und verstärkende Konsequenzen erfragt, beobachtet und gemessen werden. Dabei sollen folgende Punkte in Betracht gezogen werden:
! familiäre Belastung mit ähnlichen Problemen, akute und überdauernde berufliche, ökonomische, familiäre und physische Belastungen, Vorhandensein von Bewältigungsmöglichkeiten und -ressourcen sowie soziale Stützung und soziales Umfeld (Isolation?). Anzahl von Geruchs- und Geschmackskonditionierungen während der Entwicklung und im Erwachsenenalter; Anzahl und Ursache von Arztbesuchen in Kindheit und Jugend; Wissensstand über Toxikologie und Physiologie.
! überdauernde Reaktionsdispositionen (nur mit Testinstrumenten meßbar): Ängstlichkeit, Suggestibilität, Depressivität und antisoziale Persönlichkeit (Soziopathie) sowie eine Biographie mit paranoiden Verhaltensweisen und chronischen Schmerzen stellen ein Risiko dar. Ferner sollten soziale Fertigkeiten und Selbstbehauptung geprüft werden.
Akutreaktionen wie der endokrine "Streßstatus" sollten in Gegenwart der vermeintlich auslösenden Noxen untersucht werden. Zu den Parametern gehören Cortisolniveau, Blutdruck und Muskelanspannung sowie andere Angstindikatoren. Darüber hinaus sollte geklärt werden, ob eine verstärkende Wirkung durch Familienangehörige vorliegt oder der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört ist. Ursachenzuschreibung, Erwartungen der vermeintlichen Noxe gegenüber sollten immer in bezug auf familiäre und berufliche Lebensplanung erfragt werden. Ferner sollten die Erwartungen, die an die Beseitigung der Noxe gestellt werden und Hoffnung in bezug auf Therapeuten, Toxikologen und Politiker abgeklärt werden. Es sollte auch zu geglückten und mißglückten Vermeidungs- und Behandlungsversuchen sowie zu Konsequenzen für Patienten, Angehörige und Freunde befragt werden.
! Es sollte die Zuwendung durch Familienangehörige beobachtet werden, die Anzahl von erfolgreichen und erfolglosen Arzt- und Expertenbesuchen sowie ein möglicher sekundärer Krankheitsgewinn (beispielsweise Berentung, Behinderung), Vermeidungs- und Bewältigungsstrategien auf die Noxe und die mögliche Zugehörigkeit zu einer sozialen oder politischen Gruppe, die MCS positiv verstärkt und beachtet. Das Vorhandensein von Schonverhalten sowie die Wirkung und Häufigkeit von Medikamenteneinnahme oder anderen Therapien sind zu berücksichtigen.
Verhaltensmodifikation von MCS
Nach der Verhaltensanalyse, die nicht mehr als zwei Sitzungen umfassen und nach Möglichkeit von klinischen Psychologen, Umweltmedizinern und Toxikologen gemeinsam durchgeführt werden sollte, erfolgt die Entwicklung einer Strategie zur Modifikation von MCS entsprechend den gefundenen Ursachen. Dazu kommen eine Vielzahl von Techniken zum Einsatz, die im Rahmen der Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin entwickelt wurden (6). Zu diesen Techniken gehören: Häufige und anhaltende Konfrontation mit und Desensibiliserung von vermeintlichen Noxen ohne Vermeidungs- und Fluchtmöglichkeit (Verhaltensmanagement), Abschließen von Behandlungsverträgen über das Absetzen von Medikamenten, Reduktion von Arztbesuchen, Aussetzen von Experten- und Literaturberatungen und die Beseitigung beruflicher und sozialer Probleme.
Operante Strategien umfassen Schulung der Angehörigen, soziale Zuwendung von MCS auf alternatives, mit MCS unvereinbares Verhalten. Ferner sollten die Patienten Schonverhalten und sekundären Krankheitsgewinn abbauen, Konversationen über Umwelttoxikologie einschränken, Vermeidungsverhalten erkennen und durch konfrontative Bewältigung mit der vermeintlichen Noxe ersetzen, soziale und körperliche Aktivitäten erhöhen sowie alternatives Verhalten zu MCS-Verhalten ermöglichen. Die Patienten müssen soziale Fertigkeiten trainieren und die Änderung kognitiver Erwartungen und Glaubenshaltungen einüben (kognitive Verhaltenstherapie). Wiederholter toxikologischer Nachweis der Unbedenklichkeit und alternative Experten- und Wissenschaftsauffassungen sind ebenso wichtig wie sofortige Korrektur, Kritik und Ignorieren von MCSfördernden Äußerungen, verbale Belohnung von Äußerungen, die unvereinbar mit MCS sind sowie Training von Spannungs- und Angstabbau. In Extremfällen muß eine vollständige verhaltensmedizinische Behandlung verordnet werden.
Schlußbemerkungen
Es ist zu hoffen, daß eine interdisziplinäre Diskussion das Problem der MCS einer Lösung näher bringen wird. Sicherlich spielt der Nozebo- oder negative Plazeboeffekt eine wichtige ätiologische Rolle. Dieser Sachverhalt impliziert, daß eine Vermeidensstrategie von vermuteten Umweltnoxen dem Patienten meist nichts nützt, sondern häufig die MCS verschlimmert. Die ätiologische Rolle von Ängsten gegenüber Umweltnoxen sollte bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit über vermutete Zusammenhänge berücksichtigt werden. Berücksichtigt man dies nicht, so wird die politische Durchsetzung von Maßnahmen zur Vermeidung von Schadstoffen durch eine große Zahl von MCS-Erkrankten erkauft. Der Einfluß der Psyche bei der Perzeption von Giftwirkungen ist in der Vergangenheit unterschätzt worden.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-91-94
[Heft 3]
Literatur
1. Altenkirch H: Multiple Chemical Sensitivity (MCS)-Syndrom. Gesundheitswesen 1995; 57: 661-666.
2. Birbaumer N, Öhmann A (eds): The Structure of Emotions. Toronto: Hogrefe & Huber, 1993.


3. Fiedler N, Kiepen HM, DeLuca J, Kelly-McNeil K, Natelson B: A controlled comparison of multiple chemical sensitivities and chronic fatigue syndrome. Psychosomatic Medicine 1996; 58: 38-49.
4. Flor H, Birbaumer N: Comparison of the efficacy of electromyographic biofeedback, cognitive-behavioral therapy, and conservative medical interventions in the treatment of chronic musculosceletal pain. Journal of Consulting and Clinical Psychology 1993; 61: 653-658.
5. Habermann E: Vergiftet ohne Gift. Glauben und Ängste in der Toxikologie. Skeptiker 1995; 3: 92-100.
6. Hasselt van H, Hersen M (eds): Sourcebook of Psychological Treatment Manuals for Adult Behavioural Disorders. New York: Plenum Press, 1996.
7. Remmer H: Die Umwelt als Ursache von Erkrankungen. Dt Ärztebl 1994; 91: 1884-1888 [Heft 27].
8. Salvaggio JE, Terr AI: Multiple chemical sensitivity, multiorgan dysesthesia, multiple symptom complex, and multiple confusion: Problems in diagnosing the patient presenting with unexplained multisystemic symptoms. Crit Rev Toxicol 1996; 26: 617-631.
9. Schedlowski H, Thewes J: Psychoneuroimmunologie. Stuttgart: Spektrum, 1996.
10. Sikorski EE, Kipen HM, Selner JC, Miller CM, Rodgers KE: Roundtable summary: The question of Multiple Chemical Sensitivity. Fund Appl Toxicol 1995; 24: 22-28.


Anschrift der Verfasser
Prof. Dr. phil. Niels Birbaumer
Institut für Medizinische Psychologie
und Verhaltensneurobiologie
Universität Tübingen
Gartenstraße 29
72072 Tübingen


Prof. Dr. med. Karl Walter Bock
Institut für Toxikologie
Universität Tübingen
Wilhelmstraße 56
72074 Tübingen

Fachgebiet

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote