ArchivDeutsches Ärzteblatt24/2011Gesundheit von Jungen und Männern: Die Leiden des starken Geschlechts

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Gesundheit von Jungen und Männern: Die Leiden des starken Geschlechts

Spielberg, Petra

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Die Verbesserung der Gesundheit von Männern und Jungen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, meinen die Autoren des ersten Männergesundheitsberichts.

Sind Männer Gesundheitsmuffel? Nein, meinen Experten. Zwar seien Jungen und Männer in der Regel weniger körper- und ernährungsbewusst, neigten eher zu Risikoverhalten und nähmen medizinische Angebote weniger in Anspruch als das weibliche Geschlecht. Dennoch trügen eine Reihe anderer Faktoren mit dazu bei, dass die Lebenserwartung der deutschen Männer noch immer circa fünf Jahre unter der der Frauen liegt. In erster Linie seien es „krankmachende“ Lebensumstände und fehlende geschlechtsspezifische Gesundheits- und Beratungsangebote, so das zentrale Fazit des ersten Männergesundheitsberichts.

Der Bericht geht auf die Initiative zweier Stiftungen zurück, der Stiftung Männergesundheit und der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit. Zwar hatte die Bundesregierung bereits im Jahr 2001 einen gesundheitlichen Bericht zur Situation der Frauen in Deutschland vorgelegt. Mit einem eigenen Männergesundheitsbericht kann sie bislang allerdings nicht aufwarten, will dies aber noch in diesem Jahr nachholen.

Ein lange vernachlässigtes Forschungsfeld

„Um die Gesundheit der männlichen Bevölkerung zu verbessern, sind umfassende strukturelle Veränderungen erforderlich“, forderte Dr. rer. soc. Reinhard Winter vom Sozialwissenschaftlichen Institut Tübingen (Sowit) bei einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Jungen- und Männergesundheit in der evangelischen Akademie Bad Boll. Das Thema Männergesundheit dürfe daher nicht nur aus der Sicht der Medizin, sondern müsse auch unter sozialen, kulturellen und historischen Aspekten beleuchtet werden.

Die Defizite fingen bereits bei der Betreuung männlicher Kinder und Jugendlicher an, sagte Gunter Neubauer von Sowit. „Der Wissens- und Forschungsstand über die spezifischen gesundheitlichen Probleme von Jungen ist flach“, kritisierte der Pädagoge. Die meisten Ansätze beschäftigten sich mit einem Vergleich zwischen dem Gesundheitszustand und -verhalten von Jungen und Mädchen. „Es gibt hingegen nur wenige Anregungen für eine geschlechtsspezifische Gesundheitsförderung und Prävention.“

Gleichwohl seien Jungen sehr viel häufiger als Mädchen unfall- und suizidgefährdet, ergänzte Winter. Unfälle und Selbstmorde seien mit 57 Prozent die häufigste Todesursache der 15- bis 20-Jährigen. Selbst über alle Altersgruppen hinweg gerechnet betrage das Verhältnis erfolgreicher Suizide zwischen Männern und Frauen drei zu eins, verdeutlichte Dr. Matthias Stiehler vom Institut für Erwachsenenbildung und Gesundheitswissenschaft in Dresden. „Dabei wird die hohe Komorbidität zwischen typisch männlichen psychischen Erkrankungen wie Depressionen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen und der Neigung zur Suizidalität oft verkannt“, bemängelte der Diplom-Theologe – und das, obwohl die gesundheitlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei den psychischen Erkrankungen besonders ausgeprägt seien. Während man Frauen jedoch zugestehe, Opfer gesellschaftlicher Umstände zu sein, heiße es bei Männern noch immer häufig, „sie sind selbst dran schuld“.

Die Rolle der Medizin wird überschätzt

Gravierende Geschlechtsunterschiede gibt es auch bei der Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). ADHS betreffe Jungen im Alter zwischen zehn und 15 Jahren weitaus häufiger als gleichaltrige Mädchen, sagte Neubauer. „Allerdings beschränken sich fast 80 Prozent aller Behandlungen auf die Gabe von Medikamenten.“ Sinnvoller sei hingegen eine Kombination aus Ergo-, Psycho- und medizinischer Therapie.

Die Rolle der Medizin werde mit Blick auf die Lebenserwartung zudem grundsätzlich überschätzt, meinte Prof. Dr. Martin Dinges vom Institut für Geschichte der Medizin in Stuttgart. „Für die gewonnenen Lebensjahre der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts liegt der Beitrag der Medizin nur bei einem Viertel“, betonte der Medizinhistoriker. „Der Rest hat ganz andere Ursachen.“ So sei die abnehmende Differenz bei der Lebenserwartung von Männern und Frauen auch ein „Erfolg“ der Frauenbewegung. Hatten Frauen Mitte der 80er Jahre noch eine fast sieben Jahre höhere Lebenserwartung, sind es mittlerweile nur noch etwa fünfeinhalb Jahre. Lediglich ein Jahr davon sei genetisch bedingt, so Dinges.

Die zunehmende berufliche Belastung von Frauen und die Tatsache, dass immer mehr Mädchen und Frauen gesundheitsschädigendes Verhalten, wie Rauchen und Trinken zeigten, seien wesentliche Gründe für die abnehmende Differenz in den Lebenserwartungen. „Die Veränderungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und des Risikoverhaltens von männlichen und weiblichen Jugendlichen dürften die Unterschiede weiter abschleifen“, war sich Dinges sicher. Hinzu komme, dass die Jungengesundheit weniger ein Genderproblem als vielmehr ein Unterschichtenphänomen und ein Problem der Wohlstandsverwahrlosung sei. Hier müsse die Gesundheitsförderung, sei es in Schulen oder durch spezielle Jugendgesundheitstage gezielter ansetzen. Diese Meinung teilte auch der Pädiater Dr. med. Bernhard Stier aus Butzbach. „Über Aufklärungsbroschüren, selbst wenn sie in verschiedenen Sprachen vorliegen, erreichen Sie Migranten zum Beispiel kaum.“

Der Arzt stellt immer wieder fest, dass die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bis zur Pubertät bei Jungen und Mädchen gleichermaßen verteilt ist. „Danach nutzen Mädchen ärztliche Angebote deutlich häufiger als Jungen.“ Dadurch dass die meisten Mädchen in der Geschlechtsreife regelmäßig zum Frauenarzt gingen, seien sie auch später besser für Vorsorge- und andere medizinische Leistungen erreichbar. Männer würden gesundheitliche Probleme dagegen meist erst um das 50. Lebensjahr herum verstärkt wahrnehmen.

Folglich liege der Anteil der Frauen in den Arztpraxen im Schnitt bei 60 Prozent, während Männer nur etwa 40 Prozent der Patienten ausmachten. „Rechnet man den weiblichen Bevölkerungsanteil und den spezifischen gynäkologischen Bedarf heraus, haben Frauen immer noch einen Vorsprung von zwölf Prozent“, verdeutlichte Dinges.

Beziehungsarbeit ist wichtig

Männliche Heranwachsende gingen vornehmlich zur J1 und zu Impfungen zum Arzt sowie mit akuten Problemen, wie Infekten, Verletzungen oder orthopädischen Problemen, berichtete Stier. Psychosoziale Störungen und Probleme mit den Geschlechtsorganen spielten zwar auch eine Rolle, würden von den Jugendlichen oft aber nicht thematisiert. „Wenn ein Junge in die Praxis kommt und über Bauchschmerzen klagt, ist es ein Kunstfehler, den Genitalbereich nicht mit zu untersuchen“, betonte Stier. Ferner solle der Arzt eine Untersuchung immer dazu nutzen, eine Beziehung zu seinem jungen Patienten aufzubauen, um im Gespräch auch etwaige nicht medizinisch bedingte Probleme in Erfahrung zu bringen. Jungen, die beispielsweise unter einer geringen Körpergröße, Unsicherheiten im Umgang mit dem anderen Geschlecht oder Mobbing in der Schule litten, gäben dies oft nicht spontan zu, sondern versteckten es hinter bestimmten Beschwerden.

Grundsätzlich sind sich die Experten darüber einig, dass Jungen und Männer durchaus für Angebote der Gesundheitsvor- und -fürsorge erreichbar sind. Diese müssten allerdings speziell auf deren spezifische Verhaltensweisen und Bedürfnisse angepasst werden. Neben den Ärzten seien hier auch die Politik sowie andere gesellschaftliche Gruppen, Kindergärten, Schulen und Einrichtungen, zum Beispiel der Jugendhilfe, stärker gefordert.

Petra Spielberg

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