ArchivDeutsches Ärzteblatt24/2011Multidisziplinäre Versorgungsverträge: Krankenkassen dringend gesucht

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Multidisziplinäre Versorgungsverträge: Krankenkassen dringend gesucht

Bühring, Petra

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Der ADHS-Vertrag in Baden-Württemberg ist gut angelaufen. Die eingeschriebenen Ärzte und Psychotherapeuten schätzen die kollegiale Zusammenarbeit.

Wenn es flächendeckend solche Versorgungsverträge gäbe, könnte sich die Selbsthilfe auflösen“, sagte Dr. Myriam Menter, Vorsitzende von ADHS Deutschland e.V. Als betroffene Mutter und Vorsitzende der Selbsthilfeorganisation kennt Menter viele Geschichten über Irrwege verzweifelter Eltern, den Mangel an Kinderpsychiatern auf dem Land, Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) durch Ergotherapeuten und Methylphenidat-Verordnungen aufgrund von Verdachtsdiagnosen. Beim „Werkstattgespräch“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zu ADHS und Essstörungen Ende Mai in Berlin zeigt sich Menter deshalb erfreut über erste Erfolge des interdisziplinären Versorgungskonzepts für ADHS-Kinder in Baden-Württemberg.

Um junge ADHS-Patienten leitliniengerecht, nach gesicherter Differenzialdiagnose und koordiniert im Team durch Kinderpsychiater, Kinderärzte und -psychotherapeuten zu versorgen, hat die Vertragswerkstatt der KBV 2008 ein Konzept entwickelt. Umgesetzt haben es bislang drei Kassenärztliche Vereinigungen (KVen): Zuletzt am 1. Januar die KV Bremen zusammen mit der AOK Bremen/Bremerhaven; zuvor im Oktober 2010 startete die KV Nordrhein einen Vertrag mit der AOK Rheinland/Hamburg (siehe DÄ, Heft 42/2010).

Am längsten, seit dem 1. April 2009, läuft der ADHS-Versorgungsvertrag nach § 73 c Sozialgesetzbuch V zwischen der KV Baden-Württemberg (BW), der KBV und der Vertragsarbeitsgemeinschaft der Betriebskrankenkassen (BKK). Beteiligt sind drei Berufsverbände: Einvernehmlich saßen die engagierten Vertreter des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP), des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und des Deutschen Psychotherapeutenverbandes (DPTV) beim Werkstattgespräch zusammen. Sie zogen eine positive Bilanz ihrer Kooperation, obwohl die Lösung aller berufspolitischen Konflikte „rund ein Jahr gedauert hat“, wie Dr. med. Christa Schaff, stellvertretende BKJPP-Vorsitzende, berichtete. Doch die Versorgung laufe jetzt „kollegial und leitliniengerecht“, betonte auch Dr. med. Klaus-Peter Grosse vom BVKJ.

Verbindliche Kooperation

Kinderpsychiater, -arzt und -psychotherapeut bilden dabei ein verbindliches Team. Bei Bedarf werden Heilpädagogen, Ergotherapeuten oder Logopäden hinzugezogen. Case-Manager ist derjenige, den die Eltern zuerst aufsuchen, so dass diese einen Hauptansprechpartner haben. Auch die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Michaela Willhauk-Fojkar, DPTV, begrüßt, „jetzt mehr Kinder behandeln zu können, als es im engen Korsett der Richtlinienpsychotherapie möglich ist“.

Derzeit sind 43 ADHS-Teams mit 197 Behandlern in dem Vertrag eingeschrieben. Sie versorgen zurzeit circa 1 600 Kinder und Jugendliche in Baden-Württemberg, allerdings nicht flächendeckend. Denn viele Teilnehmer könnten Kinder mit ADHS nicht nach dem Konzept versorgen, weil sie nicht bei einer BKK versichert seien, kritisiert Schaff: „Wir brauchen dringend mehr Krankenkassen.“

Doch die Krankenkassen zögern, Selektivverträge dieser Art abzuschließen. 1 200 Euro kostet ein Patient pro Jahr im ADHS-Vertrag – das ist vielen Kassen offenbar zu viel. Wenngleich die beteiligte BKK Gesundheit Einsparungen bei den Ausgaben für Methylphenidat von 660 Euro pro Jahr und Versicherten ermittelt hat, von langfristigen indirekten Kosteneinsparungen ganz abgesehen.

Die KBV-Vertragswerkstatt hat seit 2005 mehr als ein Dutzend Vertragskonzepte entwickelt für eine Reihe von Erkrankungen, die in der Versorgung problematisch sind (DÄ, Heft 13/2010). Der zuständige KBV-Dezernent, Dr. med. Bernhard Gibis, weiß, dass vielen Kassen das Risiko zu groß erscheint, Patienten mit hohen Risiken und Kosten anzuziehen. Langfristig hofft er deshalb, „solche Selektivverträge zu Kollektivverträgen machen zu können“.

Petra Bühring

Neues Konzept bei Essstörungen

„Viele Jugendliche mit Anorexie und Bulimie haben eine lange Odyssee hinter sich“, sagt Kinderpsychiaterin Dr. med. Dagmar Höhne, Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP). Das neue Versorgungskonzept aus der Vertragswerkstatt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bietet Führung und interdisziplinäre Koordination durch multiprofessionelle Behandlungsteams. Denn für die Patientinnen mit der langwierigen und oftmals tödlich verlaufenden Erkrankung sind geeignete Therapieplätze rar.

Am Konzept mitgearbeitet haben der BKJPP, die Kinder- und Jugendärzte und die Psychologischen Psychotherapeuten. „Ziele sind eine frühe Intervention, niederschwelliger Zugang und ein zeitnaher Therapiebeginn“, erklärte KBV-Vorstand Dr. med. Carl-Heinz Müller. Die Krankenkassen ruft er zur Teilnahme am Vertrag auf.

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