THEMEN DER ZEIT
Afghanistan: Dramatischer Anstieg psychischer Belastungen
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In dem vom Krieg geschüttelten Land leben viele psychisch traumatisierte Menschen, die kaum versorgt werden. Depression, Angststörungen, Drogensucht und häusliche Gewalt sind vielfach die Folge. Hilfe bei der Ausbildung von Fachärzten ist notwendig.
Gesundheitssysteme zur Versorgung psychisch Kranker sind gerade in wirtschaftlich ärmeren Ländern häufig fraktioniert und ineffizient. In Afghanistan sind durch die seit 1978 andauernden Konflikte (sowjetisch-afghanischer Krieg, Bürgerkrieg, Taliban-Ära, militärisches Eingreifen der USA) das Gesundheitssystem und damit die psychiatrische Versorgung nahezu völlig zerstört (1). Im Rahmen der vielfältigen Traumatisierungen ergibt sich eine hohe Rate psychischer Störungen in der afghanischen Bevölkerung, die zu einem Großteil auf die Gewalterlebnisse zurückgehen. So berichteten Lopes Cardozo et al. (2) in einer populationsbezogenen Studie, dass die Mehrzahl der afghanischen Bevölkerung unter psychischen Symptomen der Depression, Angststörung oder posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet. Dabei fand man signifikant höhere Prävalenzraten bei Frauen als bei Männern (Depression: 73 Prozent versus 59 Prozent; Angststörung: 84 Prozent versus 59 Prozent; PTBS 48 Prozent versus 32 Prozent). Mögliche Gründe hierfür könnten häusliche oder sexuelle Gewalt (3), Zwangsehe, Polygamie und Unterdrückung der Frauen sein.
Es gibt kaum Psychiater oder Psychologen
Darüber hinaus wurde eine drastische Zunahme der Drogenabhängigkeit, insbesondere des intravenösen Heroinkonsums, und damit verbunden ein hoher Anstieg der Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatitis B/C beobachtet (4).
Behandlungsoptionen für psychische Erkrankungen sind dagegen in Afghanistan sehr dürftig. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation ermittelte 2001, dass in ganz Afghanistan nur etwa acht Psychiater, 20 Psychologen und 18 Psychiatrie-Pfleger und -Krankenschwestern verfügbar seien, wobei fast alle Therapeuten pädagogische und nicht klinische Psychologen sind, was auch von anderen Erhebungen weitgehend bestätigt wurde (5).
Das Gesundheitsministerium hat in Zusammenarbeit mit engagierten afghanischen und internationalen Ärzten und Psychologen auf diesen Missstand reagiert und im November 2010 eine Mental Health Strategy für die nächsten fünf Jahre verabschiedet*. Darin wird detailliert beschrieben, welche Maßnahmen in der Primary Health Care, der Secondary Health Care und der Tertiary Health Care sowie der Mental Health Promotion und Prävention durchgeführt werden sollen. Diese Strategie muss noch implementiert und umgesetzt werden. Der Mangel an ausgebildetem Fachpersonal in der Neurologie und Psychiatrie stellt jedoch ein großes Risiko für eine rasche Implementierung dar.
2009 wurde die Primary Health Care revidiert: Neu hinzu kam neben der medikamentösen Behandlung einfacher psychiatrischer Erkrankungen die psychosoziale Beratung als psychotherapeutischer, nichtmedikamentöser Behandlungsansatz. Dieser integrierte Behandlungsansatz wurde bereits in einigen ausgewählten Gesundheitszentren erfolgreich implementiert. Dabei arbeiten die psychosozialen Berater (Counsellors) eng mit den Ärzten zusammen. Die Ausbildung der Counsellors und der Ärzte ist aufeinander abgestimmt. Jedoch müssen, um ganz Afghanistan mit diesen Behandlungsoptionen auszustatten, noch mehr als 800 Berater ausgebildet werden. Die Counsellors erhalten eine einjährige Ausbildung und kommen vorwiegend aus dem paramedizinischen Bereich.
Die Secondary Health Care sieht vor, dass in den 54 Distriktkrankenhäusern, den zwölf Provinzkrankenhäusern und den fünf regionalen Krankenhäusern psychiatrische Patienten auch stationär behandelt werden können. Um diese Behandlungsoptionen anbieten zu können, wären auch hier ausgebildete Ärzte, Krankenschwestern und Therapeuten notwendig.
Die Bundesregierung unterstützt mit IPSO als implementierender Organisation die Ausbildung von nationalen Trainern für psychosoziale Beratung für die nördlichen fünf Provinzen. In der Tertiary Health Care gibt es in der Fünfmillionenstadt Kabul zwei psychiatrische Kliniken, das Mental Health Hospital mit circa 100 Betten und die Psychiatrische Universitätsklinik Ali Abad mit 48 Betten. Doch nur die Mental Health Clinic wird derzeit vom International Medical Corps (IMC) mit finanzieller Hilfe der Europäischen Union neu ausgestattet. Außerdem werden das Management und die Ausbildung des Fachpersonales verbessert.
In der Universitätsklinik Ali Abad werden vor allem neurologische Patienten behandelt. Nur fünf bis neun Prozent der aufgenommenen Patienten sind psychiatrische Patienten, überwiegend mit depressiven Störungen. Behandelt werden psychische Beschwerden vorwiegend mit Medikamenten und meist durch die in der Psychiatrie tätigen Internisten. Da eine genaue Diagnoseerstellung sehr schwierig ist, erhalten psychiatrische Patienten in der Regel für die Dauer von einem Monat eine Art „Standardmedikation“, meist bestehend aus einem Neuroleptikum, einem Antiepileptikum und einem Antidepressivum (6). Die Medikamente sind ohne Rezept auf dem Basar erhältlich und werden zumindest dann eingenommen, wenn sich die Familie dies leisten kann. Vielen Patienten ist allerdings inzwischen klar, dass die dem Symptom zugrundeliegende Problematik (zum Beispiel Familienkonflikte) nicht adressiert wird. Behandlungserfolge sind aber auch wegen der unsicheren Diagnosestellung sehr begrenzt.
Bessere Ausbildung der Medizinstudenten ist nötig
Die Universitätsklinik Ali Abad ist nicht ausreichend ausgestattet. Aufgrund der fehlenden diagnostischen Instrumente (zum Beispiel kein EEG-Gerät) wird ein Großteil der Patienten zum Beispiel mit akutem Schlaganfall zur Diagnostik in andere Krankenhäuser verlegt.** Eine Kooperation zwischen den beiden psychiatrischen Einrichtungen in Kabul findet bisher kaum statt, da zwei verschiedene Ministerien für sie zuständig sind: Die Universitätsklinik Ali Abad gehört zum Ministry of Higher Education, die Mental Health Clinic zum Gesundheitsministerium.
Für das afghanische Gesundheitssystem erscheint es vordringlich, dass die Medizinstudierenden und damit die künftigen Ärztinnen und Ärzte psychiatrisch und psychotherapeutisch besser ausgebildet werden, damit sie später mit den psychosozialen Therapeuten zusammenarbeiten können. Um die Ausbildung der angehenden Ärzte zu verbessern, haben die Charité und die International Psychosocial Organization von Caritas International im Ali Abad Hospital sowie im Mental Health Hospital 2009 und 2010 zwei Fortbildungen durchgeführt. Einerseits wurden die Grundlagen der differenzierten Indikationsstellung für Therapien erörtert und andererseits die Zusammenarbeit mit dem psychosozialen Versorgungsbereich gestärkt.
Eine Fallgeschichte (Kasten) zeigt die enge Verbindung von affektiven und Angststörungen im Rahmen multipler psychosozialer Belastungssituationen. Medikation ist hier – wie sonst auch in der Psychiatrie – nur dann sinnvoll, wenn sie in einen generellen psychotherapeutischen Interventionsplan eingebettet wird, der insbesondere die familiären Verpflichtungen und Sorgen des Patienten sowie seine Stellung in der Familie thematisiert.
Das kulturelle Umfeld berücksichtigen
Durch eine fundierte Ausbildung angehender Ärztinnen und Ärzte und eine verstärkte Bereitschaft zur Kooperation mit den psychosozialen Beratern kann es gelingen, die vielfältigen Traumatisierungen und sozialen Konflikte, die das Afghanistan von heute kennzeichnen, zu thematisieren und damit einen Beitrag zu Frieden und Versöhnung zu leisten. Eine gute Differenzialdiagnostik, die das kulturelle Umfeld berücksichtigt, führt zu einer psychosozialen Beratungsarbeit. Diese kann helfen, dass die Menschen zu einem Leben zurückkehren, in dem sie wieder selbst Verantwortung übernehmen können. Damit trägt das Gesundheitssystem dazu bei, dass die Familie als Selbsthilfesystem gestützt wird und über die Versorgung der akut psychisch Kranken hinaus ein Beitrag zur Etablierung einer toleranten und vielfältigen Gesellschaft geleistet wird.
- Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2011; 108(24): A 1366–8
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Andreas Heinz
Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Charitéplatz 1, 10117 Berlin,
andreas.heinz@charite.de
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2411
*anzufordern bei missmahl.i@web.de
**Wir haben deshalb ein Spendenkonto eingerichtet, um ein funktionsfähiges Gerät für die Universitätsklinik in Kabul anschaffen zu können (bei Interesse bitte Professor Heinz kontaktieren).
Fallvignette
Ein 39-jähriger Patient klagte über wiederholte Alpträume, in denen er seinen Freund aus dem Grab holen muss und durch die Gegend trägt. Die nähere Exploration ergibt, dass dieser Freund im Rahmen des Bürgerkriegs an seiner Seite erschossen wurde. Der Patient schildert weitere Ängste wegen familiärer Konflikte mit seinem Bruder, der taubstumm ist, und finanzielle Probleme aufgrund von Verschuldung. Er lebt mit seiner Familie und weiteren Verwandten in einem Haus mit mehreren Zimmern. Für den taubstummen Bruder habe er als ältester Bruder eine Frau finden müssen, er habe dabei große Schwierigkeiten gehabt, und die Ehe seines Bruders mit dieser Frau sei nicht glücklich. Der Bruder werfe ihm jetzt vor, die falsche Frau ausgewählt zu haben. Er habe mehrere Male ein Messer unter dem Kopfkissen des Bruders gefunden und habe Angst, dass dieser ihn umbringen wolle. Die Verschuldung resultiere aus seiner finanziellen Verantwortung dafür, dass ein Cousin im Streit einem Nachbarn einen Stein an den Kopf geworfen habe. Um die familiäre und spirituelle Schuld zu begleichen, habe er die Kosten für die Behandlung übernommen. Als dieser Mann an Tuberkulose erkrankte, habe dessen Familie den Grund dafür auch in der Kopfverletzung durch den Steinwurf gesehen, und er habe mehrere Tausend Euro an die Familie gezahlt. Der Mann sei aufgrund dieser Erkrankung gestorben. Die Dekompensation mit Panikanfällen trat auf, nachdem er ganz allein die Leiche seines Schwagers aus dem Krankenhaus abholen musste. Er habe sich dabei alleine in einem Zimmer mit 50 weiteren Kriegstoten befunden, und das Bild seines toten Schwagers und das seines erschossenen Freundes träten jetzt wiederholt in seinen Träumen auf.
Prof. Dr. med. Heinz
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus: Dipl.-Psych. Bromand
Caritas International, International Psychosocial Organization (IPSO), www.Ipso-culturalcontext.com: Missmahl
1. | Geiser A: Afghanistan: Behandlung von Trauma in Kabul. Auskunft der SFH-Länderanalyse 2009. |
2. | Lopez Cardozo B, Bilukha OO, Gottway Crawford CA, Wolfe MI, Gerber ML, Anderson M: Mental Health of Woman in Postwar Afghanistan. Journal of Women´s Health 2005; 14: 285–93. MEDLINE |
3. | Missmahl I: Psychosoziale Hilfe und Traumaarbeit als ein Beitrag zur Friedens- und Versöhnungsarbeit am Beispiel Afghanistans. Psychotherapieforum 2006;14. |
4. | Maguet O, Majeed: Implementing harm reduction for heroin users in Afghanistan, the worldwide opium supplier. International Journal of Drug Policy 2010: 119–21. MEDLINE |
5. | Baingana F, Bannon I, Thomas R: Mental Health and Conflicts: Conceptual Framework and Approaches; 2005. |
6. | Khir Sina, persönliche Mitteilung. Kabul 2009. |
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